Was sie schon immer über das Verhältnis von Tönen und Emotionen wissen wollten

Robert Jourdain und die Frage, wie Musik im Kopf entsteht und wirkt

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Negative Emotionen bilden sich, wenn die Realität die Erwartungen nicht erfüllt, die man ihr entgegenbringt. Das ist eine an der Alltagserfahrung orientierte psychologische These. Mit welchen Beispielen versucht ein amerikanischer Autor, sie seinen Lesern näher zu bringen? "Man will das Auto starten, es springt aber nicht an. Man erwartet, dass einen die Katze an der Tür begrüßt, aber sie liegt plattgefahren auf der Straße." Offenbar beherrscht Robert Jourdain seine rhetorischen Kniffe, die Kunst der Selbstironie, der absurden Steigerung und des überraschenden Absturzes. Der Mann, über den es im Klappentext auf eher unfreiwillig komische Weise heißt, daß er als Wissenschaftler und Komponist in Kalifornien lebe und "bereits sechs Bücher geschrieben" habe, weiß zu unterhalten - und scheint somit den amerikanischen Wissenschaftsjournalismus von seiner besten Seite zu präsentieren. Denn die umfassende Darstellung der Frage, wie spezifische, durch das Gehör aufgenommene Schallwellen in unserem Gehirn so verarbeitet werden, dass sich Musik daraus entwickelt, Musik, die wir verstehen und empfinden können, bewegt sich auch wissenschaftlich gesehen auf recht hohem Niveau. Und dies nicht allein auf dem Gebiet der Musikwissenschaft und der Neurophysiologie, sondern auch im Bereich der Emotionspsychologie.

Die Gefühle nämlich spielen in Jourdains Buch eine entscheidende Rolle. Über die Frage hinaus, wie durch "vibrierende Luft, schwingende Membranen, oszillierende Knöchelchen, pulsierende Flüssigkeit und Wellen elektrochemischer Impulse, die wie Fontänen auf das gespannt wartende Gehirn einstürzen", in unserer Wahrnehmung Musik entsteht, interessiert Jourdain vor allem - das verrät bereits der Untertitel - die Wirkung von Musik. Warum etwa empfinden wir den Ton der Oboe oder auch manche Akkorde als "traurig", andere aber wiederum als "fröhlich" oder "gequält"? Warum geraten einige Menschen bei einem bestimmten Musikstück in Verzückung, während dieselbe Musik andere Hörer vollkommen kalt lässt?

Nachdem in Folge des emotional turn ältere Theorien über den irrationalen Ursprung der Gefühle im Limbischen System korrigiert worden waren, konnten sich in den letzten Jahren auch in der Kognitionspsychologie zunehmend emotionstheoretische Ansichten durchsetzen, die die Gefühle als Voraussetzung für die Vernunft bzw. für vernünftiges Handeln betrachteten. Den Gefühlen wurde nun die Funktion zugeschrieben, über die Regulierung der Aufmerksamkeit, der Motivation und des Denkens den Menschen auf herannahende Reize vorzubereiten. Eine dieser Theorien hat es Robert Jourdain besonders angetan, und zwar deshalb, weil ihre Thesen mit der emotionalen Erfahrung in der Musik vollkommen übereinzustimmen scheinen: die "Diskrepanztheorie". Sie beschreibt Gefühle im Zusammenhang der Regulation unseres kognitiven Verhaltens als spezifische Reaktion auf unerwartete Erfahrungen. Grundsätzlich sollen die eher positiven Emotionen dadurch entstehen, dass ein unerwarteter Reiz unsere Erwartung übertrifft, und die eher negativen Emotionen wie Wut, Ärger oder Trauer dadurch, dass ein unerwarteter Reiz unsere Erwartung enttäuscht - so wie im Beispiel der plattgefahrenen Katze oder, um auf Jourdains eigentliches Thema zu kommen, bei einem Moll-Akkord.

Denn Musik rufe Emotionen hervor, indem sie erst Erwartungen aufbaue und diese dann entweder erfülle (= positive Emotion), oder eben nicht erfülle (= negative Emotion). Natürlich erhält Musik ihren Reiz oft gerade durch die Nichterfüllung von Erwartungen: das heißt also durch die negativen Emotionen, die denn auch nicht im eigentlichen Sinn als negativ, sondern als "expressiv" empfunden werden - so jedenfalls will es Jourdains Theorie. Innerhalb des auf Dreiklängen aufbauenden westlichen Harmoniesystems klängen demnach Moll-Akkorde notwendigerweise traurig, weil sie die Erwartungen verletzen, die dieses System aufbaut. Denn die Obertöne von Moll-Akkorden überlappen sich nicht so gut wie die von Dur-Akkorden, eine Unstimmigkeit, die sie als "konfliktbeladen" erscheinen lässt. Andererseits führe die harmonische Erfüllung einer mit den verschiedensten Techniken extrem lang herausgezögerten Erwartungshaltung beim Hören von Musik - wie beim Sex - zur Ekstase.

Diesem Argumentationsmuster folgend, versucht Jourdain die Lust- bzw. Unlust zu erklären, die wir gegenüber den diversen Erscheinungsformen der Rhythmik, Melodik oder musikalischen Tektonik empfinden. Seine Erklärungen sind insgesamt recht plausibel. Immer wieder gelingt es Jourdain zudem, die richtigen Fragen zu stellen, wie etwa die, warum wir vom Computer hergestellte Musik als "seelenlos" wahrnehmen. Auch vor der Beantwortung von sogenannten "großen" Fragen, wie derjenigen nach dem Absterben der klassischen Musik bzw. dem Aussterben der großen Komponisten, scheut Jourdain nicht zurück.

Wenn einen hier die etwas seichte Kulturkritik schon daran erinnert, dass man es letztlich doch mit einem typisch amerikanischen Wissenschaftsjournalismus zu tun hat, so wird man auf diesen Umstand erst recht durch die Lust an der Sensation gestoßen, die Jourdain bei der Darstellung der Komponistenbiographien an den Tag legt. Überhaupt bleibt der produktionsästhetische Teil gegenüber dem rezeptionsästhetischen weit zurück. Für die These etwa, dass Komponisten "ein sehr emotionaler Menschenschlag" seien (bei angeblich für "Genies" sehr niedrigem Intelligenzquotienten), weiß Jourdain allein anekdotisches Material anzuführen. Bach habe seine Perücke nach patzenden Musikern geworfen, Händel eine ganze Pauke von der Bühne gefegt. Und nun Originalton Jourdain: "Auch Beethoven war bekannt dafür, dass er Essen im Restaurant zurückgehen ließ, wenn es ihm nicht schmeckte - ins Gesicht des Kellners! Selbst der Gentleman Chopin zerschmetterte einmal einen Stuhl als Reaktion auf das Spiel eines unglücklichen Musikstudenten." Hier hätte ein Lektor streichen müssen und so das mit 440 Seiten zu lang geratene Buch zugleich auch wohltuend straffen können.

Ärgerliche oder wütende Emotionen stellen sich beim Leser jedoch nicht ein; denn von einem Autor, der Wissenschaftler, Wissenschaftsjournalist, Pianist und Komponist ist, in Kalifornien lebt und bereits sechs Bücher geschrieben hat, kann man nicht mehr erwarten. Oder umgekehrt formuliert: Alle Erwartungen, die man an ein solches Buch stellen kann, werden erfüllt. Nach Jourdains eigener Theorie ein Grund zur Freude.

Titelbild

Robert Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998.
440 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3827402247

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