Geschlossene Gesellschaft

Die Brockhaus Enzyklopädie erscheint in der 21., völlig neu bearbeiteten Auflage

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn ich zurückdenke, sehe ich den Jungen mit einem der schweren, ledernen, schwarz und rot und goldnen Bände in der elterlichen Bibliothek auf dem blauen Teppich sitzen - es ist ein sonnendurchfluteter Sonntagnachmittag, die Bibliothek ist hell und warm. Diese Erinnerung sagt schon fast alles. [...] In der Bibliothek blieb ich, um den Band jederzeit schnell wieder ins Regal stecken zu können. [...] Ich (suchte) Auskunft darüber, was die Welt an schaurig-schönen Geheimnissen bereithielt - also Band MAI-MUD, zwischen den Seiten 400 und 401 das Aufklappbild 'Modell des Menschen: Brust- und Bauchorgane des Weibes' -, später dann, gerichteter, die Bände GAS-GZ, OSU-POR und (enttäuschend) TOU-WAM - man versteht mich."

Während sich Jan Philipp Reemtsma, der sich so an seine ersten Begegnungen mit dem Brockhaus erinnert, noch mit angefeuchtetem Zeigefinger über die Weitläufigkeit und Erschließbarkeit der Welt im Allgemeinen und der weiblichen res extensa im Besonderen informierte, werden dem Leser bzw. Nutzer der 21., völlig neu bearbeiteten Auflage die Augen übergehen angesichts des jetzt noch vielfältigeren und reichhaltigeren Bildmaterials. Im Brockhaus Online-Portal wird er sich dann von der weiblichen Brust, Vogelgrippe hin oder her, auch gleich zum Ruf des "Goldbrüstchens" durchklicken können, einer südlich der Sahara verbreiteten Prachtfinkenart, um sich anschließend via Weblink in den Weiten des Datennetzes zu verlieren. Doch alles der Reihe nach.

Pünktlich zum 200-jährigen Verlagsjubiläum veröffentlicht, ist die Neuauflage der Enzyklopädie auch eine Hommage an das Medium und gleichzeitig das aufwändigste Buchprojekt in Deutschland überhaupt. Dafür spricht schon der bloße Umfang: Von 24 auf 30 Bände und damit auf 24.500 Seiten angewachsen, schlägt der nun wahrlich "große" Brockhaus mit gerade einmal zwei gestandenen Bänden weniger zu Buche als die berühmte Enzyklopedia Britannica. Unübersehbarer Ausdruck dieser lexikalischen Gigantomanie waren die dreißig über drei Meter hohen Nachbildungen, die sich, kreisförmig angeordnet, als unzeitgemäßes Stonehenge zwischen den Messehallen der Frankfurter Buchmesse breit machten.

Verantwortlich für das überbordende Wissen sind die 40.000 neu hinzu gekommenen Stichwörter, teilweise aus neuen Wissensgebieten wie "Gentechnologie" und "Biometrie". Auch die erweiterte und für die 21. Auflage komplett erneuerte Bebilderung trägt mit Fotos, Karten, Grafiken, Tabellen und Satellitenaufnahmen zum Anschwellen des Werkes bei. Erstmals gibt es jetzt farbprächtige Bildtafeln zu Städten, Kunstepochen oder Naturphänomenen, und mittlerweile übersteigen die Lizenzkosten für die Bilder auch die Kosten für die Texterstellung. Äußerlich sieht man dem Lexikon seine innere Fülle übrigens gar nicht einmal an: Einer neuen, eigens für Brockhaus entwickelten Papiersorte sei Dank, nimmt es mit 1,70 Metern nur unwesentlich mehr Platz im Bücherregal ein als die Vorgängerausgabe.

Die Neuauflage steht unter dem Motto der globalen Welt. Vor allem die Informationen über Afrika, Lateinamerika und Asien wurden erweitert und ausgebaut. Gab es früher beispielsweise ein Überblickskapitel zur lateinamerikanischen Literatur, so findet der Leser jetzt unter jedem Land dieser Region eigene Kapitel zu Literatur und Kunst.

Neben dem Weltkulturerbe, der Telekommunikation und medizinischen Themen wurden verstärkt Gebiete wie internationaler Film, Theater, Rockmusik, Medienkunst, Völkerkunde und Weltnaturerbe berücksichtigt. Im ersten Band findet sich - den Pauschalurlauber wird's freuen - neuerdings ein Eintrag zu "all-inclusive". Aber auch unter weniger gebräuchlichen Stichwörtern aus dem Bereich der Neuen Medien wird man fündig. "Mozilla", "POP3", "Spam", "Hoax", "ROT13-Verschlüsselung" lauten Einträge, unter denen man früher vergeblich nachgeschlagen hätte. Die rund 600 Quellentexte - Originalauszüge aus historischen, literarischen oder naturwissenschaftlichen Schriften - beleuchten oder veranschaulichen besondere biografische Ereignisse oder wissenschaftliche Leistungen. So gibt es zum Beispiel Auszüge aus den Friedensverhandlungen von "Alexander dem Großen", aus der Korrespondenz des Reformators "Martin Luther" oder aus den Vorlesungen über Thermodynamik des Physikers "Max Planck".

Sämtlichen 193 Staaten der Erde ist im neuen Brockhaus je ein ausführlicher Länderartikel gewidmet. Neben den neu gewichteten Schwerpunkten Staat und Gesellschaft gehen sie erstmals auch auf das Bildungswesen und die Medienlandschaft ein. Ergänzt werden die Länderartikel durch physische Karten, Tabellen und Übersichten. 200 Schlüsselbegriffe erläutern umfassend Themen von weit reichender Bedeutung. Sie liefern einen übersichtlichen Zugang zu den relevanten Fragen unserer Zeit, zum Beispiel zur "Globalisierung" - auch wenn hier die beachtliche Strömung der Globalisierungskritik in den Literaturangaben ein eher stiefmütterliches Dasein fristet. Herausnehmbare thematische Faltkarten in jedem zweiten Band illustrieren 15 unterschiedliche Themenbereiche der globalen Welt, wie zum Beispiel Weltreligionen, UNESCO-Weltkulturerbe, Naturkatastrophen, moderne Architektur, Museen oder Sprachen der Erde.

Stattliche 70 kg wiegt das zwischen sechzig Buchdeckel gezwängte Wissen. Gewaltig, ach was, geradezu gigantisch sind auch die Investitionen in das Prestigeprojekt: 70 Fach-, Bild- und Schlussredakteure der Brockhaus-Redaktion in Leipzig haben in Zusammenarbeit mit rund 1.000 wissenschaftlichen Autoren diese immense Fülle an gesichertem Wissen erarbeitet. Mit dem Erscheinen des 30. Bandes der Enzyklopädie im Herbst 2006 wird der Verlag rund 20 Millionen Euro in das Projekt investiert haben, davon etwa 5 Millionen Euro für das Marketing.

Gemacht ist das Werk, wie man es von Brockhaus-Lexika kennt, für die Ewigkeit. Buchbinderisch perfekt verarbeitet und ausgestattet mit einem Einband aus Buckram-Baumwollgewebe, einem Buchrücken aus veredeltem Rindsledervlies sowie einem Lederrückenschild mit 23-karätiger Goldprägung glänzt das Lexikon aus dem Regal herüber, als gäbe es kein Morgen. 400 Jahre soll das auch auf Grund seiner besonderen Oberfläche (für angenehme Haptik und optimale Druckwiedergabe) und geringen Opazität (gegen durchscheinende Rückseiten) ausgewählte Wunderpapier überdauern, bevor der Zahn der Zeit an ihm zu nagen beginnt.

Von ihren Schutzumschlägen befreit, die früher nach häufigem Gebrauch schon mal unedel geknittert oder eingerissen waren und so der 20. Auflage von 1998 schon mal ein bemitleidenswertes Äußeres verleihen konnten, präsentiert sich die neue Enzyklopädie in behutsam modernisierter Aufmachung. Jeder Band steckt in einem Schuber aus schwarzem Karton. Wo früher pralle Lederwülste dräuten, geben nun schmale goldene Zierstreifen den Ton an. Die abhanden gekommene Unterschrift des Gründers Friedrich Arnold Brockhaus auf den Buchcovern ändert allerdings ebenso wie der nun fehlende bestimmte Artikel in der Prägung "Die Enzyklopädie", die zuvor noch vollmundig den lexikalischen Alleinstellungsanspruch verkündete, etwas an der Mutlosigkeit der Gestaltung. Auch wenn Brockhaus vielleicht die einzige Marke ist, die eine goldene Farbgebung und ein konservatives Erscheinungsbild verträgt und damit aufgewachsen ist, wäre es doch an der Zeit gewesen, neue Akzente zu setzen und die multimediale Vernetzung des Lexikons nach außen widerzuspiegeln.

Damit kommen wir zum eigentlichen Problem der Ausgabe. Was könnte den Verlag bewogen haben, den Begriff des "geistigen Kapitals" auf so buchstäbliche Weise beim Wort zu nehmen? Was soll uns diese fast verschwenderische Materialität des Gedruckten bedeuten? Über die Motive lässt sich nur spekulieren: Haben wir es mit einem Zeugnis verlegerischen Starrsinns zu tun, der die Zeichen der Zeit partout nicht erkennen will und der sein Ressentiment gegen den nicht versiegen wollenden Informationsstrom des Internet beherzt überkompensiert? Oder handelt es sich um ein besonders spektakuläres, mit Pauken und Trompeten eingeläutetes Rückzugsgefecht der gedruckten Enzyklopädie?

Die Antwort darauf muss betont zweischneidig ausfallen. Denn zum einen strahlt die alte neue Gestaltung des Lexikons jenen großbürgerlich-biederen Wertekonservativismus aus, die sie schon immer als repräsentativen Einrichtungsgegenstand in den gediegenen Altbauwohnungen pensionierter Oberstudienräte beliebt gemacht hat. Dafür spricht auch das eigens für die Jubiläumsausgabe entworfene Bücherregal, das "perfekt mit den Farben der Brockhaus Enzyklopädie [harmoniert]" und das man für schlappe 950 Euro über einen Möbelhersteller beziehen kann. Dieser Käufergruppe ist das Buch in der Hand allemal lieber als das Fiepen des Modems oder das Zwitschern der CD-ROM in ihrer Lade. "Ohne Hochfahren eines Computers und die umständliche Suche im Internet ist durch einfaches Nachschlagen Wissen sofort dort greifbar, wo Fragen auftauchen, in der Familie, im Wohnzimmer, im Esszimmer. Nicht zuletzt ist das Buch auch eines der langlebigsten Medien überhaupt", heißt es dazu aus dem Verlag. Und, noch aufschlussreicher: "Das Buch hat ganz einfach Vorteile gegenüber anderen Medien. Es hat diese wunderbare Sinnlichkeit und Haptik. Es ermöglicht Besitz und nicht nur Nutzung."

Doch die Enzyklopädie hat noch (mindestens) eine andere Seite, und darauf steht "Multimedia" geschrieben. In der Tat scheint Brockhaus in einem seltsamen Widerspruch zur Feier des Mediums Buch besonderen Wert darauf zu legen, die Entwicklung der Neuen Medien nur ja nicht zu verschlafen. Features wie die umfangreiche Audiothek (rund 70 Stunden die Buchausgabe ergänzende Hörbeispiele) auf DVD-ROM und der mit der Enzyklopädie erworbene Zugang zu einem Online-Portal (enthält die gesamte Textsubstanz) lassen erkennen, dass man sich die Organisation lexikalischen Wissens fürderhin auch ganz anders wird vorstellen können.

Aus diesem Blickwinkel scheint auch die oben genannte Investitionssumme gar nicht einmal so hoch, denn der Informationsbestand lässt sich im folgenden Jahrzehnt auf eine Vielzahl kleinerer Lexika, Studien-, Lizenzausgaben und CD-ROMs umbrechen. Auch Meyers Taschenlexikon fährt schon seit längerem mit Brockhaus-Treibstoff.

Was vom Verlag als medienübergreifendes Konzept lanciert wird, hat allerdings seine Tücken. Denn die scheinbar gelungene Symbiose von bodenständigem Lexikon und seinem im Netz der Netze flottierenden Zwillingsbruder ist in Wirklichkeit keine. Worauf der Rezensent so umständlich hinaus will? Während die Bände der Druckausgabe mit ihrem Kopfgoldschnitt gegen zerstörerischen Staub, Lichteinflüsse und Alterseinflüsse die Zeiten unverändert überdauern soll, birgt der virtuelle Klon (man möchte sagen: dummerweise) die Chance regelmäßiger und für den Nutzer mit keinerlei Aufwand verbundener Updates.

Eine prekäre Situation für einen Verlag, der das eine (Neue Medien) tun, und das andere (Buchdruck) nicht lassen kann. Zwei Wege bieten sich an: Entweder man verzichtet im Online-Portal schlechterdings auf Aktualisierungen - um den Preis, die durch das Medium Internet gegebenen Möglichkeiten zu verschenken. Als Folge verfiele der gesamte Datenbestand auf dem Hochleistungsserver in einen Dornröschenschlaf. Oder man passt den Inhalt der mit dem Verfallsdatum 2010 ausgezeichneten Online-Version laufend an und entfernt sich so Schritt für Schritt von der Druckausgabe. Im Auseinanderdriften von Papier und Datenstrom behielte letzterer rein informationstechnisch die Oberhand und stempelte das unverrückbar im Bücherregal thronende Mammutwerk zum luxuriösen Ladenhüter.

Dass sich der Brockhaus-Verlag für den zweiten Weg entschieden hat und das Lexikon zur Nachrichtenzentrale auszubauen beginnt, spricht Bände: Mit einem personalisierten Zugang zu www.brockhaus-enzyklopaedie.de kann sich der Nutzer zu jeder Zeit und von jedem Ort der Welt in die Enzyklopädie "einloggen". Außerdem erhält er Zugriff auf rund 3.000 Hörbeispiele aus den Themengebieten der Audiothek sowie auf einen 3-D-Globus mit zwei Millionen Ortseinträgen. 15.000 Fotos und Abbildungen sowie etwa 22.000 weiterführende Weblinks gehören ebenfalls zum Online-Angebot. Die Artikel werden alle zwei Wochen aktualisiert, und über wichtige Ereignisse informiert auf Wunsch zusätzlich ein Newsletter. Der gesamte Stichwortbestand des Online-Portals lässt sich auch mit mobilen Geräten wie Personal Digital Assistants (PDA) und Smartphones (Handys mit PDA-Funktionen) abrufen, die über einen Internetbrowser verfügen. Wer einen dieser Taschenquälgeister sein Eigen nennt, kann sich das umfangreichste aller deutschen Lexika nonchalant in die Tasche stecken.

Schon das alles andere als passgenaue Ineinandergreifen des Medienangebots lässt das Signal, das die neue Enzyklopädie aussendet, zumindest als uneindeutig und unklar erscheinen. Denkt man noch fünf, zehn oder fünfzehn Jahre weiter, so dürfte das schnellere Internet die renitente Trägheit des Gedruckten der großen und teuren Nachschlagewerke wohl endgültig in die ewigen Jagdgründe verbannt haben. Vielleicht ist das der Grund, warum der in diesen Dingen wohl alles andere als kurzfristig denkende Verlag sich mit seinen Online-Applikationen schon jetzt Konkurrenz zu machen beginnt. Die Enzyklopädie digital, ein USB-Stick mit Update-Funktion, kann den Anpassungsschwierigkeiten des Druckwerks völlig entraten; er vereinigt in sich die Vorteile eines Produktes "zum Anfassen", ist bei gleichzeitiger Variabilität des Datenbestandes auch im Offline-Betrieb einsetzbar. Dagegen steht allerdings die Aussage von Brockhaus, dass der Aktualisierungsbedarf einer Enzyklopädie häufig überschätzt werde. Den Anteil der aktualisierungsanfälligen Artikel bemisst man mit drei bis vier Prozent: "Tagesaktualität kann und will nicht Ziel einer Enzyklopädie sein. Wir geben den Leserinnen und Lesern aber das notwendige Hintergrundwissen an die Hand, um aktuelle Entwicklungen zu verstehen."

Die oben skizzierte Zerrissenheit der Brockhaus-Politik wiederholt sich im Kampf gegen das Online-Angebot der Konkurrenz. Hatten Diderot und d'Alembert, die Väter des Jahrhundertprojekts "Encyclopédie", gegen Unwissenheit, Unvernunft und (religiöse) Verblendung aufbegehrt und für mehr Freiheit, Fortschritt und Toleranz gestritten, so heißen die drei roten Tücher des Brockhaus-Verlags Beliebigkeit, Flüchtigkeit, Unzuverlässigkeit. Während sich in der Enzyklopädie ausschließlich geprüftes und gesichertes Wissen finde, so gebe es "bei vielen kostenlosen Angeboten im Internet dagegen [...] keine konkreten Maßstäbe für Qualitätssicherung, hier ist alles flüchtig, kann alles korrigiert und wieder zurückkorrigiert werden. Deshalb sind solche Quellen auch nicht zitierfähig und werden von zahlreichen Universitäten nicht für wissenschaftliche Arbeiten anerkannt".

Die kaum überhörbare Kritik an Wikipedia, die freie und kostenlos nutzbare Enzyklopädie im Internet, lässt sich in dieser Form nicht aufrechterhalten. Zum einen empfiehlt der große Allgemeinheitsgrad, den die Auskünfte des Brockhaus haben und sinnvollerweise ja auch haben müssen, das Lexikon kaum als Zitatenquelle für die Wissenschaft. Selbstredend gab und gibt es natürlich auch in der Enzyklopädie kleinere und größere Patzer. Warum wuchs beispielsweise der Ras Daschan zwischen der 19. und 20. Auflage gleich um 70 Meter, so dass er nicht länger der fünf-, sondern der vierthöchste Berg Afrikas ist? Warum stirbt der italienische Medailleur "Abondio" in der 20. Auflage 19 Tage früher, warum hat sich die Grundfläche des Tschadsees so drastisch vermindert?

Demgegenüber glänzt Wikipedia mit zum Teil hervorragend geschriebenen Artikeln und hat mit ihrem ungeheuren Wachstum - seit Mai 2001 wurden 304.829 Stichwörter eingestellt - schon jetzt die Brockhaus-Enzyklopädie überrundet. Indem es die Vorteile des Mediums Internet konsequent nutzt und auf inhaltliche Beschränkungen völlig verzichten kann, kann das Online-Lexikon Wissen viel weiträumiger abdecken und schneller auf aktuelle Entwicklungen reagieren. Schlägt man in beiden Enzyklopädien einmal unter Gustav Sack, Ulrich Horstmann oder Andreas Eschbach nach, im Brockhaus findet man - nichts. Auch der Kulturtypus des "Exzentrikers", zu dem es in den letzten Jahren zahlreiche Veröffentlichungen gab, wird von Wikipedia zumindest rudimentär dargestellt, während der Brockhaus eine glatte Fehlanzeige vermeldet.

Zu einem ähnlichen Ergebnis führt der direkte Vergleich von Artikeln, die in beiden Lexika vertreten sind. Während Wikipedia unter "Messner, Reinhold" Auskunft über die neuerdings relativierte Yeti-Sichtung und den mysteriösen Tod des Bergsteiger-Bruders beim gemeinschaftlichen Erklettern des Nanga Parbat gibt, geht der Brockhaus auf diese Hintergründe mit keinem Wort ein. Den Artikel über Marcel Reich-Ranicki muss Brockhaus schon 2003 abgeschlossen haben, das Buch "Über Amerikaner" (2004) ist schon nicht mehr verzeichnet. Und während Wikipedia exakt das von literaturkritik.de geführte Internet-Portal zu Marcel Reich-Ranicki verlinkt, führt die Brockhaus-Enzyklopädie online nur ein Rezensionsforum namens "Literaturkritik" und lässt den ahnungslosen Nutzer auf der Startseite allein.

Übrigens hält Wikipedia, die der gedruckten Konkurrenz auf der Startseite artig gratuliert, unter dem Stichwort "Enzyklopädie" ebenfalls nicht mit Kritik hinter dem Berg. Traditionalismus, Elitarismus, ökonomisches Gewinnstreben - so lauten die Vorwürfe, die sich gegen das Mannheimer Verlagshaus richten.

Es lohnt sich, den Eintrag ausführlicher zu zitieren: "Früher verstand man unter einer 'Enzyklopädie' eine auf Papier gedruckte Ansammlung von Erklärungen und Erläuterungen zu vielerlei Gegenständen des menschlichen Wissens, welche von anerkannten Autoritäten und Kennern der jeweiligen Gegenstände verfaßt war. Aber diese Autoritäten haben ihren Vorsprung in Hinsicht auf Güte und Tiefe nunmehr eingebüßt. Sie haben vor allem ihren Vorsprung in der Schnelligkeit verloren. Eine moderne 'Enzyklopädie' zeichnet sich durch folgendes aus: Sie macht altes wie neues Wissen in Sofortzeit und größter Zuverlässigkeit für jeden Menschen mit einem Internetzugang zugänglich. Sie nimmt keine Rücksicht auf Traditionen. Die alten (Papier-basierten) 'Enzyklopädien' dienen nurmehr als Rückversicherung. Da diese alten 'Enzyklopädien' aber von einer 'geschlossenen' Gesellschaft verfaßt sind, dienen sie einer offenen Gesellschaft als ein 'Diskussionsthema'. Die alte Form der Verleger war und ist darüber hinaus auf monetären Gewinn ausgerichtet, während die neue auf geistigen Gewinn ausgerichtet ist."

Das Beispiel der Encyclopedia Britannica zeigt, dass viele Leser, die ein Lexikon haben wollen, die gedruckte Form vorziehen. Von der traditionsreichen Britannica ist mehrere Jahre keine Printfassung erschienen, seit 2003 jedoch wieder eine gedruckte Ausgabe auf dem Markt. Auch aus seiner eigenen Marktforschung wird Brockhaus den Schluss gezogen haben, dass sich trotz der günstigeren elektronischen Versionen der Nachschlagewerke die Mehrzahl der Käufer nach wie vor für das Buch entscheidet. Trotzdem: Die haushohe Überlegenheit vor allen anderen Organisationsformen des Wissens, die die gedruckte Enzyklopädie für sich reklamiert, hat zu bröckeln begonnen. Die Monolithen auf dem Buchmesse-Gelände zeigen erste Haarrisse. Schon in den eigenen Produktreihen gelingt es kaum, Buch und Internet miteinander zu versöhnen. Die Generation der bibliophilen Leser mit Hang zum "Werthaltigen" wird kleiner. Vielleicht hätte man sich deshalb einen bescheideneren und zeitgemäßeren Auftritt der Brockhaus-Enzyklopädie gewünscht.

Die 21. Auflage wird in gedruckter Form in Deutschland bis Ende März 2006 für einen Vorauszahlungspreis von 2.397 € verkauft, die elektronische Fassung für 1.489 €. Ab April 2006 kosten die 30 Bände 2.490 €.


Titelbild

Brockhaus. Die Enzyklopädie in 30 Bänden. Band 1, A-ANAT. 21., überarbeitete und aktualisierte Auflage.
Brockhaus Verlag, Mannheim 2005.
618 Seiten, 83,00 EUR.
ISBN-10: 3765341010

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