Du Deutsche!

Kurdinnen in Deutschland erzählen ihr Leben und Leiden

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jesiden? Wer oder was um alles in der Welt sind Jesiden? Kaum jemand hierzulande weiß mit dem Begriff etwas anzufangen. Im Herbst 2005 allerdings war von ihnen in den Tageszeitungen zu lesen. In Gütersloh befreite die Polizei eine 25-jährige Jesidin aus der Gewalt ihrer Familie. Sie war entführt worden, weil sie sich in einem Moslem verliebt hatte. Schon früher war die junge Frau von Familienmitgliedern mit dem Tode bedroht worden, weshalb sie mit Hilfe der Polizei in eine andere Stadt geflüchtet war. Näheres über die Hintergründe der Entführung und der Drohungen wurde nicht berichtet.

Diese erhellen sich allerdings, wenn man zu dem unter dem Pseudonym Ayse verfassten autobiografischen Bericht "Scheherazades Tochter" greift. Wie man dort erfährt, handelt es sich beim Jesidentum um eine vorislamische, ehedem insbesondere unter kurdischen Stämmen in der Türkei verbreitete Religion. Von den heute weltweit etwa 600.000 Glaubensangehörigen leben etwa 40.000 in Deutschland, in der Türkei hingegen höchstens noch 300. Vergleichbar gering ist ihre Zahl in den kurdischen Gebieten der arabisch-muslimischem Staaten, in denen sie seit Jahrhunderten verfolgt werden, weil sie sich der Islamisierung widersetzen. Wie man aus Ayses Buch erfährt, soll das Fortbestehen der kleinen Jesidengemeinde durch das Verbot, Angehörige anderer Religionen zu heiraten, gewährleistet werden. Denn man kann weder zum jesidischen Glauben übertreten noch kann man sich von ihm abwenden. Dafür aber gehören Kinder jesidischer Eltern der Religion ihr Leben lang an.

Ayse weiß, was das Gebot, nur innerhalb der Glaubensgemeinde heiraten zu dürfen, bedeutet. Denn sie wurde selbst als Jesidin geboren. Zwar sind ihre Eltern ebenso wie die meisten exilierten Jesiden "nicht besonders religiös", sondern halten 'nur' an den althergebrachten Regeln fest. Doch eine dieser Regeln "kennen und befolgen sie alle: Heirate nur innerhalb deines Glaubens und deiner Kaste." So sollte auch Ayse mit einem von den Eltern ausgesuchten Cousin verheiratet werden. Dass sie da schon längst einen Deutschen liebte, spielte keine Rolle. Denn die Hochzeit mit dem Verwandten war schon ausgehandelt worden, als die künftige Braut gerade mal 13 Jahre alt gewesen war. Ausgehandelt - das ist wörtlich zu verstehen. Denn auf dem kurdisch-jesidischen Heiratsmarkt werden die Töchter an den Meistbietenden verschachert. Wie Ayse berichtet, erhält in der Regel derjenige den Zuschlag, der eine Summe von etwa 40.000 Euro bietet.

Eine Heirat mit dem ungeliebten Mann wäre für sie eine "Vergewaltigung auf Lebenszeit" gewesen. Und schon vorher glich ihr Leben - wie das so vieler Frauen aus archaisch-patriarchalischen Kulturen - einem Albtraum. Zwar waren Ayses Eltern bereits vor einem viertel Jahrhundert dem lockenden Ruf aus Deutschland gefolgt, hatten ihre Heimatstadt Diyarbakir verlassen und waren nach Berlin gegangen, das die Geburtsstadt ihrer Tochter werden sollte. Die türkische Heimat hatten sie jedoch "nahezu in Miniaturausgabe" mitgenommen. Ayse hingegen ist die Kultur ihrer Eltern stets fremd geblieben. Vielmehr empfindet sie das Land ihrer Geburt als ihre Heimat. Damit ist sie die Einzige in der Familie, die sich nicht mit der jesidisch-kurdischen Kultur identifizieren kann. "Ich weiß auch nicht, woran das liegt", kommentiert sie hilflos.

"Von klein auf" war ihr eingetrichtert worden, "allen Deutschen gegenüber misstrauisch zu sein". Insbesondere aber gegenüber deutschen Männern, von denen es hieß, sie "woll[t]en immer nur das eine". Als Jungendliche prasseln fast täglich Beschimpfungen wie Schlampe oder Hure auf sie ein. Sie alle fließen in einem Wort zusammen: "Du Deutsche".

Ayses Gedanken, Wünsche und Träume kannten die Eltern nie. Die waren ihnen wohl auch ziemlich gleichgültig. Sehr interessiert waren sie allerdings daran, dass ihre jugendliche Tochter "Geld nach Hause brachte und [s]ich ihrem Willen nicht widersetzte". Als sie sich einmal um eine halbe Stunde verspätete, wurde sie von Bruder und Vater brutal zusammengeschlagen. Ebenso, als sie es wagte, dem ihr zugedachten Mann zu widersprechen. Zwar ist es das Los vieler Frauen jesidischen Glaubens, regelmäßig verprügelt zu werden. Doch mit der Religion habe diese Gewalttätigkeit "gar nichts" zu tun, versichert Ayse. Im Gegenteil, das Jesidentum sei "eine friedfertige Religion".

Nicht immer bleibt es für die Frauen bei Schlägen. Auch Ayse läuft Gefahr, mehr als 'nur' beschimpft oder verprügelt zu werden. Ständig steht ihr ein warnendes Beispiel vor Augen: Eine Freundin von ihr wurde von der eigenen Familie ermordet, weil sie einen muslimischen Freund hatte. Auch er kam nicht ungestraft davon. Um ihn zu entstellen, wurde ihm kochendes Wasser über Kopf und Oberkörper gegossen. Ayses Mutter versichert dem entsetzten Mädchen bei jeder Gelegenheit, dass sie ebenfalls getötet werde, wenn sie einen Freund hätte. Dafür, dass es nicht so weit kommt, sorgt die Familie nach besten Kräften: "Egal, ob ich zur Arbeit gegangen bin oder nur kurz um den Block - immer hat mich mein Bruder oder einer meiner Cousins begleitet". Die Aufpasser sollen verhindern, dass sie von einem Mann angesprochen wird. Jesidische Männer sind einer solchen Kontrolle nicht unterworfen. Gleichgültig ob sie verheiratet oder ledig sind, können sie sexuell völlig freizügig leben. "Es wird stillschweigend geduldet."

Alle Überwachungsmaßnahmen können nicht verhindern, dass Ayse einen Arbeitskollegen kennen und lieben lernt. Darüber, wie sie sich zu der Rebellin entwickelt, die im Alter von 21 Jahren das Wagnis auf sich nimmt, mit ihrem deutschen Freund noch vor der geplanten Zwangsverheiratung mit einem ungeliebten Verwandten zu fliehen, erfährt man nicht viel mehr, als dass ihr eine deutsche Schulfreundin zum Vorbild geworden war. Sie half Ayse, "Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen".

Einige Zeit nach der Flucht wird Ayse von der Familie entdeckt und ganz wie die Frau in der Zeitungsmeldung aus der Wohnung ihres Freundes entführt. Um sie aufzuspüren, hat sich ihre Familie gleich mehrerer Verbrechen gegen Dritte schuldig gemacht. Darunter Morddrohungen gegen ihren Freund und die polizeibekannte Entführung des Kindes einer Freundin von Ayse, die so zur Preisgabe von deren Anschrift erpresst wurde. Unklar bleibt, wieso dennoch sämtliche Familienmitglieder auf freiem Fuß blieben.

Bereits einen Tag nach der Entführung wird Ayse von der Polizei aus der elterlichen Wohnung befreit und findet Schutz in einem Frauenhaus von Papatya, einer Organisation, die Frauen und Mädchen hilft, die vor ihren Familien flüchten. Hier hat sie das vorliegende Buch geschrieben, an dessen Schluss sie sich nichts sehnlicher wünscht, "als dass auch meine Eltern einmal von mir ablassen werden".

Wie das Leben so vieler Frauen aus archaisch-patriarchalischen Kulturkreisen glich auch Ayses Leben bis zu ihrer Befreiung einem Albtraum. Dessen ärgster Nachtmahr allerdings nicht ihr Vater oder ein anderer Mann war, sondern - die Mutter. Im Vergleich mit ihr, so Ayse, war selbst ihr prügelnder Vater "harmlos".

Das mag verwundern. Doch sind in Gesellschaften wie derjenigen, aus der Ayse stammt, oft gerade die Frauen der älteren Generation die schlimmsten Tyranninnen gegenüber ihren jüngeren Geschlechtsgenossinnen. Meist sind es die Schwiegermütter, welche die Bräute ihrer Söhne bis aufs Blut quälen. Erklärt wird das gemeinhin damit, dass diese Frauen, ihr Leben lang selbst Unterdrückte und Gequälte, nun erstmals Gelegenheit haben, all die Torturen, die sie zu erleiden hatten, weiterzugeben, indem sie von der Seite der Geknechteten auf die der Knechtenden wechseln. Töchter und Schwiegertöchter zu tyrannisieren ist der einzige Statuszuwachs, der den Frauen in diesen Kulturen möglich ist. Und gerade er trägt auf perfide Weise dazu bei, die Kultur der Frauenunterdrückung zu perpetuieren.

So berichtet denn auch eine andere türkischstämmige Autorin, sie trägt das Pseudonym Inci Y., in fast den gleichen Worten wie Ayse von ihrer Mutter als der machiavellischen Fürstin der Familie. "[D]ie Großmütter und die Mütter" seien "die eigentlichen Wächter und Verwalter der Unterdrückung", die Männer hingegen "nur die Nutznießer des Systems". Dass Männer aus den durch einen archaisch-patriarchalischen Islam geprägten Gesellschaften von Marokko bis Pakistan und Indonesien tatsächlich sehr wohl auch Unterdrücker sind, zeigt jedoch nicht nur Ayses Biografie - und mit ihr etliche ähnliche Berichte von Frauen aus diesen Regionen -, sondern auch jede Zeile von Inci Y.'s eigenem Buch. Sein Untertitel "Eine Türkin in Deutschland erzählt" ist allerdings etwas irreführend. Verbringt die Verfasserin doch fast ihres ganzes erzähltes Leben in der Türkei. Nur einige Jungendjahre lebt die Autorin kurdisch-türkischer Abstammung in Deutschland. Und dann wieder eine kurze Zeit am Ende der Autobiografie, von der aber nur die letzten Seiten des Buchs handeln.

Zwar wurde die Autorin 1970 in Deutschland geboren. Doch schon anderthalb Jahre später wird sie zu ihrer Oma nach Ankara verfrachtet, weil es billiger ist, sie dort großzuziehen. Auch heute noch, erklärt Inci, würden viele Kinder in Deutschland lebender Türken bei Verwandten im Herkunftsland "[ge]parkt". Die kleine Inci durchlebt im kurdischen Stadtteil der türkischen Metropole ein wahres Martyrium voller "Lieblosigkeit, Gefühlskälte und Brutalität". Allein die Zuneigung der Oma bietet einen Lichtblick. Erst als Inci bereits neun Jahre alt ist, lernt sie ihre Eltern kennen. Bis dahin wusste sie nicht einmal, dass sie welche hat. Niemand fand es nötig, mit ihr darüber zu reden. Zwei Jahre später wird sie zurück nach Deutschland geholt. Doch unterscheidet sich ihr Leben hier nicht allzu sehr von dem in der Türkei. Wiederholt spricht sie von der "Gehirnwäsche", der "türkische Mädchen" hier wie dort unterzogen werden, um sie auf die einzige Zukunft vorzubereiten, die ihnen zugedacht ist: "die Ehe und darauf, unseren künftigen Mann jederzeit zufriedenzustellen".

Zwar verliebt sie sich in einen deutschen Jungen. Doch die Eltern verheiraten sie kurzerhand in die Türkei. In dem kurdischen Viertel von Izmir, in dem sie fortan lebt, geht es ebenso konservativ zu "wie in den Dörfern Anatoliens". Schon bald verhält sie sich selbst so, "wie die Frauen, die dort, in Anatolien, geboren wurden". Insgeheim aber träumt sie davon, mit ihrer deutschen Jugendliebe "in einem ganz normalen deutschen Wohnviertel ohne türkische Nachbarn [zu] leben." Nach 10-jähriger Ehe voller Beleidigungen, Schlägen und Vergewaltigungen erreicht sie die Scheidung und bekommt die beiden gemeinsamen Kinder zugesprochen. Ihr Ex-Gatte ist jedoch keineswegs gewillt, das hinzunehmen. Vielmehr entführt er die Kinder mehrmals. So kann er Inci schließlich in eine Falle locken, in der sie mit dem Tode bedroht wird, jedoch entkommen kann.

Ausführlich berichtet die Autorin von dem zerrütteten, ja zerstörten Verhältnis zwischen den Geschlechter in der archaisch-patriarchalischen Kultur türkischer Kurden. Ein Verhältnis, das durch die "Verlogenheit des Hymenkults" geprägt ist. Während von Frauen verlangt wird, bis zur Hochzeit "unberührt" zu bleiben, können sich die Männer bis zur Hochzeit - und selbstverständlich auch danach - mit "'gebrauchten' Frauen" vergnügen. 'Gebrauchte' Frauen, das sind in der Regel verheiratete Frauen, die "ein Ventil für den Frust ihrer Zwangsehe" suchen, indem sie mit anderen Männern schlafen. Fast alle türkischen Frauen aus Incis Bekanntenkreis "denk[en] nicht daran, ihrem Mann treu zu sein". "Beide - Mann und Frau - werden um ihr Leben betrogen. Warum und wem sollten sie treu sein?" So sind nicht nur die Frauen Opfer der hypokriten Sexualmoral, sondern - wenngleich auf andere Weise - auch die Männer. "Wie sollen sie Zärtlichkeit finden und geben, Zuwendung erfahren und teilen, die Liebe einer Frau gewinnen", die ihnen mit der Zwangsverheiratung "zugewiesen" wird, fragt Inci rhetorisch.

Bis zu ihrem 27. Lebensjahr hat sie "noch nie aus eigenem Wunsch mit einem Mann geschlafen". Hingegen musste sie etliche Vergewaltigungen erleiden, nicht nur durch ihrem Mann, auch durch 'Freunde', Bekannte und Verwandte. Einmal mit einer durchgeladenen Pistole im Mund. Zu den Vergewaltigern gehört auch einer ihrer Arbeitgeber, der sie zudem zur einer Prostituierten machen will. Ungeachtet dieser Erfahrungen und ihrer Flucht vor ihm, führt Inci ihm nur wenig später eine Freundin zu - wohlwissend, dass diese das gleiche Schicksal erleiden wird.

Ein, zwei Jahre nach der Scheidung hat ihre in Deutschland lebende Familie einen neuen Mann für sie gefunden, einen zum Islam konvertierten Deutschen, der sich jetzt Mustafa nennt. Obwohl Inci ihn weder kennt noch liebt, entschließt sie sich, ihn zu heiraten. Denn sie möchte nicht mit ihrer Familie brechen. Außerdem, so argumentiert sie, bleibe geschiedenen Frauen in der Türkei gar keine andere Wahl als erneut zu heiraten. Für diese Heirat kommt Inci erneut nach Deutschland und lässt in der Türkei einen zwar mit einer anderen Frau verheirateten, aber von ihr geradezu vergötterten Mann zurück. Wie sie nach der Hochzeit erfährt, ist ihr Bräutigam homosexuell und hat sie nur geehelicht, um dies zu besser verbergen zu können.

Ähnlich wie Ayse macht auch Inci nicht ihre Religion, sondern die "gnadenlose Tradition" für ihr lebenslanges Martyrium verantwortlich. Mehr noch: Während Ayse dem Jesidentum eher gleichgültig gegenübersteht, ist Inci eine "gläubige Muslimin", die sich "aus religiösen Gründen" damit "identifizieren" kann, das Kopftuch zu tragen und ihre Probleme "[a]m liebsten" mit einem Imam besprechen würde. Doch würden ihre Eltern ihr "niemals" erlauben, "allein in die Moschee zu gehen".

Inci Y. hat ein von der ersten bis zur letzten Zeile ebenso zorniges wie hoffnungsloses Buch geschrieben. Dies unterscheidet es von demjenigen Ayses wie auch von den Büchern fast aller vergleichbarer Autorinnen, die doch immerhin irgendein Licht am Ende ihres persönlichen Tunnels zu sehen hoffen.


Titelbild

Ayse: Scheherazades Tochter. Von meinen eigenen Eltern zum Tode verurteilt.
Ullstein Verlag, Berlin 2004.
269 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-10: 3548364845

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Inci Y.: Erstickt an euren Lügen. Eine Türkin in Deutschland erzählt.
Piper Verlag, München 2005.
297 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3492047947

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