Der überlebensgroße Vater

Peter Stephan Jungks Roman "Die Reise über den Hudson"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Je unternehmungslustiger der Vater, desto stiller, desto matter der Sohn". So charakterisiert Peter Stephan Jungk seinen Protagonisten Gustav Rubin, einen verheirateten Mann von Mitte 40, der sich nicht aus den Fängen seines Elternhauses lösen kann. Sein Vater ist vor einem knappen Jahr gestorben, als er mit dem Flugzeug in New York ankommt und dort von seiner Mutter am Flughafen abgeholt wird. Auf der Fahrt in ein Wochenendhaus, wo Gustavs Frau und die Kinder warten, geraten sie auf der Brücke über den Hudson in einen endlos langen Stau. Dies ist die äußere Romanhandlung, aus der sich in Rückblenden ein riesiges Familienpanorama erschließt.

Die Mutter, die den erwachsenen Sohn stets "Burschi" nennt, ist eine wahre Nervensäge. Der Mietwagen gefällt ihr nicht, ebensowenig die Musik aus dem Autoradio, und für den Stau macht sie den Sohn verantwortlich, weil dessen Maschine verspätet gelandet ist. Auf der Hudson-Brücke treten beide eine ungewöhnliche Reise in die Vergangenheit an. Peter Stephan Jungk (Jahrgang 1952) arbeitet in seinem Roman mit einer starken Zeitdehnung. Während sich die Blechlawine nur meterweise vorwärts schiebt, rollt er Kindheit und Jugend im Schatten des übermächtigen Vaters aus. Typisch für Gustav, dass die eigentliche "Reise" im Schneckentempo vor sich geht - statt Bewegung ist Stillstand angesagt. Auslöser der Retrospektive: Mutter und Sohn glauben, den verstorbenen Ludwig Rubin überlebensgroß und nackt am Ufer liegen zu sehen.

Ludwig Rubin war ein weltweit bekannter Naturwissenschaftler und Philosoph, der mit seinen Büchern und seinen Vorträgen rund um den Erdball reiste und in dessen Haus Adorno, Bloch, Marcuse und Canetti ein- und ausgingen. Da hatte es Sohn Gustav, der Geschichte studierte, aber später als Pelzhändler seinen Lebensunterhalt verdiente, schwer, seinen Platz in der Familienhierarchie zu finden. Er war und blieb immer "Burschi".

Peter Stephan Jungk weiß, wovon er schreibt, denn sein Vater war der international renommierte Zukunftsforscher und Atomgegner Robert Jungk (1913-1994). Anders als im Roman hat Jungk junior sehr wohl seinen Weg gefunden, hat sich als Romanautor (u.a. "Tigor", 1991), Filmemacher und als Biograf von Franz Werfel und Walt Disney einen Namen gemacht. Er geht souverän mit den unübersehbaren Anleihen aus der eigenen Familienvita um, liefert keinen voyeuristischen Klatsch, sondern versucht, die unter diesen Rahmenbedingungen schwierige Vater-Sohn-Familie-Konstellation exemplarisch darzustellen.

Herausgekommen ist eine Tragikomödie, die an die besten Woody Allan-Filme erinnert. "Burschi" ist eine herrlich schräge Figur, der nichts erspart bleibt. Gegen den Willen seiner Mutter Elsa hat er eine orthodoxe Jüdin geheiratet, mit der sich das Zusammenleben als sehr schwierig erweist. Dass er die einstigen Warnungen der Mutter leichtfertig in den Wind geschlagen hat, bekommt Gustav auf der Hudsonbrücke mehrmals zu hören.

Auch nach dem Tod des Vaters scheint es keinen Ausweg aus dem beinahe hermetischen Familiensystem zu geben. Sohn Gustav weiß dies. Er ergibt sich dem Schicksal und resümiert: "Die Loslösung vom Elternhaus ist lebensnotwendig, aber es gibt sie nicht."


Titelbild

Peter Stephan Jungk: Die Reise über den Hudson. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
226 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3608934693

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