Den Palast wegpusten

Kerstin Hensel entdeckt einen Vulkan mitten in Berlin

Von Anne HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war einmal ein dummes Mädchen, das schwanger wurde und es nicht bemerkte. Als es Bauchweh bekam, fuhr es mit dem Rad an einen See. Die sechzehnjährige Veronika Dankschön ging, von plötzlicher Übelkeit befallen, im Siethener See baden und - gebar das Kind im Wasser: "mit der letzten Schmerzwoge rutschte das Kind aus Veronika heraus. Sie griff unter sich, faßte, was da zwischen ihr und dem Neugeborenen hing; die spiralig gedrehte Schnur faßte sie, wie man einen Strick zum Abbinden eines Korbes faßt, riß, drehte, zwirbelte sie, half mit den Fingernägeln schneidend nach, bis die Schnur nachgab und das Kind abgenabelt, mit Hilfe der Mutter, auftauchen konnte."

Auf diese Weise erblickt der Held des Romans, Hans Kielkropf, im August 1950 das Licht der Welt. Schon als Kind hält er Reden und sammelt Zeitungen, denen er markige Sprüche entnimmt. "Als er in die Schule kam, teilte er die Kinder in gute und böse ein. Gute waren, die seinen Reden beifallgebend lauschten; böse diejenigen, welche feige schwiegen oder in aller Öffentlichkeit sich lustig machten." In der Erweiterten Oberschule wählt man ihn zum FDJ-Gruppenleiter: "In einer Jugendstunde, bei Keks und Milch, erklärte ihn der Lehrer zum Tagebuchführer und überreichte ihm das Buch. Hans spürte, wie Freude von Kopf bis zu den Schuhsohlen aufwärts stieg und in seinem Kopf von innen einen Druck erzeugte." Unreflektiert nimmt Hans alles für bare Münze, was die sozialistische Gesellschaft ihm vorgibt. Als an seinem 18. Geburtstag russische Panzer durch Prag rollen, verfasst er ein Schreiben, "in dem stand, daß er, Hans Kielkropf aus Nudow, das Vorgehen der sowjetischen Truppen in der CSSR uneingeschränkt begrüßte." Eifrig beginnt er sein Journalistikstudium in Leipzig und kandidiert schon am Ende des zweiten Semesters für die Partei. Hans Kielkropf schließt das Studium mit 'sehr gut' ab und bekommt eine Stelle als Redakteur in der Leipziger Volkszeitung.

So weit, so gut, doch Sympathie will mit keiner der Figuren aufkommen. Kerstin Hensel setzt die einfältige Mutter Veronika gegen den auf höherer Ebene einfältigen Sohn, der nicht gelernt hat, zwischen den Zeilen zu lesen. Eine linientreue Erziehung führt in seinem Fall zur Lebensuntüchtigkeit. Mitleid mit Mutter und Sohn stellt sich nicht ein, zu beflissen entwickelt jeder seine Trugbilder zur Alltagsbewältigung.

Es wundert nicht, dass die zwei unter die Räder der Geschichte kommen. Die Mutter erhängt sich ein paar Wochen vor dem Mauerfall. Der Sohn, der die DDR wie ein tapferer Soldat Schweijk blindlings durchstolpert hat, nimmt auch die Wende und die darauf folgenden Veränderungen nur bedingt wahr: "Inzwischen bewohnt Hans Kielkropf ein Zimmer im Berliner Neubaugebiet Hellersdorf: 15 Quadratmeter, mit einer durch eine Gipswand abgetrennten Kochnische... Die erste Zeit seiner Arbeitslosigkeit sprach Hans kein Wort. Schweigend füllte er irgendwelche Formulare aus, schweigend ging er zum Arbeitsamt, um sich zu melden, schweigend saß er abends auf dem braunen Sitzelement."

Als Hans Kielkropf sein Schweigen bricht, wird er über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Wächter im Palast der Republik. Hier schließt sich nun der Kreis der Rahmenhandlung; ein deutsch-deutsches Geologenteam sucht 1996 am Siethener See nach den Resten eines erloschenen Vulkans und erlebt dabei psychedelische Szenen. Die Spur des Vulkans führt sie nach Berlin, wo Hans seine Abenteuer besteht. Im Palast der Republik treffen er und die Geologen aufeinander. Dort wird auch zum Entsetzen des Lesers der unterirdische Vulkan entdeckt. Schade, dass der Roman hier aus den Fugen gerät. Als hätte die Autorin dem Säuseln einer unauffälligen Biografie ein krachendes Ende nachsetzen müssen. Doch dessen hätte es nicht bedurft. Nicht nur, dass Hans von einem bösen Krebs geheilt wird, Kerstin Hensel will es am Ende allen so richtig zeigen und läßt ihn mit der Brechstange eine Rissstelle im Schloßfundament erweitern, aus der Gas ausströmt...

Titelbild

Kerstin Hensel: Gipshut. Roman.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999.
200 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3378006188

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