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Thorsten Galert untersucht, ob Tiere Schmerzen haben.

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vermessen erscheint schon die Fragestellung: "Diese Untersuchung ist der Frage gewidmet, ob Tiere Wahrnehmungen machen und ob sie insbesondere Schmerzen haben." (Wozu brauchte man noch gleich Philosophen?) Überraschend geht es nach dieser Ankündigung weiter, denn anstatt etwas zu Tieren zu sagen, spricht Thorsten Galert erst einmal 30 Seiten lang... allein vom Menschen: Von dessen Selbstverständnis, von menschlichen Handlungen und Praxen, von Wissenschaftlern und ihren Wissenschaften, von "erkenntnisleitenden Interessen" und der "transsubjektiven Geltung wissenschaftlicher Erkenntnisse".

Nun gut, jetzt also zu den Tieren? Mitnichten. Im gesamten Buch kommt die zentrale Rolle dem Menschen zu, immer wird vor allem er zur Erklärung und für Beispiele herangezogen. Dabei nicht einmal direkt zur Erklärung von und für Beispiele bezüglich 'Schmerz' - denn der mit Abstand umfangreichste Teil des Buches befasst sich mit dem Wahrnehmen. Die Definition bzw. die Rekonstruktion von 'Schmerz' - und auch hier wird der 'Schmerz' beim Tier nur per Umweg über den 'Schmerz' beim Menschen thematisiert - bildet gerade einmal den (gemessen am Gesamtumfang) sehr knappen Abschluss des Buchs.

Also Thema verfehlt? Selbstverständlich: Keinesfalls!

Denn obwohl ja nun auch andere Vermutungen bezüglich des Inhalts eines Buches mit dem schlichten Titel "Vom Schmerz der Tiere" denkbar sind - der Autor dieser Zeilen zog es jedenfalls bei der Lektüre während einer Bahnfahrt vor, jenen verdeckt zu halten -, geht es Galert gerade darum, überhaupt erst einmal zu klären, ob bzw. inwiefern wir das Wort 'Schmerz' in Bezug auf Tiere sinnvoll verwenden können. Schließlich können Tiere nicht - wie Menschen - sprachlich bekunden, dass sie Schmerzen haben. Es ist auch fraglich, ob sie - wie Menschen - darüber reflektieren können, dass sie Schmerzen haben, dass sie gestern Schmerzen hatten oder dass es ihnen vermutlich Schmerzen verursachen würde, wenn sie bestimmte Dinge täten. Wie können wir dann aber begründen, dass das, was sie empfinden ('Empfinden' sie überhaupt?), nicht nur dem ähnlich ist, was wir empfinden - wir müssten dann von 'tierischem Schmerz' und 'menschlichem Schmerz' sprechen -, sondern dass es sogar dasselbe ist - nämlich beides schlicht 'Schmerz'? Offensichtlich unterscheiden Tiere sich nicht nur, aber eben insbesondere auch hinsichtlich ihrer Psyche erheblich vom Menschen. Folglich ist die Behauptung, ein bestimmtes Phänomen der tierischen Psyche sei identisch mit einem bestimmten der menschlichen, durch eine solide Begründung zu stützen.

Das Thema, das Galert in seiner in der theoretischen Philosophie eingereichten Dissertation bearbeitet, ist nun keinesfalls ein neues. Als Grundlage für gegenwärtig geführte gesellschaftliche (und damit nicht zuletzt juristische) Debatten kommt ihm aber ungemeine Aktualität zu: Ob und inwieweit wir Tieren Schmerzempfinden zusprechen, ist ein wichtiger Aspekt unseres Bildes vom Tier und hat nicht nur Einfluss darauf, wie jeder individuell mit ihnen umgeht, sondern gerade auch auf den gesetzlich vorgeschriebenen Umgang mit ihnen.

Der äußerst reizvolle erste Teil des Buchs erörtert dieses 'Wozu?' der Erforschung tierischen Schmerzempfindens ausführlich und bereitet außerdem mit insbesondere handlungstheoretischen Mitteln das wissenschaftstheoretische Fundament, auf das Galert seine ausführliche Bestimmung des Begriffs des Wahrnehmens gründet.

Als 'Wahrnehmen' (bezogen sowohl auf Menschen als auch - davon abgeleitet - auf Tiere) definiert er im stellenweise etwas zähen zweiten Teil den "aufmerksamen Erwerb von sensorischen Unterscheidungsdispositionen". Da Galert einem Wesen nicht schon dann eine Wahrnehmung zuschreiben will, wenn lediglich dessen Sinne gereizt wurden, kommt dabei dem 'aufmerksam' - über das er den nicht allein historisch höchst problematischen Begriff des Bewussten vermeidet - besondere Bedeutung zu. Dessen Einführung allerdings mag befremden, weil sie stark auf das lebensweltliche Verständnis des nämlichen vorwissenschaftlichen Ausdrucks rekurriert, indem 'Aufmerksamkeit' gleichsam 'bloß' analytisch und extensional als diejenige Größe begrenzten Umfanges eingeführt wird, deren Vorhandensein erklärt, warum "wir nicht beliebige Handlungsschemata gleichzeitig und in gleicher Güte aktualisieren können". Obwohl dadurch 'aufmerksam' ohnehin schon als Deus ex Machina erscheint, befriedigt auch die so gewonnene Unterscheidung zwischen 'Wahrnehmen' und ('bloßem') 'Unterscheiden' noch nicht vollends: Auch sie stellt sich schließlich dem Leser nun als eine lediglich extensionale dar, deren Sinn er sich nur vorwissenschaftlich - eben unter Bezug auf 'bewusst', 'Bewusstsein', 'Absicht' etc. - erschließen kann bzw. der zumindest hier nicht anders geklärt wird.

Der dritte Teil führt den Terminus 'Nozizeption' ein, allerdings entgegen dem üblichen Wortgebrauch ('Sinneswahrnehmung des Schmerzes'): "Mit noxischen Reizen [die also der nozizeptiven Wahrnehmung zugrunde liegen] sind wohlgemerkt nicht 'Schmerzreize' gemeint, denn ihre Beschreibung soll sich experimentell etablieren lassen [...]. Es spricht also einiges dafür, den Terminus 'noxischer Reiz' innerhalb der Physiologie unter ausschließlicher Bezugnahme auf [ggf. nur potentielle] Gewebeschädigung einzuführen." Daran anschließend sei 'Schmerz' dann eine "unangenehme Leibempfindungen, die mit nozizeptiven Wahrnehmungen oder nozizeptiven Wahrnehmungstäuschungen einhergehen".

Diese raffinierte Definition, laut der wohlgemerkt Schmerzen selbst nicht wahrgenommen werden - ansonsten wäre es ja möglich, auch bezüglich Schmerzen Wahrnehmungstäuschungen zu unterliegen; ein Gedanke, den Galert aus guten Gründen zurückweist -, umschifft elegant die im Buch sorgfältig dargelegten und diskutierten Klippen, die in anderen Ansätzen enthalten sind und ermöglicht ein ergiebiges Eingehen auf die Ausgangsfrage. Wie es sich für gutes Philosophieren gehört, kann diese nun, da die Umstände, unter denen sie gestellt wird, sowie die in ihr benutzten Termini geklärt sind, sehr knapp abgehandelt werden: Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere können theoretisch Wahrnehmungen machen und Schmerzen haben; ob ein jeweiliges Tier auch tatsächlich (bestimmte Sachverhalte) wahrnimmt oder (in einer bestimmten Situation) Schmerzen hat, ist empirisch zu ermitteln - wobei Galert anschauliche Instruktionen gibt, wie entsprechende Untersuchungen durchzuführen sind.

Den Anthropozentrismus, nach dem also die Frage nach dem Schmerz beim Tier in der Rekonstruktion der Frage nach dem Schmerz beim Menschen nachgeordnet ist und von der Antwort auf diese abhängt, hält Galert in seiner Argumentation strikt durch, begründet ihn dabei aber auch plausibel. Nicht zuletzt ist es eben schlicht der Mensch, der diese Rekonstruktion unternimmt und der Schmerzen erst einmal überhaupt nur aus ganz individueller Erfahrung kennt. Aussagen über das Tier und seine Verfassung können folglich in dieser vom Menschen geführten Untersuchung bestenfalls mit Bezug auf den Menschen getroffen werden. Wie Galert zeigt, kann ihnen allerdings trotzdem eine personeninvariante ('transsubjektive') Gültigkeit zuerkannt werden; sie stellen somit die beste Alternative dar, die sich uns zur unerreichbaren 'objektiven Wahrheit' bietet.

Wenngleich es sich trotz des ausführlichen Stichwortverzeichnisses leider bisweilen als schwierig gestaltet, außerhalb des Leseflusses (also lediglich im Nachhinein) die exakte - und innerhalb des Erörterungsverlaufes endgültige Bedeutung - eines im Text verwendeten Terminus zu ermitteln, stellt das Buch insgesamt eine gewinnbringende Lektüre dar. Es werden zahlreiche Fragen aufgeworfen und auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse anderer (Natur-)Wissenschaften umfassend erörtert, die den Leser selbst dann beschäftigen dürften, wenn sein Erkenntnisinteresse weniger den Tieren, als den Menschen gilt.


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Thorsten Galert: Vom Schmerz der Tiere. Grundlagenprobleme der Erforschung tierischen Bewusstseins.
mentis Verlag, Paderborn 2005.
328 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3897852365

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