Gewalt gegen Frauen als interessengeleitetes Machthandeln

Ambivalente Neupositionierungen und Kontroversen über Frauenrechte dargestellt von der Ethnologin Rita Schäfer

Von Renate RauschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Rausch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Studie stellt eine Herausforderung der ethnologischen Geschlechterforschung insofern dar, als sie die Interdependenzen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Gender-Konstruktionen zeigt, welche in dieser Form und mit dieser Stringenz und Tiefenschärfe als Thema bislang nicht bearbeitet wurden. Die Studie von Rita Schäfer definiert geschlechtsspezifische Gewalt "als Machthandeln des oder der Gewaltakteure, die ihre dominante Position und ihre Kontrollansprüche festigen wollen. So manifestiert und spiegelt das Gewalthandeln gesellschaftliche Machtverhältnisse, insbesondere den inferioren Status von Frauen und Mädchen, wobei die einzelnen Gewaltformen - von körperlicher bis sexueller Gewalt - als Teil interdependenter und sich wechselseitig verstärkender Gewaltkontinuitäten und -dynamiken zu betrachten sind." Danach sind Gewaltübergriffe als gesellschaftlich geprägtes, rationales Handeln zu verstehen, das in Formen der Gesellschaftsorganisation und spezifische Legitimationsmuster eingebunden ist.

Südafrika hat (laut Human Rights Watch von 1995 und 1997) weltweit die höchste Vergewaltigungsrate und liegt auch im Bereich der häuslichen Gewalt an der Spitze. Dagegen gilt die südafrikanische Verfassung von 1996 als beispielhaft hinsichtlich ihrer Festschreibung von Rechten, Demokratie und Gleichheit, auch und insbesondere in Bezug auf Geschlechtergleichheit, Frauenrechte und dem Schutz vor Gewalt. Rechtswirklichkeit und Gesetzesgrundlagen stehen offenbar in krassem Gegensatz zueinander. Denn die Rechtsrealität ist noch immer von der fast ein halbes Jahrhundert dauernden Apartheid gekennzeichnet. Und so ist es das Ziel dieser groß angelegten Studie von Rita Schäfer, das Spannungsverhältnis von Rechten und Gesetzen, die als Instrumente zur Verbesserung der Situation der Frauen dienen sollen, und von geschlechtsspezifischer Gewalt als wesentlichem Faktor in der Gender-Konstruktion zu untersuchen. Eine solche Langzeitperspektive, mit Fokus auf die Interdependenzen und vielfältigen Facetten von Gender und Gewalt, lag bislang noch nicht vor. Es ist ein gezielt auf Interdisziplinarität angelegter Forschungsbeitrag, der fragt, wie sich die historischen Hintergründe auf die Sozialbeziehungen, die alltäglichen Lebenszusammenhänge und Gender-Konstruktionen auswirken, und dabei die Reaktionen von Gesellschaft und Staat auf die Gewalt reflektiert. In diesem Zusammenhang geht es darum, kulturelle Legitimationen von Gewalt zu erfassen. Das betrifft insbesondere die Frage, inwieweit unterschiedliche, von einzelnen sozialen Gruppen konstruierte Legitimationsansätze, die bereits in der Kolonialzeit und während der Apartheid je nach Interessenlage der herrschenden Eliten und männlicher Machthaber verändert wurden, weiterhin so transformiert werden, dass sie heute unter neuen Vorzeichen wesentlich dazu beitragen, Geschlechterhierarchien aufrecht zu erhalten. Legitimiert durch bestimmte kulturell geprägte Maskulinitäts- und Gender-Konzepte avanciert geschlechtsspezifische Gewalt auf diese Weise zum alltagsprägenden Strukturproblem, das die Mobilität, die Handlungsspielräume, Interaktionen sowie die beruflichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten von Frauen und Mädchen drastisch beeinträchtigt, ihre Gesundheit und Persönlichkeit angreift und ihr Leben gefährdet. Forschungsleitend ist also die im Verlauf der Untersuchung überzeugend dargelegte These, dass geschlechtsspezifische Gewalt interessengeleitetes Machthandeln darstellt und ausdrücklich nicht als triebgesteuerte, irrationale Aggression zu verstehen ist. Die Studie analysiert deshalb die sozio-kulturellen und historischen Kontexte der extrem hohen Gewaltrate. Sie fragt nach den Interdependenzen von geschlechtsspezifischen Gewaltformen und Geschlechterkonstrukten, setzt geschlechtsspezifische Gewalt aber auch mit anderen Gewaltformen in Beziehung und ergründet, wie diese sich wechselseitig verstärken. Denn gerade infolge politischer Umbrüche und rapider gesellschaftlicher Transformation, für die Diskontinuitäten und Widersprüche charakteristisch sind, bedienen sich Gewaltakteure einer eigenen Gewaltsymbolik, die zum Sinnbild ihrer Macht wird.

Das Buch gliedert sich in vier Teile:

Im I. Teil werden die historischen Dimensionen der geschlechtsspezifischen Gewalt in Südafrika nachgezeichnet. Hier arbeitet die Autorin die mittel- und langfristigen Kontinuitäten der geschlechtsspezifischen Gewalt von der kolonialen Herrschaft bis zur Apartheid und die unterschiedlichen kulturellen Gewaltlegitimationen und gesellschaftlichen Machtstrukturen heraus.

Im Zentrum der Studie steht der II. Teil mit der Überschrift: Gender und Gewalt in verschiedenen Lebenswelten. In den Kapiteln 3 bis 10 werden die aktuellen geschlechtsspezifischen Gewaltformen analysiert und Geschlechterhierarchien und Gewalt in den Städten und im ländlichen Südafrika, im Bildungssektor und im Gesundheitswesen untersucht. Diese Auseinandersetzung betrachtet die geschlechtsspezifische Gewalt nicht als isoliertes Problem, sondern sieht sie im Zusammenhang mit Geschlechterhierarchien und gesellschaftlichen Entwicklungen. So rücken die Interdependenzen von privaten und öffentlichen Gewaltformen in den Blick. Gewalt in Partnerschaften, Ehen, Familien und Haushalten wird als Spiegel der Gewalt in der Gesellschaft verstanden, denn Familien und Haushalte sind die Mikrokosmen der sozialen Strukturen.

Geschlechtsspezifische Gewaltformen in Ehen und Partnerschaften sowie Vergewaltigungen sind die Themen des 4. Kapitels. Detailliert berichtet dieses Kapitel über die psychischen und physischen Folgen der Gewalt für Frauen und Kinder und die Kodierung der geschlechtsspezifischen Gewalt bei einzelnen sozialen Gruppen. Es entschlüsselt verschiedene kulturelle Konzepte von sexueller Gewalt und Vergewaltigungen und illustriert die Reaktionen des jeweiligen sozialen Umfelds, der südafrikanischen Gesellschaft und staatlicher Institutionen auf die Gewaltübergriffe - vom Verschweigen und Tabuisieren über das Bagatellisieren bis hin zum Beschuldigen. Das 5. und 6. Kapitel thematisieren die Geschlechterhierarchien und die Gewalt gegen Frauen in den Städten und in ländlichen Gebieten und zeigen, dass das Erbe der Apartheid auch in ländlichen Gebieten die Lebensperspektiven und Handlungsmöglichkeiten von Frauen beeinträchtigt.

Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der geschlechtspezifischen Gewalt an Schulen und Universitäten im 7. Kapitel, während das 8. Kapitel die verhängnisvollen Interdependenzen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Gesundheit genauer ausführt. Am Beispiel der sexuell gewalttätigen Schüler wird gezeigt, wie diese Gewaltform immer mehr zum Bestandteil der Männlichkeitskonstruktion bei Teenagern wird, was wegen der unzureichenden Präventionsarbeit und mangelnder staatlicher Gegenstrategien zum Anstieg der HIV-Infektionen bei Jugendlichen führt. Im 9. Kapitel steht die kulturelle und religiöse Legitimation der Gewalt im Mittelpunkt, denn in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen greifen Männer auf Begründungen zurück, die sie als Teil der sozialen Ordnung, als traditionell oder religiös gerechtfertigt ausgeben. Ob und wie Frauen durch künstlerische Ausdrucksformen Gewalterfahrungen thematisieren und damit zur Reflexion bzw. zum Einstellungswandel in der südafrikanischen Öffentlichkeit beitragen wird im 10. Kapitel untersucht.

Im III. Teil steht die Reflexion über Rechtsgrundlagen im Mittelpunkt, wobei die neuen Frauenrechte und Gewaltschutzgesetze vorgestellt werden. Dabei wird auch analysiert, inwieweit staatliche Institutionen sich am neuen Rechtsrahmen orientieren und dadurch die Rechtsrealität ändern.

Der IV. Teil illustriert in den Kapiteln 12 und 13 die Geschichte der Frauenorganisationen in Südafrika und setzt sich detailliert mit heutigen Frauen-Rechtsorganisationen auseinander. Dabei werden ihre Konzepte, ihre organisationsinterne Strukturen und Handlungslimitierungen und besonders die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ihrer Arbeit und ihrer Position gegenüber der Regierung erläutert. Der Dreh- und Angelpunkt dieses letzten Teils ist die Frage, inwieweit die Frauen-Rechtsorganisationen dazu beitragen, die geschlechtsspezifische Gewalt zu reduzieren und die Frauenrechte zu verwirklichen..

Der Untersuchungsfokus des 12. Kapitels richtet sich auf die politisch aktiven Frauenorganisationen, die während der Apartheid das rassistische Unrechtssystem und die gesetzlich legitimierte Diskriminierung bekämpften. Mit vielfältigen Strategien protestierten sie gegen die rechtliche Benachteiligung von Frauen, ordneten aber die Überwindung der Geschlechterhierarchien dem nationalen Befreiungskampf unter. Verinnerlichte Geschlechterhierarchien und politische Überlegungen hielten sie davon ab, geschlechtsspezifische Gewalt als ein über die rassische Ordnung hinausgehendes gesellschaftliches Problem zu thematisieren und den Gewaltmustern eine Absage zu erteilen. Das 13. Kapitel stellt an ausgewählten Beispielen die Gender- und Gewaltkonzepte, die internen Strukturen und die konkrete Arbeit unterschiedlicher Frauen-Rechtsorganisationen vor. Schließlich fragt das sehr kurz gehaltene 14. Kapitel nach Alternativen zu den hegemonialen Männlichkeitsbildern, die auf Dominanz und Gewalt aufbauen. Dabei werden die wenigen eher punktuellen Initiativen und sehr heterogenen Gruppierungen angesprochen und festgestellt, dass in Südafrika nicht von einer Männerbewegung gesprochen werden kann. Aber die neu entstandene Maskulinitätsforschung könnte in ihrem Anspruch auf ein gesellschaftspolitisches Engagement die Aufgabe übernehmen, nicht nur die Krise der Männlichkeit zu beschreiben, sondern auch Alternativen zur gewaltgeprägten Männlichkeit in Südafrika zu entwickeln.

Es fällt schwer, in der gebotenen Kürze das enorme Arbeitsvolumen der Autorin, die Aufarbeitung des historischen Materials und ihr intensives Eindringen in die südafrikanische Rechtsrealität sowie die überzeugende Darstellung der südafrikanischen Geschlechterverhältnisse als Gewaltverhältnisse zu würdigen. Der Zusammenhang, den die Autorin zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt und der weit verbreiteten und allgemein akzeptierten Gewalt in der südafrikanischen Gesellschaft herstellt, dürfte sich nicht nur für die ethnologische Geschlechterforschung, sondern auch aus der Sicht feministischer Wissenschafts- und Erkenntniskritik als innovativ und erkenntnisleitend erweisen. Abschließend sei noch auf die ausführliche rund 150 Seiten umfassende Bibliografie hingewiesen, in der alle in der Studie behandelten Aspekte akribisch erfasst sind.


Kein Bild

Rita Schäfer: Im Schatten der Apartheid. Frauenrechtsorganisationen und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika.
LIT Verlag, Münster 2005.
480 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 382588676X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch