Optische Täuschung und deutsch-französische Versöhnung

Wilhelm Hausensteins Ausgewählte Briefe

Von Hubert RolandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hubert Roland

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Hellmut H. Rennert herausgegebene kritische Ausgabe der Briefe des Schriftstellers, Kunsthistorikers und Diplomaten Wilhelm Hausenstein (1882 - 1957) hat den Verdienst, die Forschung daran zu erinnern, dass eine sachkundige Biographie über Hausenstein noch geschrieben werden muss. Mit dieser Briefauswahl liegen jetzt ergiebige Materialien vor, dem früheren Bericht über den Marbacher Nachlass und den letzten Arbeiten über Hausensteins diplomatische Tätigkeit als Adenauers erstem Missionschef in Paris folgend.

Die wichtigsten Lebensdaten Wilhelm Hausensteins werden am Ende des Buches in Verbindung mit einer Bibliographie aufgeführt: sein Studium in München und die frühe Freundschaft mit dem späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss sowie deren gemeinsame Verehrung Friedrich Naumanns; der Eintritt in die SPD unter dem Einfluss der Lektüre Ferdinand Lasalles. Im Ersten Weltkrieg erfolgte in Belgien seine "kulturpolitische Arbeit" im Dienste der sogenannten "Flamenpolitik" der deutschen Zivilverwaltung. Sie bemühte sich darum, die Autonomiebestrebungen der Flamen innerhalb des belgischen Staates zu unterstützen. Bei diesem Einsatz lernte Wilhelm Hausenstein die Belgierin Margot Lipper kennen, die er nach dem Krieg heiratete (Trauzeuge war Rainer Maria Rilke). "Wegen des unmöglichen Kompromisses mit der Rechten" trat er 1919 aus der SPD aus. 1933 - nach Beginn der politischen Repressalien - wurde ihm von den "Münchner Neuesten Nachrichten" fristlos gekündigt. Bemerkenswert ist in diesen Jahren seine Arbeit für die "Frankfurter Zeitung" - die Redaktion ihres Literaturblatts und ihrer Frauenbeilage. Auf Anordnung des Propagandaministeriums wurde er 1943 auch hier entlassen - gemeinsam mit den beiden anderen "nichtarischen oder nicht arisch-verheirateten" Redakteuren Benno Reifenberg und Dolf Sternberger. Nach Ende des Krieges wurde Hausenstein auf Initiative Konrad Adenauers erster Generalkonsul, dann erster Botschafter der Bundesrepublik in Paris (1950 - 1955).

Diese Pariser Zeit und die "bösen Jahre" 1933 - 1945 bilden die beiden Schwerpunkte dieser kritischen Edition. Ein wichtiges Dokument ist der in der "Süddeutschen Zeitung" vom 24. Dezember 1945 erstveröffentlichte offene Brief an Thomas Mann. Es handelt sich hierbei um ein weiteres Zeugnis der Kontroverse um Exil und innere Emigration, denn es folgt dem Brief Thomas Manns an Walter von Molo. Die Bücher, so Thomas Mann, die von 1933 bis 1945 in Deutschland gedruckt werden konnten, seien "weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen": "Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden". Hausenstein plädiert für diese Autoren, sich auf Bücher stützend, die "auch jetzt standhalten, wo die Hölle vorüber ist, und inskünftig bestehen werden - deshalb nämlich, weil sie in der Tat eine echte Substanz enthalten", weil sie "den Menschen guten Willens geholfen" haben, "sich gegenüber dem Scheußlichen in der echten Ordnung der Seele und des Geistes zu behaupten". An den "Gestalten und Problemen" von Eugen Gottlob Winckler hafte jedoch "ein Geruch von Blut, von Schande [...] - aber im Sinne der Umkehrung", da Winckler die Freiheit seines geistigen Daseins mit der Panik vor der Gestapo bezahlt und seinem Leben ein Ende gesetzt habe. Übrigens seien in der erzählenden Kunst Bücher entstanden, "denen der künftige Geschichtsschreiber nichts vorwerfen" werde, auch nicht "die leiseste Nachgiebigkeit gegenüber einem Anspruch des Hitlerismus - im Gegenteil": er nennt unter anderem die Erzählung "Wir sind Utopia" von Stefan Andres. "Ich wage zu zweifeln, ob in der Emigration viel geschrieben worden ist, das dieser Erzählung an Rang gleichkommt". Die These, der zufolge "der Generalstreik des literarischen Anstandes [...] das einzige Angemessene" in den "bösen Jahren" gewesen sei, weist Wilhelm Hausenstein als "Abstraktion" zurück: "Mit menschlichen Realitäten würde sie nichts mehr zu tun haben. Denn dies gerade macht das Wesen alles Guten aus, daß es sich in der zwingenden Verfassung der Kontinuität befindet". In seinem Brief an Hanns Braun vom 8. Januar 1946 versucht Hausenstein gleichsam, die "unglücklichen" Ansprachen Thomas Manns zu entschuldigen: "Alles ist die Folge der optischen Täuschung, der die Emigration im Prinzip ausgesetzt ist."

Betrachtet man das Schicksal Wilhelm Hausensteins in der Zeit des Nationalsozialismus, so versteht man, dass er seine Gründe hatte, sich durch den "gereizten" Ton Thomas Manns beleidigt zu fühlen. Seit Ende 1936 stand er unter Schreibverbot; seine "Allgemeine Kunstgeschichte" wurde eingestampft, weil er sich geweigert hatte, die Namen jüdischer Meister wie Liebermann, Israels oder Pissarro zu streichen. Nach der Entlassung bei der "Frankfurter Zeitung" (zu deren Geschichte 1933 - 1945 diese Briefauswahl aufschlussreiche Materialien bietet) lebten Wilhelm und Margot Hausenstein unter schwierigsten psychischen und materiellen Bedingungen. Im Februar 1945 standen sie unmittelbar vor der Deportation und wurden in letzter Stunde gerettet. Zu dieser Zeit entstand auch "unter den Augen der Gestapo", Hausensteins bekannte Baudelaire-Übersetzung (erschienen 1946).

Die moralische Haltung Hausensteins fand in den Nachkriegsjahren Bestätigung und Vertrauensbeweise. Auf die literarischen Projekte, die seine letzten Jahre beschäftigen sollten, verzichtete er, als Adenauers Angebot kam, Generalkonsul der Bundesrepublik in Paris zu werden. Diese Jahre standen für den Baudelaire-Übersetzer im Zeichen der deutsch-französischen Aussöhnung. Er war der Überzeugung, dass deren Grundlagen nur in einem tief verwurzelten kulturellen Austausch bestehen könnten, "weil das deutsch-französische Verhältnis doch die europäische Kardinalfrage" sei: "eine Kardinalfrage, von der die Engländer sich eher distanzier[t]en".

Man darf nicht glauben, dass die Mission Hausensteins zu günstigsten Bedingungen verlaufen wäre, und sei es nur aus der Sicht der materiellen Situation. Ebenso wenig konnte Hausensteins Leistung als kulturpolitischer Vermittler mit der Beachtung Bonns rechnen. Negativ entwickelte sich beispielsweise das Verhältnis zu Walter Hallstein, der sich weigerte, das Projekt eines permanenten deutsch-französischen Kultur-Komitees mit der notwendigen finanziellen Unterstützung zu unterstützen: "Das Kulturelle ist offenbar wieder etwas Beiläufiges geworden, ein fünftes Rad". Da die französische Seite aber an seiner Person nicht zweifelte, bemühte sich Hausenstein fortan, dem deutsch-französischen Dialog auf dem persönlichen, nicht mehr auf dem institutionellen Wege zu dienen. Da er den diplomatischen Dienst erst mit 68 Jahren antrat, wurde Hausenstein eine reguläre Botschafterpension vorenthalten.

Als beachtlicher Beitrag der Mission Hausensteins zum deutsch-französischen Dialog lassen sich folgende Ergebnisse zusammenfassen: "nicht wenige Brücken sind geschlagen; ein bestimmtes Klima der Achtung, ja des Vertrauens gegenüber meinem Land ist [...] gebildet oder mindestens vorbereitet; wir glauben, ein gewisses moralisches Kapital zu hinterlassen, das der künftigen Entwicklung des Verhältnisses zwischen den beiden Nachbarn zugute kommen kann".

Dem Herausgeber muss man dankbar sein, dass er diese für die kulturelle und politische Geschichte Deutschlands wichtige Briefedition - vom Jahrhundertanfang bis zur Nachkriegszeit - betreut hat. Bedauernswert hingegen ist, dass er Einleitung und kritischen Apparat nicht mit der nötigen wissenschaftlichen Strenge aufgebaut hat. Es hätte sich beispielsweise als sehr nützlich erwiesen, ein Verzeichnis der Sekundärliteratur über Wilhelm Hausenstein zu erstellen. Dies gilt um so mehr, als dass wichtige Beiträge ohne bibliographische Angaben in der Einführung aufgeführt werden. Zentrale Briefe an Adenauer werden im kritischen Apparat nicht kommentiert. Ebenso ist im Brief an Rainer Maria Rilke vom 9. Mai 1926 ein Aufsatz in der französischen Zeitung "Le Figaro" erwähnt, auf den nicht verwiesen wird. Die Idee eines kommentierten Personenregisters ist sicherlich interessant, sollte aber nicht das für eine solche Ausgabe unentbehrliche Namensverzeichnis ersetzen. Die biographische Notiz über Otto Flake, auf die im Stellenkommentar verwiesen wird, sucht man vergebens. Andererseits wären Notizen über Goethe und Heinrich von Kleist entbehrlich gewesen.

Diese Mängel sollten aber nicht der gebührenden Beachtung dieser Briefauswahl schaden. Neben der ausgiebigen Dokumentation der Zeitgeschichte, erweist sich diese Korrespondenz allein der zahlreichen literarischen Freundschaften wegen als ein Zeugnis der Epoche. Erwähnt seien hier noch René Schickele, Julius Maier-Graefe, Alfred Kubin, Stefan Andres oder Reinhold Schneider, sowie die teils sehr rührenden Briefe an Benno Reifenberg und Max Picard. Wir brauchen uns nicht über alle Facetten der kulturellen, politischen oder religiösen Lebensauffassung Wilhelm Hausensteins einig zu sein, um die Tatsache anzuerkennen, dass er eine Persönlichkeit von Rang, mit höchst moralischen Ansprüchen auf der Ebene der Kunst und der Politik gewesen ist.

Titelbild

Wilhelm Hausenstein: Ausgewählte Briefe 1904-1957. Hrsg., eingeleitet und kommentiert von Hellmut H. Rennert.
Igel Verlag, Oldenburg 1999.
538 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 389621098X

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