Häuptling und Filialleiter

Fritz Kramer beschäftigt sich mit Spiegelungen und Übersetzungsproblemen, hin und her durch die Medien, die Weltgegenden und wieder zurück. Es geht dabei darum, das richtige Wort für die jeweiligen Vorstellungen aufzuspüren.

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Fachgerecht gesagt, bilden die Nuba eine matrilineare Gesellschaft mit Crow-System. Diese Information ist für einen ausgebildeten Ethnologen hilfreich, setzt aber seine Imagination ebenso wenig in Gang wie die des Laien." Diese Aussage im Interview mit Tobias Rees, ist bezeichnend für Fritz Kramer. Spätestens seit seiner Tätigkeit an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg wird seine pragmatische Rhetorik vielen Studenten geholfen haben, die Würde des Vokabulars von dem eigentlichen Interesse zu unterscheiden. Es gibt wohl selten so ein renitentes Auditorium wie ein Stall voller Kunststudenten, die in erster Linie bemüht sind, alles, was sie aufschnappen, sogleich zu ihren Gunsten in etwas zu verwandeln, was sie als Kunst bezeichnen lernen, sie sind nicht austrainiert zur Textexegese im Speziellen, sondern vor allem dafür, was sie mit diversen Sachen machen können.

Nun, Möglichkeiten der Imagination sind für Kunststudenten wie für Kramer von größtem Interesse. Eine gelungene Arbeitssituation also, die Künstler lauschen ahnungsvoll dem exotischen Dozenten, schließlich ist Fremderfahrung Selbsterfahrung, und sind Kramer dabei, Gegenstand der Beobachtung.

Kultur ist kein Text. Kramer kritisiert die humanistische Tradition der Textexegese. Der Datentransfer aus untergegangenen Kulturen in taugliche aktuelle Gesellschaftsmodelle, der in allgemeine Textbesoffenheit und philologisch grammatische Gewissheitsanfälle in fast allen Sparten der Wissenschaft ausartet, ist untauglich für Kramer. Er ist von der britischen Sozialanthropologie geprägt, distanzierte sich aber auf Grund des dort waltenden strikten Strukturalismus wieder davon, da die mit diesem Instrumentarium entstehenden Texte nicht im Mindesten den Erzählungen zum selben Sachverhalt ähneln.

In diesem Zusammenhang ist interessant in welcher Weise Kramer auf "The Golden Bough" von J. G. Frazer eingeht. Frazer war niemals in der Fremde, verstand es allerdings, wie Kramer ausführt, perfekt zu imaginieren und einen Text vorzulegen, den Wittgenstein mit den begeisterten Worten kommentierte: "Ich glaube, daß das Unternehmen einer Erklärung schon darum verfehlt ist, weil man nur zusammenstellen muß, was man weiß, und nichts dazusetzen, und die Befriedigung, die durch die Erklärung angestrebt wird, ergibt sich von selbst." Frazer verfuhr einfühlend. Orientiert an jahreszeitlichen Festen Europas gelang ihm ein erstaunlicher Text zu Ritualen der Fremde. Eine verblüffend simple Spiegelung.

Fritz Kramer beschäftigt sich mit Spiegelungen und Übersetzungsproblemen, hin und her durch die Medien, die Weltgegenden und wieder zurück. Es geht dabei darum, das richtige Wort für die jeweiligen Vorstellungen aufzuspüren. Wie irreführend Übersetzungen zum Teil sind, veranschaulichen Begriffe, die in den europäischen Alltagswortschatz integriert sind, aber nicht so besetzt sind wie andernorts. Jeder Europäer kennt den Begriff Häuptling, aber Angela Merkel wird nicht Häuptling der Bundesrepublik genannt.

Auch die ineinander umschlagenden Begriffe Magie und Kunst, die niemals geklärt werden, aber jeweils für einander einstehen müssen, sind für den an diesem Punkt amüsierten Kramer von Interesse. Ethnologen, die Europäern erklären, was Magie ist, verfallen auf die Beschreibung, es sei so etwas wie Kunst, Künstler sagen, der Begriff Kunst lasse sich am besten vergleichen mit dem Wort Magie. Kramer gibt seine Faszination für solches "Pingpongspiel" ohne Weiteres zu.

Dass eine Kunsthochschule in Norddeutschland zum Spiegel für ein Feldforschungsprojekt in den Nuba-Bergen werden kann, ist eines, das Kramer dann auch noch die eigenartigen Verhaltensweisen der auszubildenden Künstler auf die nicht weniger sonderbaren Verhaltensweisen der Ethnologen spiegelt, macht die Sammlung von Vorträgen und Essays aus drei Jahrzehnten wirklich sehr amüsant. Der "Art sich zu geben" gilt Kramers Interesse. Egal ob es sich dabei um das Charisma eines Edeka-Filialleiters oder Saatpriesters handelt.

Die Interviews, die Tobias Rees mit Fritz Kramer anlässlich des Erscheinens der "Schriften zur Ethnologie" führte, strukturieren die Abteilungen des Buches. Die Gespräche stehen jeweils am Ende der vier Abschnitte, und man sollte die Abschnitte mit den Interviews beginnen. Die Lektüre der Gespräche erzeugt zuverlässig genau die Vertrauen erweckende Atmosphäre, die Kramer auch in seinen Seminaren herzustellen versteht. Ein traumverlorener Imaginationszeitraum von zwei Stunden, den Kramer stets dazu nutzt, ein paar gepfefferte Frechheiten vom Stapel zu lassen, das Auditorium ist aber so molum, dass weder Gelächter noch Protest seinen Vortrag aufhält. Was im Nachhinein dann für alle immer sehr lustig ist.

Lustig ist auch die typisch ethnologische Krux, dass man sich als Feldforscher nie so weit vom Gegenstand der Beobachtung entfernt, als dass man als Laie eine Reihe handlicher Schlagworte an die Hand bekommt, mit denen man sich bei der nächstbesten Party profilieren könnte. Beginnen die Aufsätze dieses Buches mit klaren Aussagen zu Phänomenen, wie Praktiken der Imagination, Kult und Kunst, Ritualen und Exotismen, verschlingt die präzise Schilderung sogleich alle Griffigkeit der Thesen. Sie lassen sich nur schwer für Partys instrumentalisieren. Man schaut vielmehr auf dem Grund von Kalebassen nach dem neusten Stand der Dinge und kennt sich damit natürlich nur begrenzt aus, aber man kann es vielleicht spiegeln. Die Imagination läuft jedenfalls auf Hochtouren und das hat Kramer ja beabsichtigt. Die Rituale der Gesellschaften, vom Ausstellungsbesuch bis zum Weihnachts- oder Erntefest, werden von Kramer mit ihrer pragmatischen Unterlage zusammengeführt. Die willfährige Rechtfertigung der Rituale gehört nicht zu seinen Interessen. Denn Phänomene gehören verstanden, nicht erklärt. Kramer steht freundlich, aber mit ungebrochener Distanz und Ironie gegenüber grünen Zweiglein, Osterhasen und Penisköchern.


Titelbild

Fritz Kramer: Schriften zur Ethnologie.
Tobias Rees.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
419 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518292889

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