Summe der Narratologie

Wolf Schmid behandelt "Elemente der Narratologie" und zeigt neue theoretische Wege auf

Von Ursula KocherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Kocher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren wird es unübersichtlich im Theorienwald 'Erzählen''. Obwohl erst einige Trampelpfade existieren, die sich mit Begriffen wie 'Erzählforschung'', 'Erzähltheorie'' und 'Narratologie'' belegen lassen, kümmern sich bereits Spezialisten um einzelne botanische Sonderformen wie den 'unzuverlässigen Erzähler'' oder das 'proleptische Erzählen'', sodass man am Ende Gefahr läuft, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Dabei sind die verschiedenen genannten Richtungen trotz der Ähnlichkeit ihres Gegenstands im Allgemeinen keineswegs alternativ zu beschreiten. Sie bezeichnen klar getrennte Lager, wobei dann auch noch jede Theorie ihre eigenen, begrifflichen Varianten aufweist. Glücklich also, wer nicht nur heil irgendwie wieder aus diesem Wald herauskommt, sondern es zudem schafft, Gewinn daraus zu ziehen. Kaum jemand hat es in den letzten 40 Jahren gewagt, ohne große Rücksicht auf Vorgänger eine breite Lichtung herauszuschlagen. Am erfolgreichsten unter den wenigen war Gérard Genette mit seinen Abhandlungen "Discours du récit" von 1972 und "Nouveau discours du récit" von 1983 (dt. "Die Erzählung"). Selbst wenn Genettes Theorie sehr viel weniger konzis und umfassend ist, als sie auf den ersten Blick scheinen mag, sie ist doch der bisher überzeugendste und umfassendste Versuch einer systematischen Darstellung der Möglichkeiten narratologischer Analyse.

Diese Position Genettes ist jetzt in Gefahr, denn Wolf Schmid ist mit seinen "Elemente[n] der Narratologie" ein ähnlich großer Wurf gelungen. Natürlich ist dieses Buch gänzlich anders als die Texte Genettes, denn der französische Strukturalist geht von den notwendigen Analysekategorien einiger weniger Texte bzw. vor allem eines Textes aus. Schmid dagegen versucht, zugleich von Texten und der Theorie her zu denken. Er wägt ab, ordnet und systematisiert, was er im Wald findet. Aber genau darin liegt die Stärke dieses Buchs, dessen Titel hervorragend gewählt ist: Schmid geht es um die Auswahl der entscheidenden Elemente, die für eine narratologische Theorie benötigt werden, um sie methodisch fruchtbar machen zu können. Er räumt auf mit merkwürdigen, sich hartnäckig haltenden Fehlurteilen der Literaturwissenschaft, wie beispielsweise der Vorstellung, Interpretation und narratologische Analyse seien bei der Arbeit klar voneinander zu trennen: "Die Narratologie kann sich nicht darin erschöpfen, analytische Instrumente für eine scheinbar 'voraussetzungsfreie'', interpretationsunabhängige Deskription narrativer Texte bereitzustellen. Schon mit dieser bescheidenen Aufgabe käme sie übrigens nicht weit. Bereits die Konstruktion des 'Erzählers'', sofern sie auf die Semantisierung von Textsymptomen angewiesen bleibt, ist, um nur ein Beispiel zu nennen, stark interpretationsabhängig. Auch die seit den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts währende Kontroverse um die erlebte Rede zeigt, wie 'voraussetzungsreich'' die erstellten Beschreibungsmodelle jeweils sind."

Wolf Schmid ist Mitglied der Hamburger Forschergruppe 'Narratologie'', was man der Darstellung anmerkt. Man bekommt schnell den Eindruck, dass das, was in diesem Buch steht, sich da nicht zufällig findet, über lange Jahre hinweg verfolgt und mehrfach in einer Gruppe diskutiert wurde. Das Buch erschien bereits 2003 auf Russisch und wurde für einen abstrakten deutschen Leser bearbeitet. Umso mehr ist dem Autor dafür zu danken, dass er umfassend Stellung bezieht und den Mut hat, gezielt auszuwählen. Gleichzeitig liefert er zu den behandelten Kategorien eine Darstellung der Kontroversen, die ihretwegen stattgefunden haben und stattfinden, gleich mit, was einem Narratologie-Anfänger die Lektüre enorm erleichtern dürfte. Wenn Schmid also den 'abstrakten Autor'' oder den 'abstrakten Leser'' als notwendige Elemente der Narratologie stark macht, bespricht er gleichzeitig die vorgebrachten Einwände und erwägt ihre Stichhaltigkeit. Der Leser seiner Ausführungen wird auf diese Weise permanent in die Lage versetzt und dazu aufgefordert, selbst abzuwägen, was er angesichts der fast vollständig aufgeführten Forschung kann. Bei Darstellungen wie der Genettes ist das sehr viel schwieriger, es sei dann man kennt bereits sämtliche terminologischen und systematischen Diskussionen. Ob man also Schmids 'abstrakten Autor'' übernehmen möchte oder nicht - auf der Basis seiner Ausführungen kann man das selbst entscheiden, da er zwar seine eigenen Überzeugungen vermitteln möchte, aber keine Setzungen macht und jedes Detail begründet.

Gegenstand des Buchs sind diejenigen narrativen Texte, um die sich Narratologie und die klassische Erzähltheorie gleichermaßen kümmern, die also eine Art 'Schnittmenge'' ausmachen. Für sie gibt es zwei wesentliche Kriterien: den Erzähler (für den sich vor allem die klassische Erzähltheorie interessiert) und eine Abfolge von Ereignissen (Grundmerkmal eines erzählenden Textes für die Narratologie). "Die in diesem Buch vorgelegte Theorie bezieht sich auf erzählende narrative Werke, also jene Schnittmenge, in denen der klassische Begriff der Narrativität mit dem strukturalistischen zusammenfällt. Gegenstand werden also verbale Texte sein, die eine Geschichte präsentieren und dabei mehr oder weniger explizit die vermittelnde Instanz eines Erzählers darstellen." Des Weiteren bezieht Schmid Theorien osteuropäischer Narratologen ein (slawische Formalisten und Strukturalisten), deren Bekanntheitsgrad im deutschsprachigen Bereich aufgrund der Sprachbarriere nach wie vor bedauerlicherweise gering ist. Auch die Beispiele Schmids sind, wie zu erwarten war, häufig der russischen Literatur entnommen.

Die Elemente des Erzählens fasst Schmid in fünf Gruppen zusammen: Erzählmerkmale, Kommunikationsebenen und -instanzen, Erzählperspektiven, Erzähler- und Personentext sowie die narrativen Transformationen. Bereits bei dieser Nennung fällt auf, was Schmids Narratologie von der vieler anderer Theoretiker unterscheidet: Er nimmt die anthropomorphen Bestandteile der Erzähltheorie nicht nur hin und versucht sie zu negieren oder damit irgendwie zurecht zu kommen, er rückt sie als geradezu elementar in den Mittelpunkt. So bemerkt er beispielsweise zum Erzähler: "Aber solche Depersonalisierung des Erzählerbegriffs entspricht in den meisten Fällen nicht unserer Wahrnehmung des Erzähltextes und der hinter ihm rekonstruierten Instanz. Der Erzähler wird vom Leser in der Regel nicht als abstrakte Funktion wahrgenommen, sondern als Subjekt, das unausweichlich mit bestimmten anthropomorphen Zügen des Denkens und Sprechens ausgestattet ist." Will man Schmids Ausführungen gerecht werden, muss man also neu denken lernen. Bei Genette wird davon ausgegangen, dass zunächst der Text hinsichtlich seiner Ordnung unabhängig von einer ordnenden Instanz betrachtet werden kann und muss - eine Annahme, die sich in der Praxis als unhaltbar herausstellt. Schmid setzt den Aspekt der Komposition von vornherein ans Ende des Buchs, sodass er sich logisch aus den Ausführungen zu den Kommunikationsinstanzen und den Perspektiven ergibt. Raffung und Dehnung werden so zu Verfahren, die Rückschluss auf die Bedeutsamkeit zulassen, "die der Erzähler (und hinter ihm natürlich der Autor) bestimmten Episoden bemisst". Echte Genettisten müssten bei einem solchen Satz aufschreien. Vielleicht aber ist die Theorie Schmids die überzeugendere, da die ehrlichere. Vielleicht gibt es eben doch ganz einfach keine Narratologie ohne anthropomorphe Basis.

Besonders überzeugend ist das Kapitel zur Perspektive, da sie von einem - bei Genette undefinierbaren - Wissensstand des Erzählers abgekoppelt wird. Schmid definiert Perspektive als "der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens". Diese Faktoren ordnet er Parametern zu (Raum, Ideologie, Zeit, Sprache, Perzeption), die, so der Verfasser, für die Konstitution der Perspektive in einem Text unterschiedlich relevant sein können. "Perspektivierung ist ein basales Verfahren, das nicht erst auf eine schon bestehende Geschichte angewendet wird, wie zahlreiche Modelle postulieren, sondern sich bereits in der Konstitution der Geschichte durch die Auswahl von Geschehensmomenten bildet. Ohne Perspektive gibt es keine Geschichte."

Wolf Schmid hat es sich zur Aufgabe gemacht, "konstitutive Strukturen fiktionaler Erzähltexte zu betrachten". Was er vorgelegt hat, geht weit darüber hinaus. Die Präzision der Begrifflichkeiten und ihrer Definitionen ist äußerst wohltuend, gerade wenn man Genette gewöhnt ist, so dass in Zukunft sicher der eine oder andere bei seiner Analyse dankbar auf Schmids Vorschlag einer einfacheren Terminologie zurückgreift, beispielsweise hinsichtlich der Erzählertypen. Schmid hat völlig Recht, wenn er bemerkt: "[...] Genettes Terminologie, die einen aufmerksamen Leser und disziplinierten Benutzer verlangt, ist problematisch in Systematik und Wortbildung." Allerdings wird Schmids Buch Genettes Systematik kaum vollständig ersetzen, da letztlich kein alternatives Analysemodell vorgeschlagen wird. Schmids "Elemente" können und sollten dazu dienen, Begrifflichkeiten neu zu überdenken, Genettes Narratologie dürfte jedoch nach wie vor noch die beste Möglichkeit bieten, Erzähltexte umfassend zu analysieren, da seine Einteilung es ermöglicht, Schritt für Schritt bei einer Analyse einen Text zu bearbeiten. Andererseits ist das derzeit Beste für das Vorgehen bei einer Analyse nicht das Beste schlechthin. Wolf Schmid hat deutlich markiert, wo und wie neue Wege beschritten werden können. Nun gilt es, ihnen zu folgen und sie zu erproben.


Titelbild

Wolf Schmid: Elemente der Narratologie.
De Gruyter, Berlin 2005.
320 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110185938

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