Die Ferne in unserer Nähe

Ein Symposion-Band zur virtuellen Realität und der Ethik der Kommunikation

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits Ende 1996 fand in Hannover ein Symposion zur Vorbereitung der EXPO 2000 statt. Initiatoren der Zusammenkunft waren Michael Stier, Gerhard Wegner und Christian Hartmann, drei leitende Mitglieder evangelischer Bildungseinrichtungen. Manfred Faßler, der Herausgeber des Symposionsbandes "Alle möglichen Welten", ist zugleich Leiter des evangelischen Studentenwerkes in Villigst. Die evangelische Theologie lugt denn auch immer mal wieder zwischen den Buchdeckeln hervor. Auf etwa 250 Seiten drängen sich nicht weniger als siebzehn Beiträge; so bleibt den Einzelnen nicht viel Raum: Gerhard Wegner handelt auf gerade mal sechs Seiten das "Selbst im Cyperspace" ab und Michael Stier die "Virtuellen Realitäten" auf kaum mehr als zweien.

Wenig plausibel wendet sich der Herausgeber in seiner Einleitung und einem weiteren Beitrag gegen die grassierende "Telephobie" und singt das Hohe Lied auf die neuen Medien, die es ermöglichten, frei von der repressiven "Zwangsbindung" an "Antlitz und Antwort" des Anderen zu kommunizieren. "Zwei fatale Idealisierungen" könnten durch die Möglichkeiten "anonymer und pseudonymer Kommunikation" nun endlich überwunden werden: die des Angesichts und die der "Metaphysik der Nähe". Man könnte meinen, hier handele es sich um eine bitterböse Satire, doch der Mann meint es offenbar ernst.

Auch Thomas Machos Beitrag enttäuscht. Wusste er jüngst im Feuilleton der "Zeit" mit einer Analyse von Jörg Haiders Umgang mit der Mediendemokratie zu brillieren, so vertut er in seinem Beitrag zur "Gesichterflut" Prominenter, die uns die neuen Medien ins Haus spülen, den knapp bemessenen Raum mit seitenlangem namedropping, erwähnt alles und jeden und befasst sich mit nichts. Zwischen Clint Eastwood und Che kalauert er, dass mit Lady Diana eine Göttin gefeiert worden sei, aber keine neue. Es habe sie schon in Ovids Metamorphosen gegeben. Dort habe der Jäger Aktaion die nackte Diana aufgespürte und sei von ihren Hunden zerrissen worden.

Positiv hervorzuheben ist hingegen Marie Luise Angerers Beitrag zu neuen Technologien, die Grenzerfahrungen im cyberbody ermöglichen. Sie befindet sich eindeutig auf der Höhe des Diskurses, wenn sie in aller Kürze die aktuellen Analysen und Theoreme zu cyberspace und cyberbody, den Cyborgs und den NetzgängerInnen zusammenfassend referiert, gegeneinanderstellt und kritisiert; etwa Marc Poster und Sherry Turkle einerseits, die die Neuen Medien in Hinblick auf einen "großen Entwurf einer postmodernen Subjektivität" hin befragen, und Slavoj Zizek, Katherine Hayles und Geoffrey Batchen andererseits, die vor dem Hintergrund der Subjekt-Theorie Lacans ihr Augenmerk auf "psychische Verschiebungen und Manifestationen des Unbewussten" richten.

Dass in der kontroversen Auseinandersetzung stets die Frage der Geschlechterrolle virulent ist, versteht sich angesichts von gender crossing und cybersex von selbst. Poster, so referiert Angerer, ist der Auffassung, dass der cyperspace unbestreitbar männlich strukturiert sei, zudem dem cartesianischen Leib-Seele-Dualismus "verpflichtet" und in der christlichen Tradition des Lustverbotes stehe. Interessant wäre es, diese Position mit dem von Sadie Plant propagierten weiblichen Netz und seinen "Weberinnen" zu kontrastieren. Doch gerade sie wird von Angerer nicht erwähnt.

Entschädigt wird man hierfür durch Angerers argumentativ überzeugend vorgetragenen Nachweis, dass den CybernautInnen im Netz nicht, wie gerne mystifizieren behauptet wird, die Körper abhanden kommen, sondern sich - fast möchte man sagen schlicht - ihre Wahrnehmung ändert, und dass gender crossing und cybersex gerade nicht besagen, dass Geschlecht und Geschlechterrolle im Netz belanglos wären. Eigentlich geht es aber gar nicht um den Körper, sondern um seine "Bedeutung für.... dessen (unbewusste) Imaginationen, Bilder, dessen imaginäre Grenzen."

Titelbild

Manfred Faßler: Alle möglichen Welten.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
220 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770533712

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