"Wir leben in einer verwilderten kranken Zeit"

Der Briefwechsel zwischen Gerhart Hauptmann und Oskar Loerke

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits der erste Brief der Korrespondenz gibt den Grundton vor: "Hochverehrter Meister", schreibt Oskar Loerke an Gerhart Hauptmann, "lassen Sie auch heute in ergriffener Dankbarkeit und Ehrfurcht sagen, dass ich tief glücklich bin, durch Sie eine unabtragbare Last und Schuld empfangen zu haben: Lebenserhöhung, Leben selbst". Das war im November 1912. Hauptmann feierte damals seinen 50. Geburtstag und stand auf dem Gipfel seines Ruhms. Gerade hatte der erfolgreichste deutsche Dramatiker den Literatur-Nobelpreis zugesprochen bekommen.

Der 27-jährige Loerke dagegen versuchte sich als freier Schriftsteller in Berlin zu behaupten. 1907 hatte er die Universität ohne Abschluss verlassen, als seine Erzählung 'Vineta' im renommierten S. Fischer Verlag erschienen war. 1909 sollte die Begegnung mit dem bedeutenden Lektor Moritz Heimann folgen, der ihn allmählich als sein Nachfolger an den Verlag band, in dem 1911 auch sein erstes Gedichtbuch "Wanderschaft" erscheinen sollte. Die erste Begegnung mit Hauptmann hatte schon ein Jahr vor dem ersten Brief, im Oktober 1911, stattgefunden. Loerke notierte damals in sein Tagebuch: "Hauptmann kennen gelernt, was mir ein großes Glück ist". Dieses "Leben" stiftende Glücksgefühl, so zeigt der Briefwechsel, hielt in all den Jahren bis zu Loerkes Tod im Februar 1941 an, über alle schwierigen Zeitverhältnisse und Abgründe hinweg.

Wer in dem Briefwechsel mit seinen 124 Korrespondenzstücken, die Peter Sprengel zusammengetragen und in Verbindung mit Studierenden der Editions- und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin kommentiert hat, etwa spektakuläre Enthüllungen über das Verhältnis des inneren Emigranten Loerke zu einem, wie Sprengel es in seiner bemerkenswerten Einleitung nennt, "(zumindest punktuellen) Sympathisanten" der nationalsozialistischen Machthaber erwartet oder gar tiefere Einblicke in den Berliner Literaturbetrieb der Weimarer Republik, der wird weitestgehend enttäuscht werden. Es ist ein leiser Briefwechsel, der ruhig dahinfließt: selbst in wilden, verwilderten Zeiten, weil er von Anfang an seinen freundschaftlichen Grundton gefunden hat und die eindeutige Hierarchie zwischen dem berühmten "Meister" auf der einen und dem treuen Diener auf der anderen Seite vom ersten bis zum letzten Brief bestimmend bleibt.

Unbedeutend sind die Briefe, auch jene von und an Margarete Hauptmann, welche die Korrespondenz komplettieren, dabei keineswegs. Sie beziehen ihre besondere Spannung gerade daraus, dass der Leser diese Hierarchie heute unter umgekehrtem Vorzeichen wahrnimmt. Die Größe des "Meisters" schrumpft in gleichem Maße, wie die des Dieners wächst, der sein Verhältnis zu Hauptmann selbst mit den Begriffen "Verehrung Dankbarkeit Treue" beschreibt.

Wenn Loerke nach seinem ersten Besuch bei dem verehrten Dichter in Agnetendorf in sein Tagebuch notiert: "Vom 28. Juni bis zum 10. Juli bei Hauptmanns gewesen. Dies ist ein unvergeßliches Haupterlebnis. Hauptmann von einem hellen Zauber der Menschlichkeit, dem man sich nicht entziehen kann. [...] Unerhörte Stunden", dann tritt dem Leser des Briefwechsels der "helle Zauber der Menschlichkeit" gerade in der Person Loerkes entgegen. Man leidet mit dem verkannten Dichter, der sich in der täglichen Arbeit als Verlagslektor bei S. Fischer, Sekretär der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste (1928 bis 1933) und als einflussreicher Kritiker aufreibt, ohne Zeit und Anerkennung für sein eigenes Schaffen zu finden.

Während Loerke ein ums andere Werk Hauptmanns betreut und bewundernd lobt, spricht Hauptmann so gut wie nie über die Dichtungen des Freunds. Als er 1930 Loerkes Band "Atem der Erde" mit persönlicher Widmung erhält, heißt es etwa: "Was Du bringst, gibt sich zum Teil nicht ganz leicht: bei Anderem findet man sich bald hinter allen Worten [...]. Dein liebes Buch begleitet mich [...] wie ein schönes Problem". Hauptmann selbst hat die von ihm mitverschuldete Tragödie des Freunds 1941 in seinem Nachruf auf den Punkt gebracht (und man bedauert ein wenig, dass dieser Text und die wenigen Aufsätze und Reden Loerkes über Hauptmann nicht als Dokumente der Freundschaft in den Briefband aufgenommen wurden): "Loerke hat viel im Dienste anderer gelebt. Ich meine nicht nur im Sinne, wie jeder tätige Mensch es tut, sondern in dem, der um anderer Strebenden willen und auch anderer Meister, sich selbst und sein wesentlichstes und liebstes Wirken zurückstellt: Er verdient in dieser Beziehung die Bewunderung aller und unauslöschliche Dankbarkeit. Er trat für das ihm würdig Scheinende mit der ganzen Kraft seiner Seele ein und gab zahllose, köstliche Lebensstunden dahin, um dafür zu zeugen und zu wirken."

Im Falle Hauptmanns hat Loerke diesen Dienst offenbar nie als Last, sondern bis zuletzt als Beglückung empfunden. "Ich lebe viel in Deinem Rhythmus, in Deinen Melodien und Gestalten" schreibt er einmal, und als der S. Fischer Verlag 1922 zu Hauptmanns 60. Geburtstag eine große 12-bändige Gesamtausgabe herausbringt, spricht er von deren "historischer Bedeutung" und zitiert dem verehrten Freund ein paar Worte aus seinem Geburtstags-Essay: "Wir leben in einer verwilderten kranken Zeit. Das Auge der Menschen flackert vor dem Angesichte der Natur und des Geistes, weil es sich von phantastischen Seelendünsten in haltloser Furcht und Hoffnung verwirren lässt. [...] Erprobt und bewährt steht Hauptmann als unser Führer in die Zukunft vor uns: wir sehen ihn vertrauensvoll und gläubig. Seine helle Kraft darf uns stärken, denn sie ist nicht Leichtfertigkeit, sondern Licht, und sein Glaube an unser Volk ist Wissen um die Welt".

Doch Loerkes Glauben an die 'Führerschaft' der Poesie im Allgemeinen und an den "Führer" Hauptmann im Besonderen war ein Wunschtraum, der nichts mit der politischen Realität zu tun hatte, die den Dichter nach 1933 jäh einholte. Für Loerke begannen die "Jahre des Unheils", die seine in den 20er Jahren hart erarbeitete soziale und ökonomische Existenz in kürzester Zeit zerstörten. Er wurde gezwungen, um seine Entlassung in der Akademie zu bitten und der S. Fischer Verlag und dessen Autoren hatten besonders unter staatlich verordnetem Antisemitismus und Publikationsverboten zu leiden. Für Loerke begann eine entsetzliche Zeit der Leiden und Demütigungen. "Leben und nicht leben dürfen, das ist die Hölle", notiert er sich 1933 in sein Tagebuch und fühlt sich "Ausgetrieben aus der Gegenwart".

Der Gegensatz zu der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme - und das zeigt sich besonders augenfällig an der Freundschaft zu Hauptmann - konnte größer nicht sein. Erst am 18. November 1932 hatte Loerke in der Dichterakademie die Laudatio zum 70. Geburtstag gehalten und von dem im ganzen Land geehrt und gefeierten Dichter den Ritterschlag erhalten, als dieser ihm nach der Rede vor der versammelten Prominenz erwiderte: "Die Worte, die du mir gesagt hast, werden noch lange mein Herz bewegen. Sie sind Gold, denn du warst immer Gold".

Aber bereits im November 1933 heißt es in einem Brief, der Loerke so wichtig war, dass er ihn in Abschrift in sein Tagebuch legte: "Das vergangene Jahr war erfüllt von strömendem Dank an Dich, mehr, als Du es wissen kannst. Es brachte mir ja viel Erniedrigung, Demütigung und äußerlich die Verarmung: da brauchte ich immer wieder Deinen Zuspruch, und Du hast ihn mir immer gewährt, wenn ich Deiner gedachte und in Deinem Werke aufging. In allerlei Drangsalen und gehäufter Alltagsmühe konnte und kann ich nicht daran denken, einmal zu Dir zu kommen, um in der Welt, in der ich unvertreibbar heimisch bin, Deine Stimme zu hören, aber, bitte, gedenke meiner, wenn Du wieder einmal in Berlin und nicht zu sehr in Anspruch genommen bist."

Hauptmann "gedachte" Loerke nicht in Berlin-Frohnau, obwohl es für ihn ein Einfaches gewesen wäre, den Freund aufzunehmen. Überhaupt fehlen Zeugnisse, die belegen würden, dass Hauptmann, der zu eitel war, den Schmeicheleien und Vereinnahmungen der neuen Machthaber zu widerstehen, dem Freund aktiv beistand. Stattdessen schickte er ihm immer neue Manuskripte zur Lektüre oder 1934 - zu Loerkes 50. Geburtstag - 20 Flaschen Sekt aus dem Adlon mit der Aufschrift "Loerkes Geburtstagswein". Immerhin verfasste er ein Sonett für den Freund, das mit den Versen beginnt: "Freund, der du Freund der Besten bist gewesen / und bist, die lebten und die heute leben, / du hast dich ganz und reich an sie gegeben: / ihr Wesen wardst du, so wie sie dein Wesen".

Doch Hauptmanns Zuspruch bleibt Loerke wichtig, seine Dichtungen sind ihm Lebenshilfe. "Ich verweile oft in Deinen Werken und in ihrem Frieden trotz Weh und Wunden", heißt es Ende 1939 und im Mai 1940 schreibt er über das Erzählfragment 'Winckelmann': "das Auftauchen der menschlichen Lichtwelt in der unmenschlichen Schattenwelt des Sinnlosen war mir an Deinem Buche eine unmittelbar erquickende Wohltat". Beide vertiefen sich nun in ihren Schriften in die Leben großer Persönlichkeiten anderer Epochen, und Hauptmann zitiert im Frühjahr 1939, nachdem Loerke ihm sein großes Leid geklagt hat, Flaubert mit den Worten: "Er vertiefte sich in das Leben eines Andren, weil es vielleicht das einzige Mittel ist, das eigne zu vergessen".

Erst aus seinem letzten Brief an Hauptmann vom 13. November 1940 glaubt man aus den resignativen Schlusssätzen eine leise Kritik herauszuhören. Es ist ein Abschiedsbrief eines aus der Gegenwart gewaltsam Vertriebenen: "Verzeih mir, wenn meine Gedanken diesmal mit den gemeinsamen bekannten Toten dieses Jahres bei Dir eintreten. Wir möchten alles noch einmal miteinander besingen, den Glanz von Freundschaften, so lange sie bestanden, das Schweigen nach unwendbarer Abkehr. O, es gibt die alten hohen Dinge im Guten und Bösen. Verweilen wir fort und fort nur in den Guten!" Hauptmanns Antwort enttäuscht im Menschlichen, wie Loerkes Klage berührt: "Ja, lieber Loerke", schreibt der große Dramatiker, "wir haben uns zu wenig persönlich berührt, ich bin ganz Deiner Ansicht. Man hat ja doch wohl allerlei auf dem Herzen, das brieflich keinen Ausdruck finden kann, denn der lebendig-überspringende Funke allein ist zwischen Menschen wie Du und ich, schöpferisch zündend".

In seinem Testament richtete Loerke an seine "wahren Freunde" die Bitte: "nicht mein Andenken besudeln zu lassen, und jedem entgegenzutreten, der etwa behaupten wolle, ich sei an dieser oder jener Krankheit gestorben [...], weil eine jegliche Krankheit, selbst jede Disposition zu einem Unglücksfall, durch die feindlichen Handlungen und Anschauungen veranlaßt worden ist in langen Jahren".

Oskar Loerke hätte Gerhart Hauptmann zu seinen wahren Freunden gezählt. Der Briefwechsel lässt daran keinen Zweifel. Aber er nährt die Hoffnung, dass an deutschen Universitäten, in Projekten, wie dem vorliegenden, dem Dichter und Menschen Oskar Loerke künftig mehr Forschungsinteresse entgegengebracht wird als bisher.


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Gerhart Hauptmann / Margarete Hauptmann / Oskar Loerke: Briefwechsel.
Herausgegeben von Peter Sprengel in Verbindung mit Studierenden der Freien Universität Berlin.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2006.
280 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3895285528

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