Das Erbe der Zukunft

Jacques Derrida und Élisabeth Roudinesco im Gespräch

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Woraus wird Morgen gemacht sein?" So lautet der vielsagende Titel einer Sammlung von Gesprächen zwischen der bekannten französischen Psychoanalytikerin und Historikerin Élisabeth Roudinesco und dem im Jahre 2004 verstorbenen Philosophen Jacques Derrida, die jüngst im Verlag Klett-Cotta in deutscher Sprache erschienen ist. Auch wenn die Gespräche selbst schon einige Jahre zurückliegen (die französische Ausgabe erschien bereits 2001), so gewinnen sie doch durch den Tod Derridas die Bedeutung eines letzten Vermächtnisses, das in gebündelter Form nochmals einige der wichtigsten Stationen seines Denkens aufgreift und aktualisierend artikuliert. Zugleich erweist sich die Philosophie Derridas anhand der in den Gesprächen behandelten Themen wie "Politiken der Differenz", "Ungeordnete Familien" oder auch "Über den künftigen Antisemitismus" als ein äußerst fruchtbares Denken, dessen eigentliche Reichweite und Tragfähigkeit sich erst noch in zukünftigen Diskussionen zeigen wird.

Der Eindruck, dass dem Dialog zwischen Roudinesco und Derrida eine testamentarische Funktion zukommt, wird durch die erste thematische Einheit "Sein Erbe wählen" durchaus bestätigt: Hierbei handelt es sich um eine erste Verortung des Derrida'schen Denkens, das sich sowohl in Anlehnung als auch in Abstoßung einflussreicher Philosophien wie derjenigen Hegels, Husserls und Heideggers in seiner Eigenart herausgebildet hat, und das nun wiederum selbst zu einem bedeutenden Bestandteil der philosophischen Tradition des 20. Jahrhunderts geworden ist. Dabei kennzeichnen Derridas Ausführungen über das Erbe seine dekonstruktive Philosophie als ein so traditionsbewusstes wie konservativismuskritisches Projekt, das sich zwischen der aktiven Annäherung an ein immer schon Vorgängiges einerseits und dessen passiver Übernahme andererseits bewegt. Diese zwangsläufig ambivalente Einstellung zum Erbe speist sich für Derrida aus der unbestreitbaren Tatsache menschlicher Endlichkeit, die sowohl zur Gabe als auch zum Empfang eines Erbes nötigt, die aber zugleich, infolge des Ungleichgewichts zwischen der Kürze des Lebens und der Länge der Kunst, auch zur wohlüberlegten Auswahl und schließlich zum kritischen Ausschluss bestimmter, nicht kompatibler Erbschaften nötigt. Mit dieser Verknüpfung von heteronomer Gabe und eigenständiger Fortführung, von fremder Beauftragung und selbstbestimmter Verantwortung eröffnet Derrida - u. a. im Anschluss an Emmanuel Lévinas - ein Feld, in welchem im Umgang mit Erbe und Tradition die Würde des Anderen und die Singularität des Einzelnen zusammentreffen. Damit ist der thematische Rahmen für die weiteren Gespräche abgesteckt.

Nach der spezifischen Eigenart seines Denkens der "différance" befragt, verweist Derrida ohne zu zögern auf seine "verrückte Liebe" (amour fou) zur französischen Sprache, welche ihn immer wieder eifersüchtig auf den vorhandenen Sprachkorpus zurückführt, den es in seinem Bestand assimilierend zu bejahen und zugleich doch auch auf das Künftige hin forsch zu durchbrechen gilt. Bei diesem Umgang mit der Sprache handelt es sich um eine kontinuierliche Oszillation zwischen Verwurzelung und Entwurzelung, zwischen zu überwindender Einsprachigkeit und unendlich fortzusetzender Übersetzung innerhalb eines offenen Universalisierungsprozesses. Der Anspruch, den Derrida mit seiner Philosophie innerhalb dieser Textarbeit verfolgt, richtet sich auf die bleibende Ermöglichung des Unberechenbaren und Nichtvorhersehbaren, das in dieser Hinsicht die Zukunft in ihrer ganzen potentiellen Unmöglichkeit umfasst. Zeigt sich dieses Offenhalten schon im Umgang mit dem Erbe der Tradition, so durchzieht es noch viel stärker alle mit Blick auf die Zukunft entfalteten Begriffe im Werk Derridas. Exemplarisch wird in diesem Kontext auf immer schon zu treffende Entscheidungen verwiesen, welche im Nichtwissen um das Kommende vollzogen und verantwortet werden müssen. Deutlich wird dies aber auch am Phänomen der Gastfreundschaft, mit der zugleich ein untilgbares Risiko verknüpft bleibt, das sich aus dem Faktum ergibt, dass man sich dem Fremden vertrauend aussetzt, indem man ihm die eigene verletzliche Privatsphäre offeriert.

In den Dialogen werden aber nicht nur mittlerweile berühmt gewordene Termini der Derrida'schen Philosophie wie "Dekonstruktion", "Spur", "Gabe" oder "différance" nochmals klar erläutert, sondern es werden auch aktuelle Themen angeschnitten, die im bisherigen Œuvre von Derrida eher randständig behandelt worden sind. Im Kapitel "Gewalt gegen Tiere" setzt sich Derrida beispielsweise vehement gegen die moderne Massentierhaltung und maschinelle Schlachtung von Nutztieren ein, indem er auf eine lange Verdrängung dieses Aspekts innerhalb der Philosophie verweist, in der seit Descartes das Tier in Abgrenzung zum Menschen als ein minderwertiges, instinkthaftes und automatenähnliches Lebewesen abgewertet worden sei. Indem Derrida diese bislang als eindeutig gewertete Differenz zwischen Mensch und Tier abstreitet und die Grenzen zwischen den verschiedenen Lebewesen vage werden lässt, plädiert er für einen humaneren Umgang mit Tieren, da ihre fortgeführte Verzweckung für das Selbstbild des Menschen auf Dauer untragbar wird. "Auf welche Weise man auch immer die den Tieren angetane Gewalt bezeichnen mag, sie wird unweigerlich tiefe (bewusste und unbewusste) Nachwirkungen auf das Bild haben, das sich die Menschen von sich selbst machen. Diese Gewalt wird, wie ich glaube, immer weniger erträglich sein."

Ein weiterer thematischer Block, der inhaltlich unmittelbar anschließt, ist das Gespräch über "Todestrafen", in dem Derrida versucht, die ontotheologisch-politischen Ursprünge dessen freizulegen, was sich in der Praxis der in einigen Staaten der Welt noch immer durchgeführten Todesstrafe manifestiert. Derrida sieht in der Entscheidung über Leben und Tod von Verurteilten die letzten zweifelhaften Ausläufer staatlicher Souveränität: Im Rekurs auf Carl Schmitts Theorem von der an der Ausnahme sich entscheidenden Souveränität des Machthabers zeigt sich, dass die Todesstrafe und ihre Aufhebung in der Begnadigung dieses metaphysische Weltbild vergangener Zeiten als Rudiment innerhalb der Gegenwart repräsentieren. So gesehen bedarf es einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen allen Rechts, deren Transzendental die Todesstrafe bildet, will man ein für allemal sicherstellen, dass das Ontotheologisch-Politische und mit ihm auch die Todesstrafe als seine spezifische Ausdrucksform Teil einer dauerhaft überwundenen Vergangenheit sein werden.

Andere Themen wie z. B. "Über den künftigen Antisemitismus" oder "Lob der Psychoanalyse" ergeben sich aus gemeinsamen Erfahrungen oder Interessen der beiden Gesprächspartner: Man merkt den Fragen Roudinescos an, dass sie mit dem Werk Derridas und dessen Entwicklung schon lange Zeit vertraut ist. Dies führt zu dem glücklichen Umstand, dass sich unmittelbar eine Unterhaltung entwickelt, die von beiden Seiten gleichrangig vorangetrieben wird und sich daher kaum auf einer rein deskriptiven Ebene aufhält. Der Nachteil dieses eingespielten Teams liegt hingegen in der teilweise recht speziellen Wahl der Themen, so z. B. wenn es im letzten Kapitel um die divergierende Rezeption des Lacan'schen Werks geht. Und doch lassen sich auch hier Kerngedanken Derridas entdecken, die ihre Anwendung nun in neuen Konstellationen finden.

Insgesamt lassen sich die Gespräche so durchaus auch zum Einstieg in die Philosophie Derridas lesen: Durch ihren sprachlichen Duktus sind sie kurzweilig und leicht nachvollziehbar, sie porträtieren Derrida und sein Denken stellenweise sogar anschaulicher als es so mancher wissenschaftlichen Einführung in sein Werk gelingen mag. Aus der Fülle der Literatur zu Derrida hebt sich dieser Gesprächsband zudem dadurch heraus, dass erkennbar wird, dass es sich bei der "Dekonstruktion" nicht um eine realitätsferne Begriffsarbeit handelt, sondern um eine nach wie vor bedeutsame Form des Philosophierens, die ihr Potential gerade angesichts derzeit dringlicher Gegenwartsfragen offenbart. Auch in diesem Sinne bringt der von Victor Hugo entlehnte Titel "Woraus wird Morgen gemacht sein?" den Zukunftsbezug der Dialoge passend zum Ausdruck.


Titelbild

Jacques Derrida / Elisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
383 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3608940634

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch