Waibel ist nicht Lum
Wie wir in Ambros Waibels "Leben Lums" erfahren, warum Lum tot ist und Ambros Waibel trotz seines Schriftstellerdaseins weiterlebt
Von Jule D. Körber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Schriftstellerleben kann ziemlich ätzend sein. Das weiß Ambros Waibel, Autor des Erzählbands "Leben Lums", ganz genau, und auch seine literarische Figur Lum wird dies ziemlich schnell rauskriegen. Lum macht die klassische, märchenhafte Schriftstellerkarriere durch. Zuerst hört er nicht auf seinen Vater, der ihm sagt:
"Wenn Du wirklich ein Künstler sein willst, [...] dann musst Du berühmt werden. Ein Künstler, der nicht berühmt ist, hat keinen Beruf, er ist einfach arm [...]. Ergreifen kannst Du diesen Beruf nur dort, wo man [...] berühmt wird - in der Metropole. Bei uns heißt die wieder Berlin. Also geh' und mach Dich!"
Lum geht aber nicht nach Berlin, sondern "nach M., einer kleinen Stadt an einem trägen Fluss." Dort schnorrt er sich eine Zeit lang durch und kritzelt ein paar Kladden voll, bis er sich einen Job im Abstieg besorgt, der angenehm versifften Kleinstadtkneipe mit halbeliterärem Publikum aus M. Da versäuft und vervögelt er fünf Jahre, wacht ein paar Mal in der eigenen Kotze auf und fängt an, Geld aus der Kneipenkasse zu hinterziehen, bis sein Chef ihn rausschmeißt. Dann lässt er sich in die Psychiatrische Uniklinik einweisen, verdingt sich dort als Putzmann, bis er dann letztendlich doch nach Berlin aufbricht, um beim Film und in der Werbung zu jobben, seinen Roman fertig zu schreiben und auf einer Lesebühne von einem Lektor entdeckt zu werden. Dann fährt er noch zur Frankfurter Buchmesse, macht eine Lesereise durch die Provinz, schläft mit ein paar Buchhändlerinnen und Lokalzeitungspraktikantinnen und diskutiert auf einigen Podien mit. So einfach kann das sein. Oder doch nicht? Denn Lums Ruhm ist flüchtig und so versiegt alles nach einem Jahr auch schon wieder. Lum öffnet eine Flasche Lidl-Korn und ruft seinen Vater an: "Genau das ist's ja, was ich dachte: Berühmtsein bringt's nicht! Das ist ja auch alles gleich wieder vorbei! Und die Leute sind noch ekliger als die Suffkis im Abstieg oder in der Klapse! Aber da konnte ich mir wenigstens noch Hoffnungen machen, irgendwo anders sei es besser! Und ich Idiot habe auf Dich gehört! Ich hab' die Schnauze voll! Ich will sterben!" Und sein Vater antwortet ihm: "Lum, meinst Du wirklich, dass Du mit Recht so zornig bist?"
Nach einer weiteren Frau und einer Kindeszeugung in der Uckermark beschließt Lum schließlich, dass Schriftstellerdasein aufzugeben und reich zu werden wie sein Vater.
Ambros Waibel hat nicht aufgegeben. Auch er hat als Putzmann in der Psychiatrie gearbeitet und ist irgendwann nach Berlin gegangen. Auch er ist nicht reich geworden mit dem Literatendasein. Mit wie vielen Lokalzeitungspraktikantinnen er geschlafen hat, war nicht in Erfahrung zu bringen. Und auch nicht, was sein Vater über all das denkt. Aber während Lum reich werden wird, schreibt Ambros Waibel in "alternativen" Frauen Online-Magazinen offene Briefe über seine finanzielle Abhängigkeit von seiner Frau. Wer jetzt denkt, da hat es Lum doch besser getroffen, liegt falsch. Lum wird nicht überleben.
Zunächst einmal aber wird Lum "New". Lum wird ein Stratege in der New Economy - oder etwas Ähnliches, das wissen seine besten Freunde Toy und Kef auch nicht so genau, die über den New Lum und sein so schmerzhaftes Ende berichten. Das einzige, was Toy und Kef über Lum wissen, ist, "dass er zwei Konten besitzt, ein Privat- und ein Geschäftskonto, und dass ein Großteil seiner Tätigkeit darin besteht, eingehende Gelder via Online-Banking zwischen diesen beiden Konten hin- und herzuschieben. Woher diese Gelder stammen; in welcher Branche Lum tätig; wann genau er arbeitet - wir haben keine Ahnung."
Bei einem gemeinsamen Abendessen eskaliert die Situation zwischen dem reichen Lum, dem Kleindarsteller Toy und dem arbeitslosen Theaterregisseur Kef, nachdem Lum Kef die letzte Flasche Rotwein entreißt: "Meine lieben Freunde, ich finde, ihr seid ziemlich verblendet und verstockt. [...] Alles, was wir hier heute Abend konsumieren [...], habe ich bezahlt -.... Würde ich nicht der Tätigkeit nachgehen, der ich nachgehe [...], dann wäre unsere Gemeinschaft schon lange zerbrochen. Denn auch wenn wir uns lieben, würde die Liebe wohl nicht reichen, um mit einer neunundneunzig Cent Bierdose zwischen dem White Trash und dem Kaiser's abzuhängen [...]."
Daraufhin schlägt Kef Lum mit einer leeren Weinflasche nieder und hackt ihn mit einem Korkenzieher blutig, wobei Toy mitmacht, und dann werfen sie ihn in eine der letzten Baugruben des Berliner Kiezes.
So etwas kommt in "Leben Lums" immer ganz plötzlich und wird in einem lapidaren Ton mit ganz wenigen Sätzen erzählt, als wenn all das alltäglich wäre. So liest sich der erste Teil des Erzählbands wie ein Berliner Märchen auf Speed, ganz knapp noch auf der Seite des noch nicht Surrealen.
Auch, dass Lum nach dieser Szene noch nicht tot ist, sondern dass durch eine Schießerei in seinem Büro zwischen drei gut gekleideten, bulligen Typen, zwei schnauzbärtigen, graugesichtigen Männern und zwei Uniformträgern mit Maschinenpistolen rauskommt, dass Lum kriminell ist, wirkt wie eine Szene aus einem gutem Quentin Tarantino Film. Auch sein darauf folgender röchelnder Tod mit Schaum vorm Mund und dem mit all dem Geld verschwindenden Praktikanten liest sich wie ein abseitiger Pop-Filmhorror.
Dass es im zweiten und im dritten Teil des Erzählbands keinen Lum mehr gibt, findet man nur ganz am Anfang schade. Denn die Figuren des zweiten Teils namens "Liebe verdirbt den ganzen Brei" sind schon wieder herrlich schräg - und kommen einem doch irgendwie bekannt vor. Am besten werden die Geschichten auch hier, wenn man das Gefühl hat, der Autor nimmt Teile seiner eigenen Biografie und übertreibt sie ganz gewaltig. Wie bei der zweiten Geschichte des zweiten Teils, "Schauspielerleben", in der die Hauptfigur versucht, als Schauspieler in Marburg zu überleben. Wenn der erste Teil "Leben Lums" eher wie ein krudes Märchen erzählt wurde, hat man beim zweiten Teil das Gefühl, der Erzähler sitzt einem bei einem Glas Fuselwein am WG-Küchentisch höchstpersönlich gegenüber und erzählt Anekdoten aus seiner wilden Vergangenheit, die er durch steigenden Alkoholpegel immer weiter lallend ausstaffiert. Bei "Schauspielerleben" mag das daran liegen, dass Waibel auch als Schauspieler in Marburg gearbeitet hat.
Und auch die anderen Geschichten des zweiten Teils mit dem Titel "Liebe verdirbt den ganzen Brei" wirken so authentisch, als wenn der Autor zumindestens ähnliche Erfahrungen im Leben gemacht hätte.
Am autobiografischsten ist aber wohl der dritte Teil unter der Überschrift "Ein paar Schriftsteller". Okay, es wird im Leben des Autors wahrscheinlich nie eine Horde schwarzer Teufelsschlümpfe gegeben haben, die sich in seiner Wohnung paart, um ihm wie dem Protagonisten Joe aus der ersten Geschichte dieses Teils, "fist fucked up", zu mehr Geschlechtsverkehr zu verhelfen.
Aber die nächste Geschichte, in der ein Schriftstellerpärchen - sie durchaus erfolgreich und er durchaus nicht vorankommend - versucht, ihr gemeinsames Leben mit Kind in Berlin zu organisieren und trotzdem zu schreiben, liest sich schon als sehr nah an dem Leben, dass man sich bei einem jungen Berliner Autoren vorstellt. Der Anteil des Fiktiven bei der vorletzten Geschichte "Harry und die Munstermen", in der sich ein Autor sich auf eine katastrophal verlaufende Lesereise nach Münster begibt, tendiert wohl gegen Null. Und die großartige "Glosse Leipzig", der letzte Beitrag der Erzählsammlung, in der Waibel erklärt, warum er, obwohl er gekonnt hätte, nicht am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert hat, ist gar nicht erst als fiktiver Text angelegt.
Dieses Halbfiktive bekommt etwas wunderbar selbstironisch-reflektierendes auch dadurch, dass Waibel manchmal seine Poetologie erläutert, wie zum Beispiel im ersten Teil "Leben Lums": "Der einzige Totalitarismus, der diesen Namen verdient, ist das System der totalen Gleichgültigkeit, in dem wir uns entschieden haben, zu leben. Wer sagt denn das? Zu wem? Also Lum oder Kef oder der Nachbartisch, doch sollen wir jetzt wirklich eine neue Person einführen, gleich einen ganzen Tisch von neuen Personen? Schon wieder jemand mit einer eigenen Geschichte, bitte nicht, ok, können wir uns darauf verständigen, wir haben schon einen Toten, klar, kein Problem. Also sagt Kef das mal zu Lum [...]."
Gelungene Selbstironie ist eine große Kunst, die die allerwenigsten Schriftsteller beherrschen. Ambros Waibel ist darin ein Meister. Und selbst wenn das Schriftstellerleben für ihn hart ist, ist es gut, dass er nicht wie Lum aufgegeben hat. Und auch sonst nicht wie seine Figuren scheitert. Sondern weitermacht. Es lohnt sich, zwar nicht unbedingt für ihn - aber für seine Leser.
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