Kunst der Antithese

Dezsö Kosztolányis Aufzeichnungen zu Kornél Esti

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dezsö Kosztolányis wunderbare Prosastücke zu seiner Figur Kornél Esti sind im Original zunächst als "Esti Kornél meséi", also 'Die Geschichten des Kornél Esti', im Jahr 1933 erschienen. Der deutsche Übersetzungstitel "Ein Held seiner Zeit" ist im Ungarischen nicht indiziert. Die Textsammlung aus dem Nachlass indes, veröffentlicht 1936, trägt dem Original entsprechend den Titel "Die Abenteuer des Kornél Esti". Sie umfasst dreiundzwanzig Stücke aus den Jahren 1927 bis 1935; in einem der letzten lässt Kosztolányi seinen Schützling vorm Spiegel in einem Hotelzimmer tot umfallen.

Warum er den bis zu jener Zeit vorliegenden Teil der Episoden nicht in die Sammlung von 1933 aufgenommen hat, mag daran liegen, dass er sie womöglich noch nicht für ausgereift genug hielt. "Die Bekenntnisse" liegen als Roman vor, obgleich die Konzeption des Textes, seine Kapiteleinteilung, es nahelegt, eher von zum Romanesken geschichteten Novellen zu sprechen. Eine Chronologie durch Estis Lebensabschnitte befolgt Kosztolányi nur in den ersten drei Kapiteln, wo er seine Figur vorstellt und ihn über seine Schulzeit berichten lässt. Der namenlose Erzähler hat mit Esti eine Abmachung getroffen, dass sie zusammen ein Buch erarbeiten, in dem Estis 'Bekenntnisse' und 'Abenteuer', von ihm selbst in fragmentarischer Form erzählt, "wie es eines Dichters würdig ist", festgehalten werden sollen. Im Verhältnis zum Schreiber der Texte zeichnet Esti sich als ein Double ab, die andere Hälfte von dessen Selbst, der Seelenverwandte und Gegenläufer in einem. "Seit ich denken kann, war er mir nahe. Immer vor mir oder hinter mir, neben mir oder gegen mich. Gleichgültig war er mir nie." Und doch: "Es gab auf diesem Erdenrund keine zwei verschiedeneren Menschen als mich und Kornél."

Estis Geschichten kreisen um Budapest und seine nervenschwachen Journalisten, verarmte, erfolglose Schriftsteller, um kranke Kinder, ums Schwadronieren und Räsonnieren in verqualmten Kaffeehäusern. Etliche von ihnen tragen sich zu im Ausland, in Frankreich, Deutschland, Italien, in Hotels, Restaurants oder unterwegs im Zug, auf Reisen. Die meisten der Geschichten mögen nach dem ersten Lesen als komisch, geradezu burlesk erscheinen, ihr Protagonist zuweilen als etwas derb und verschlagen. Andere, wie die vom überfahrenen Hut auf der Straße oder der eingeschlossenen Wimper auf dem Zifferblatt der Taschenuhr, mögen manch einem kindlich naiv vorkommen, mitunter belanglos im Getriebe des Alltäglichen. Zur selben Zeit hält Robert Walser seine Reden an einen Ofen und an einen Knopf. Wieder andere, die vom Präsidenten, der immer dann einschläft, wenn der Vortrag beginnt, oder die vom sprachlosen Gespräch mit dem bulgarischen Schaffner, funkeln wie philosophische Bravourstücke über Sinn und Nutzen einer Verkehrung der Welt. Man mag darin die Possenhaftigkeit einer fortgeschrittenen Eulenspiegelei sehen, doch Estis Denken und Handeln reflektiert eine Haltung, die als unberechenbar, prinzipienlos einzustufen ist, ohne dass daraus gefolgert werden könnte, Esti sei ein Amoralist.

In jeder Erzählung, die Kosztolányi von ihm zum Besten gibt, entwirft er sich neu. Ob das, was er erzählt, wahr oder glaubwürdig ist, steht nicht zur Debatte, denn "in letzter Zeit besteht meine einzige Unterhaltung darin, mir selbst zuzuhören." Jeder der Texte steckt, mal mehr, mal weniger, ein Experimentierfeld ab für das Unmögliche und Unwahrscheinliche. Im Kaffehaus geben der junge Esti und seine Kumpane zuweilen jemandem grundlos eine Ohrfeige, "einfach, um die dann sofort entstehende dramatische Situation zu genießen und gewissermaßen mit ihr zu experimentieren." Schreiben heißt spielen - auch und gerade dann, wenn alles schon verspielt ist. In einer anderen Geschichte um die jungen Leute heißt es folgerichtig: "Die Wörter spielen mit ihnen, und so spielen auch sie. Oder, da ja die Arbeit des Schriftstellers wesentlich ein Spiel ist, sie 'arbeiten'." Als erzählenswert erachtet Esti nicht das fantasielose, formlose Geschwätz, das schmucklos nüchterne Lamentieren über Gott, die Welt und die persönliche jämmerliche Situation. Entscheidend ist nicht die Lage selbst, in der sich jemand befindet, sondern die Art, wie er darüber spricht. Als Elinger, der ihm das Leben gerettet hat, von seinem eigenen Leben erzählt, denkt Esti bei sich: "uninteressant und ohne Inhalt. Nur das ist interessant und hat Inhalt, was eine Form besitzt." Eben weil Elinger in seiner Sprache nicht lebt, weil in ihm die Sprache nicht lebt, stößt Esti ihn in die Donau, aus der jener ihn damals herausgefischt hatte. "Nur über das Unmögliche nachzudenken", bekennt Esti, "hat einen Wert." Und an anderer Stelle: "Nur das Unwahrscheinliche ist wirklich wahrscheinlich, nur das Unglaubwürdige ist wirklich glaubwürdig." Oder es heißt, abermals über die jungen Leute im Kaffeehaus: "Nein, sie waren mit der Schöpfung nicht zufrieden." Mit dem, was ist, nicht zufrieden zu sein, ruft das Spiel auf den Plan, fordert das Experiment heraus, stachelt zum Widerspruch an.

Kornél Estis Einstellung zur wirklichen Welt ist die der Antithese. Er hebt ihr Ordnungsgefüge aus den Angeln da, wo es als selbstverständlich und unverbrüchlich gilt. Esti ist ein Verfechter des Möglichkeitssinns und darin Ulrich verwandt, dem Mann ohne Eigenschaften Musils. Auch darin, dass er den Möglichkeitsgehalt des Worts gegenüber der Tat wertschätzt, rückt ihn in die Nähe Ulrichs. "Das gute Wort, das noch nicht realisiert ist", stellt Esti fest, "schließt sämtliche jungfräulichen Möglichkeiten ein und ist mehr als die gute Tat, deren Ausgang zweifelhaft, deren Wirkung fragwürdig ist. Überhaupt ist das Wort mehr als die Tat." In der Antithese ist eine Tabuverletzung am Werk, ganz gleich, ob das, was Esti erzählt, tatsächlich passiert ist oder nicht. Sie ist dazu angetan, zur Paradoxie hin überschritten zu werden. Die konzise Form dieser paradoxalen Überschreitung bekundet Esti in dem Satz: "Die Ordnung, die du um dich herum siehst, ist eigentlich Unordnung, und die Unordnung ist die wirkliche Ordnung." Es ist die Spalte zwischen Wahrheit und Lüge, aus der die Textblüten ranken. Ausführlicher lässt sich Esti über die Ordnungsverhältnisse in dem schon erwähnten Kapitel über den schlafenden Präsidenten aus. "Bisher ist auf Erden alle Unordnung daraus entstanden, daß einzelne Ordnung machen wollten, und aller Dreck kommt daher, daß einzelne da und dort mit dem Besen kehren. [...] Der wahre Fluch auf dieser Welt ist die Organisiererei, das wahre Glück hingegen ist das Unorganisierte, der Zufall, die plötzliche Laune." Von der Organisationsmanie bleibt die Literatur selbst nicht verschont, "vom Zunftsystem, von der Kumpelei, von der Hauskritik, die über den Hausidioten 'ein paar nette Zeilen schreibt'." Das nur mehr unterhaltende, zuweilen auf ein Potpourri geistiger Zirkusnummern herabgekommene Gebaren so genannter literarischer Quartette oder Duette des Fernsehzeitalters dürfte Esti kaum in Staunen versetzt haben. Die Häme, die Kosztolányis Figur für die sie umgebende Allgemeinheit übrig hat, weist auch die folgende Paradoxie aus: "In Budapest denkt man von jedem, der ein bißchen Geld hat, er sei ein Depp. Wenn er schon Geld hat, wozu braucht er dann Grips, Gefühl, Phantasie? Auf die Art bestraft man ihn. Diese Stadt ist zu intelligent. Und gerade deshalb zu stupid." Der Einfall der Sprache ins Getriebe der Konversationen hat keinen anderen Sinn als den, sich selbst in Gang zu halten, nicht still zu stehen. Die Episode mit dem bulgarischen Schaffner, dem Esti über die ködernde Frage in dessen Landessprache, ob er denn rauche, einen ganzen Schwall selbstbezüglicher Rede abnötigt, von der er kein Wort versteht, ist ein Affront wider jegliches Bemühen hermeneutischer Deutungsversuche. "Wenn ich auf die Konversation nicht achtgebe oder etwas nicht verstehe, sage ich zu Hause auch immer: Ja. Das hat mir noch nie die geringsten Schwierigkeiten eingetragen. Nicht einmal dann, wenn ich gutzuheißen scheine, was ich verwerfen sollte. Bei solchen Gelegenheiten kann man den anderen einreden, man habe es spöttisch gemeint. Das Ja ist meistens auch ein Nein." Estis Haltung zur realen Wirklichkeit gehorcht ein ironischer Impetus, der von der Liebe zum Hyperbolischen gezeichnet ist. Nicht um der Wahrheitsfindung willen verstellt er sich, auch ist ihm die Ironie keine Einheit stiftende Grundstimmung, die alles 'übersieht', wie Friedrich Schlegel seinerzeit notierte. Ironie zehrt von der sinnlos gefälligen Selbstbezüglichkeit der kommunikativen Verlautbarungen; sie versucht, über die Transformation ins geschriebene Wort der Sprachkunst zu ihrem Recht zu verhelfen, ein Korrektiv zu sein der elenden Praxis des geschäfts- und erfolgsgierigen Alltagslebens.

Ein Wort noch zu Kornél Estis Blick auf die Deutschen. Er hält sie für "instinktiv menschlich". Er achtet dieses Volk; krank sein und sterben würde er gern unter den Deutschen, leben möchte er lieber anderswo. Ein Senfgefäß, das er auf manchen Tischen gewahr wird, gerät ihm zum Inbegriff deutscher Merkwürdigkeiten. "Dieser Senfbehälter stellt ein winziges, aus weißem Porzellan bestehendes Klosett mit Wasserspülung dar, mit einem herunterklappbaren braunen Deckel, alles täuschend echt, nur die Aufschrift verrät, daß es sich um Senf handelt." Die Einheimischen finden dieses Schüsselchen, das man übrigens auch heute noch vereinzelt als Scherzartikel käuflich erwerben kann, lustig. Das Schlüpfrige, Unzüchtige daran kommt Esti "nicht geheuer" vor, und er fügt hinzu: "Gerade die Unbefangenheit verblüffte mich, das Kichernd-Gemütliche an der Teufelei." Das Kichernd-Gemütliche an der Teufelei wird die Deutschen wenig später einholen, wenn Gewalt und Vernichtung sich ihre Bahn brechen.


Titelbild

Dezsö Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit. Die Bekenntnisse des Kornél Esti. Roman.
Mit einem Nachwort von Péter Esterházy.
Übersetzt aus dem von Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
303 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3499241110

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Titelbild

Dezsö Kosztolányi: Die Abenteuer des Kornél Esti.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006.
189 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3871345393

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