Jaroslav feiert den Frühling
Eduard Schreiber und der Altmeister der tschechischen Literatur Ludvík Kundera legen eine neue Anthologie zur tschechischen Literatur vor
Von Volker Strebel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEnde der 1820er Jahre hatten die Entdeckungen der so genannten "Königinhofer"- und "Grünberger"-Handschriften einen gewaltigen Wirbel in der böhmischen Öffentlichkeit ausgelöst - zumal sie, nicht zuletzt vom späteren Gründer und Präsidenten der ersten tschechoslowakischen Republik, Tomás G. Masaryk, als Fälschungen ausgemacht worden waren. Der Verfasser dieser vorgeblichen mittelalterlichen Dichtung, Václav Hanka, hatte sein Tun indessen als patriotische Pflicht empfunden. Er wollte einem verlöschenden Nationalbewusstsein gegensteuern und an fehlendes Traditionsverständnis appellieren.
Die vorliegende Sammlung belegt indes den ungeheueren Reichtum, aber auch die uralte Tradition der tschechischen Dichtung. Hankas Handeln war somit eigentlich überflüssig. Da seine Fälschungen aber über die Maßen gut gelungen waren, gehören sie paradoxerweise zu den meistübersetzten Gedichten der tschechischen Romantik. Auch die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe haben sich dafür entschieden, einige Verse in ihre Sammlung aufzunehmen.
Ludvík Kundera und Eduard Schreiben bilden ein eingespieltes Team. Beide haben gewaltige Übersetzungs- und Übertragungsleistungen zwischen tschechischer und deutscher Literatur vorzuweisen. Gemeinsam haben sie der bislang einzig originären Stilrichtung der tschechischen Poesie, dem Poetismus der 1920er Jahre, ein eigenes Bändchen gewidmet. Kundera und Schreiber zeichnen auch für die Einführung in den vorliegenden Band, der tschechische Lyrik aus elf Jahrhunderten berücksichtigt.
Sammlungen der tschechischen Lyrik gab Ludvík Kundera unter schwierigsten Bedingungen bereits zu Zeiten des "real existierenden Sozialismus" heraus. Zusammen mit Franz Fühmann war 1966 in Ostberlin "Die Glasträne" erschienen. In den Jahren des "realen Sozialismus" schränkte "Die Sonnenuhr" ihren Blick auf tschechische Dichtung bewusst ein, um parteioffiziöse Texte von vornherein ausschließen zu können; erst nach der Wende stellte eine nunmehr unzensierte Ausgabe die konkurrenzlos kundigste Zusammenstellung dar. Im Anmerkungsapparat der vorliegenden Sammlung soll allerdings eine Unsitte aus den Zeiten der DDR-Produktionen nicht unerwähnt bleiben: der Zusatz "vuZ" - "vor unserer Zeitrechnung", der die christliche Zeitrechnung ersetzen soll. Auch wenn gerade Böhmen als ein europäischer Landstrich mit einer verwurzelten atheistischen Haltung gilt, belegt doch der Blick auf die Jahrhunderte der tschechischen Dichtung eine genuin christliche Prägung.
Die tschechische Literatur wurde von verschiedensten historischen Vorgängen bedrängt und bildet dennoch kein bloßes Abbild dieser Zeiten. Das Gefühl einer dauernden Bedrohung bleibt aber als Vermächtnis, und die besten Vertreter der tschechischen Literatur vermochten diese Tradition zu überhöhen. Hinzu kam die trotzige Tradition hussitischer Hoffnung: "Pravda vítezí" - "Die Wahrheit siegt".
Deutlich wird in der tschechischen Literatur das wirkliche Leben wahrgenommen und geachtet, was zu einer eigenartigen Mischung von Humor und Leichtigkeit auf der einen Seite, aber auch zu einem tiefen Verständnis von schicksalshafter Tragik führt. In den meisten Texten überwiegt jedoch eine spezifsche Melange augenzwinkernder Schalkhaftigkeit und erfrischender Vitalität. "Wir jaroslavten, um es mit dem Namen des Dichters zu sagen", beschrieb einst der mährische Dichter Jan Skácel einen Frühjahrsbesuch bei Jaroslav Seifert, dem einzigen tschechischen Nobelpreisträger, und weist damit auf die enge Verbundenheit von Sprache und Ausdruck im Tschechischen hin. "Jaro" steht für Frühling und "slavit" für feiern. Heiterkeit und Frische bestimmen die tschechische Literatur insofern, als die Finsternis der Wirklichkeit mit ihren realen Bedrohungen niemals richtig ausgeblendet werden. Umso authentischer wirkt das Menschliche in den besten Werken nach.
Exemplarisch findet sich diese Spannung im Titelgedicht "Süß ist's zu leben" von Otakar Theer (1880-1917), welches einem anonymen, soeben Verstorbenen gedenkt: "Der Rasen, unlängst noch verschneit, dehnt sich glücklich / so ganz nah an ihn, für den es keine Farben mehr gibt. / Am Dach - Delphine des Luftozeans - spielen Wölkchen, / so ganz nah an ihm, der mit der Hand nicht mehr winkt".
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