Die Brechtforschung fängt von vorne an

Der Brecht-Band von Text+Kritik macht den Anfang

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich muss gestehen, ich bin ein Fan von Jan Knopf (und das, obwohl man kein "Fan" von Wissenschaftlern sein kann, geht gar nicht, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme). Der Mann ist vernünftig, schreibt einen schönen sachlichen Stil, ist um Ausgleich bemüht, argumentiert sauber, interessiert sich für interessante Themen, hat eine Menge hilfreicher und lesenswerter Bücher geschrieben und herausgegeben, das meiste zu Brecht, zugegeben.

Knopf ist heute, wenn man so will, das Zentralgestirn der Brecht-Forschung. Er leuchtet auf uns allesamt herab und schüttet sein Füllhorn über uns aus, mit seinem Forschungsbericht aus dem Jahr 1974, den beiden Brecht-Handbüchern, der Brecht-Edition (an dem auch andere beteiligt sind, ich bitte die Kollegen um Nachsicht, dass ich sie so sträflich vernachlässige) und den vielen Brecht-Büchern. Dafür schulden wir ihm alle Dank - und diesem Dank sei hier Ausdruck gegeben.

Denn es gibt überhaupt keinen Zweifel: Keine Brecht-Studie, die ohne die Brecht-Handbücher oder die Berliner und Frankfurter Ausgabe auskäme. Spätestens jetzt, nachdem im Frühjahr die Sonderausgabe der Brecht-Edition auf den Markt geworfen wurde, ist der Paradigmenwechsel bei Brecht nicht mehr aufhaltbar. Denn jeder einzelne Blick in die neue Ausgabe (die ja auch schon 1988 begonnen und 1998 abgeschlossen wurde) zeigt einen völlig anderen Brecht als den, den wir gewohnt sind. Das ist irritierend, und Knopf berichtet ausführlich von den Irritationen, die das bei einigen Rezensenten ausgelöst hat. Das ist aber auch Anlass zu großer Erleichterung, denn vieles von dem, was bisher als Brecht zu gelten hatte, klang dermaßen nicht nach Brecht, dass man sich gelegentlich fragen musste, welcher Gehirnwäsche sich dieser respektlose und eigensinnige Autor hat unterziehen lassen, um so etwas zu schreiben.

Das bezieht sich vor allem auf jene späten Schriften, die von Elisabeth Hauptmann und anderen redigiert worden sind und in denen Brecht auf DDR-Linie gebracht wurde. Die "Katzgraben-Notate" sind ein solcher Fall, aber auch das "Buch der Wendungen" stellt sich in der neuen Fassung ganz anders da als in der wohl am weitesten verbreiteten Ausgabe der Brecht-Werke, die 1967 bei Suhrkamp erschien und eine Auflage von über 140.000 Exemplaren erreichte. Auch die Texte, die angeblich zum "Lesebuch für Städtebewohner" gehören, wechseln zwischen den Ausgaben.

Man wird sich also umstellen müssen. Neue Texte sind in der Berliner und Frankfurter Ausgabe hinzugekommen. Einige hingegen sind nur noch über den im Jahr 2000 erschienenen Registerband auffindbar, weil sie in der bekannten Fassung Brecht gar nicht zugeschrieben werden können (zum Beispiel Brechts Gedicht über Gottfried Benn). Dass im Übrigen der Registerband aus der Sonderausgabe ausgekoppelt worden ist, war keine freundliche Entscheidung des Verlags. Denn erst mit ihm wird das Netz, das das Werk Brechts bildet, erschließbar (obwohl auch hier die Arbeit noch nicht zu Ende ist, wie das Beispiel der Verhaftung Helene Weigels im Februar 1933 zeigt und die Wellen, die das im Werk Brechts schlägt).

Knopf nun plädiert in der Neubearbeitung des Text+Kritik Bands Brecht I, der 1972 erstmals erschienen war, für eine völlige Neuorientierung der Brecht-Forschung. Und das zum Teil gegen Brecht selbst, der seine Editoren auf eine Ausgabe der letzten Hand verpflichtet hat. Dem widersprechen Knopf und Kolleginnen/Kollegen auch nicht. Stattdessen bieten sie in der Ausgabe die verschiedenen historischen Fassungen, die der Brecht-Forschung ein historisch präziseres Arbeiten erlaubt. Spätere Zusätze oder Modifikationen werden mit einem Mal erkennbar. "Baal", "Hauspostille", "Trommeln in der Nacht" - gerade das Frühwerk Brechts ist erst jetzt wieder in seinen frühen, historischen Fassungen greifbar. Folgt man also Knopf, dessen Beitrag den Text+Kritik-Band eröffnet, dann liegt uns seit einigen Jahren ein völlig anderer Brecht vor als der, den wir kennen. Wer sich die Mühe macht, mit der alten und neuen Ausgabe parallel zu arbeiten, wird das bestätigen können. Fazit Knopfs also: "Mit der Rezeption von Brechts Werk ist noch einmal von vorn zu beginnen." Das ist wahr gesprochen. Dann mal ans Werk.

Und ans Werk haben sich in diesem Fall vor allem die älteren Kollegen gemacht. Nimmt man zwei junge Kolleginnen aus, die Knopf bei der Auswahl-Bibliografie unterstützt haben, dann liegt das Durchschnittsalter der Beiträger bei gut 60 Jahren, streicht man noch die beiden "Nachwuchskräfte" Jürgen Hillesheim und Edmund Wizisla, die unseriöserweise unter 50 Jahre alt sind, dann nähert sich diese Durchschnittszahl rasant der Pensionsgrenze. Sogar Beiträge von zwei verstorbenen Kollegen, Lothar Baier und Karsten Witte, sind in den Band aufgenommen worden.

Es scheint also, als ob hier eine Generation, die sich nach und nach aus dem Hochschulleben verabschiedet (zum Glück nicht aus der Öffentlichkeit), ihren Nachfolgern noch ein paar Aufgaben mit auf den Weg geben wollte, zum Teil aber auch alte Positionen zu korrigieren versucht. Denn nach dem Ende der Ideologiekritik und dem Ausbruch der großen Beliebigkeit hat auch die sozialistische Ikone, der man den Namen "Brecht" gegeben hat, ihren Abschied genommen.

Das zeigt sich in einigen der Beiträge. Sowieso bei Knopf, aber auch etwa in Lothar Baiers hinterlassener Neuorientierung in der so genannten Brecht-Lukács-Debatte. Baier geht hier nicht nur auf gebotene Distanz zu den literaturpolitischen Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre. Er setzt auch die beiden vermeintlichen Kombattanten in ihr Recht und macht dabei noch nebenbei deutlich, weshalb man Baiers Beiträge künftig missen wird. Wizisla macht das, was Archivleiter am besten können, sind sie doch meist die besten Kenner ihres Materials: Er gräbt einige neue Dokumente aus, die das Verhältnis Brecht-Benjamin betreffen, und stellt sie in den ihnen angemessenen Zusammenhang. Für alles weitere in Sachen Brecht-Benjamin muss man dann auf Wizislas als Buch erschienene einschlägige Studie zurückgreifen.

Sein Augsburger Kollege Hillesheim vergleicht die Kriegsbeiträge des sechzehnjährigen Brecht, die 1914 in Augsburger Zeitungen erschienen sind, mit denen Ludwig Ganghofers und setzt Brechts ironisches Spiel gegen Ganghofers ernsthaften Chauvinismus ab. Klaus-Detlef Müller wendet sich dem "Messingkauf" zu und diskutiert Brechts Rückwendung zur Kunst als gesellschaftlichem Instrument. Während der Beitrag Karsten Wittes, von dem leider nicht mitgeteilt wird, von wan er stammt, einen lesenswerten Überblick über Brechts Film-Engagement gibt, referiert Klaus-Dieter Krabiel den Stand der Lehrstück-Diskussion (in der er freilich Partei ist). Dass er das Lehrstück insbesondere als kooperatives Produkt Brechts mit den beteiligten Komponisten versteht, ist dabei zu begrüßen. Lucchesi weiß das am Beispiel der Zusammenarbeit Brechts mit Eisler zu vertiefen. Lindner fokussiert auf die Bedeutung des Gestischen in Brechts Medienzugriff, Peter Badura legt eine Interpretation des "Kreidekreis" vor. Eine tabellarische Brecht-Chronik, eine Chronologie der Brecht-Erstdrucke - beides von Klaus Völker - und eine systematisch und chronologisch angeordnete Auswahlbibliografie der Brecht-Forschung, die von Jan Knopf, Katrin Vogt und Claudia Kaltofen stammt, schließen den Band ab.

Dass Völker für seine Chronik nur auf seine eigene, schmale Brecht-Chronik verweist, die 1997 als dtv-Taschenbuch neu aufgelegt worden ist, und die Brecht-Chronik Werner Hechts aus dem Jahr 1998 unterschlägt, sei hiermit bekrittelt. Als erste Orientierung taugt Völkers Brecht-Chronik aber unabhängig davon. Hilfreich auch die beiden Bibliografien. Insgesamt liegt hier also ein erfreulicher Sonderband vor, an dem man sich mächtig abarbeiten darf, vor allem an dem Auftrag Jan Knopfs: Neu beginnen. Dass das in Teilen schon geschehen ist, muss hier nicht weiter diskutiert werden, spricht auch nicht gegen den Band. Spannend bleibt es dennoch in Sachen Brecht, und das noch eine ganze Weile. Von wegen Klassiker, über den die Zeit hinweg gegangen ist.


Titelbild

Heinz Ludwig Arnold / Jan Knopf (Hg.): Bertolt Brecht.
edition text & kritik, München 2006.
172 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3883778206

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