Play that funky music, Whiteboy!

Jonathan Lethem erzählt die Geschichte einer Kindheit in "Die Festung der Einsamkeit"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang des Romans ist Dylan Ebdus sechs Jahre alt, weiß, ängstlich und mit den Eltern gerade in das Schwarzenviertel Gowanus in Brooklyn gezogen. Es sind die 70er-Jahre, die Zeit der Hippies und Aussteiger - und auch Dylans Eltern haben eine ganz eigene Lebensplanung. Dylans Vater hat sich von der realistischen Malerei abgewandt und in die obere Etage des kleinen Häuschens in Gowanus zurückgezogen, um dort - geschützt vor der Welt und seiner Familie entfremdet - abstrakte Formen auf Zelluloid zu pinseln. Einzelne Bilder, aus denen irgendwann einmal ein Film entstehen soll: Ein niemals abgeschlossenes, niemals abschließbares Unternehmen. Währenddessen kümmert sich Dylans Mutter um den kleinen Jungen. Was für sie vor allem bedeutet, ihn abzuhärten. Sie schickt ihn auf die Straße, er soll spielen mit dem Rest der Kinder dort, soll beweisen, dass Integration auch umgekehrt funktionieren kann. Selbst in Brooklyn aufgewachsen, gibt Rachel Dylan nur einen einzigen Rat mit auf den Weg: "Lauf davon, wenn du dich nicht wehren kannst, lauf und schrei Feuer oder Vergewaltigung, sei wilder als die Angreifer, trag Flammen im Haar, das rate ich dir."

Flammen im Haar zu tragen, gelingt dem Jungen jedoch nie. Dylan wird ständig ausgeraubt, in den Schwitzkasten genommen, verprügelt. Er versteckt sein Geld im Gürtel und trägt in den Hosentaschen Kleingeld, das er sich abnehmen lässt. Darüber hinaus nerven ihn die Jugendlichen mit dem Song von Wild Cherry, der Dylan für immer verfolgen wird: "Yes they were dancing, and singing, and movin' to the groovin', and just when it hit me, somebody turned around and shouted: Play that funky music, Whiteboy!" Eine Erinnerung daran, dass er immer der Whiteboy sein wird, der zu der Musik der anderen tanzt, sie jedoch nie wird authentisch erleben können.

"Es war durchaus möglich", meint Dylan, "dass ein einziger Song dein Leben zerstören konnte. Ja, der musikalische Fluch konnte ein einsames menschliches Wesen treffen und wie ein Insekt zerstampfen. Dieser Song war von irgendwoher geschickt worden, um dich aufzuspüren und den Schorf deiner ganzen Existenz aufzukratzen." Immer wieder wird dem Whiteboy klar gemacht, dass er nicht sein kann, was er sich wünscht, dass er nie anerkannt, nie gänzlich aufgenommen werden wird.

Erst als er den gleichaltrigen schwarzen Mingus Rude kennen lernt, ändert sich sein Leben. Plötzlich hat Dylan die Möglichkeit, wenn nicht akzeptiert, so doch als Mingus' Freund geduldet zu werden. Mingus' und Dylans Freundschaft hält eine ganze Kindheit lang. Die beiden lesen zusammen Comics, hinterlassen Graffiti-Tags auf allen erreichbaren Wänden, hören Musik, gehen ins Kino - und zwischendurch spielen sie in den Straßen von Gowanus merkwürdige Spiele, die Dylan selten durchschaut, die ihn jedoch faszinieren.

"Die Mädchen spielten des öfteren Fangen. [...] Es konnte dich treffen. Dylan stellte sich als Es immer wahnsinnig an, und manchmal hörte er sich selbst schreien. Es machte ihn ein wenig schreihälsig, er konnte nicht sagen, warum. Niemandem machte das etwas aus, jeder schreit mal, schien die Devise zu lauten. Spiele gingen auf mysteriöse Weise ineinander über, Gruppen fanden sich zusammen, aus einem Es wurden zwei, ein Junge jagte ein Mädchen bis zur Straßenecke und aus dem Spiel. Der Brennpunkt des Interesses verlagerte sich wie der Einfallwinkel des Lichtes. [...] Ganze Tage verliefen mysteriös, und dann ging die Sonne unter."

Schon in der liebevollen und kunstvoll kindlichen Beschreibung dieser sonnendurchfluteten Nachmittage auf dem heißen Asphalt der Großstadt spielt die Nostalgie mit hinein, die Dylan mit seinen Erinnerungen verbindet. "Meine Kindheit ist die einzige Zeit meines Lebens, die nicht von meiner Kindheit überschattet wurde", wird der Protagonist von Jonathan Lethems Roman gegen Ende des Textes feststellen, und man spürt seine Sehnsucht nach diesen nahezu perfekten Sommern, die scheinbar nie zu Ende gehen sollten.

"Die Festung der Einsamkeit" jedoch ist nicht nur die Geschichte einer Kindheit, sondern auch die Geschichte eines Erwachsenwerdens, das mit der Zerstörung von Illusionen einhergeht. Damit Dylan erwachsen werden kann, muss er seine Kindheit zurück-, muss er seine Freunde im Stich lassen - seine Suche nach Anerkennung spielt sich nun anderswo ab. Dylan empfindet seine Abkehr von Gowanus fast wie einen Verrat. Und er büßt diesen Verrat, indem er sich nirgendwo wieder zu Hause fühlt, indem er einzieht in die Festung der Einsamkeit und sich im Museum seiner Erinnerungen einnistet.

Lethems Roman ist ein wunderbares Dokument einer Suche nach Identität und dem letztendlichen Arrangement mit dem Noch-nicht-angekommen-, mit dem Noch-nicht-fertig-Sein. Der Autor entwirft gleich zwei Panoramen: Ein Bild der 70er-Jahre in Gowanus, licht- und luftdurchflutet, trotz aller Gewalt und aller Furcht. Hier ist alles möglich. Sogar, dass Dylan und Mingus sich, ausgestattet mit einem Ring, den Dylan einem Obdachlosen abgenommen hat, in die Lüfte erheben und als "Aeroman" versuchen, Ordnung in ihrem Viertel zu schaffen. Das zweite Bild ist kälter, kantiger - die 90er sind nicht Dylans Heimat, er flüchtet sich zurück zur Musik seiner Jugend, findet sich nicht zurecht zwischen all den Yuppies, die seine Vergangenheit weder teilen noch verstehen.

Dylan muss zurückkehren zu seinen Freunden, muss noch ein letztes Mal zum Aeroman werden, ein einziges Mal die Verantwortung für Mingus übernehmen - erwachsen werden. Erst als er mit seiner Kindheit abgeschlossen hat, kann Dylan beginnen, im Jetzt zu leben.

Am Ende des Romans wird er sich zumindest temporär mit seiner Existenz im Hier und Jetzt abfinden: "Damals waren wir in einem Zwischenraum, in einem weißen Kegel, Vater und Sohn, die mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit vorwärtskamen. Seite an Seite, nicht wirklich still, sondern stillhaltend, zwei Schlenker menschlichen Gekritzels, menschliche Chiffren, menschlicher Träume."


Titelbild

Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Zöllner.
Tropen Verlag, Köln 2004.
665 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3932170687
ISBN-13: 9783932170683

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