Einsame Wanderer auf der Suche nach sich selbst

Über Ralf Bönts Prosaband "Berliner Stille"

Von Annika SengerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Senger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Neun Geschichten von der Liebe in der Zeitenwende, erzählt mit scharfem Sinn und Lakonie", heißt es auf der Rückseite von Ralf Bönts Erzählband "Berliner Stille". Zwar beleuchtet der Autor die Liebe immer wieder in unterschiedlichen Facetten, doch ein anderes Thema ist von deutlich größerer Prägnanz: die Suche nach der eigenen Identität. Bönts Protagonisten wirken ungehalten und ungefestigt - sie reisen viel in der Welt herum, um ihr Dasein zu überdenken und neu zu gestalten.

Drei Städte, die der in Berlin lebende Autor und Ex-Physiker aus eigener Erfahrung kennt, dienen als Schauplatz oder als Ausgangspunkt für abenteuerliche Streifzüge durch die Welt: München, Berlin und New York. Vor allem New York betrachten die Figuren als Quelle der Selbstfindung und Selbstverwirklichung - beispielsweise der junge Wissenschaftler in "Dialogisch Manhattan". Faustisch vorwärts strebend verlässt er Berlin, um jenseits des "großen Teiches" seine Ziele zu verwirklichen. Als einsamer Wanderer zieht er durch die Straßen, lässt die Reize des "Big Apples" auf sich einwirken und erkennt schließlich, dass die Stadt auch Gefahren birgt.

Die Suche nach dem eigenen Ich ist (wie dieses Beispiel zeigt) in Bönts Erzählungen oft gepaart mit Naivität und Gutgläubigkeit. So hätte der 30-jährige Arzt Fieberg in Chile besser einen Reiseführer lesen sollen, um sich die Gefahren des Armenviertels von Valparaíso vom Leibe zu halten. Gleichzeitig zerbröckelt die Beziehung zu seiner Freundin Bette - und ist drei Jahre später Vergangenheit.

In Fieberg findet man trotz doppelter Lebenserfahrung immer noch Züge des 15-jährigen Ausreißers, der mit seiner Freundin heimlich nach Italien in den Urlaub fährt. Nach der ersten Alpenüberquerung ohne die Eltern fühlt er sich zwar frei, aber mit Komplikationen - und die bringt die südliche Hitze mit sich - hat er in seiner romantischen ersten Verliebtheit nicht gerechnet.

Mit subtilem Humor zeichnet der Autor die Wendungen im Leben seiner Protagonisten nach - obwohl deren Träume manchmal zerbrechen und der Lebensweg anders verläuft als geplant. Selbst der scheinbaren Normalität des Alltäglichen verleiht Bönt mit wacher Beobachtungsgabe und großem Detailreichtum noch eine spezielle Würze. Dass ein Physiker am Scheideweg seiner Karriere für einen Arbeitsaufenthalt mit dem Zug von Berlin nach Moskau reist, ist auf den ersten Blick keine spektakuläre Geschichte, auch wenn seine Kollegen eher das Flugzeug genommen hätten. Die Darstellung der Begegnungen und Beobachtungen während der Fahrt schafft dagegen eine Atmosphäre, die man als Leser beinahe selber sehen, riechen und schmecken kann. Es passiert in Bönts Prosa viel zwischen den Zeilen, was neben der eigentlichen Handlung Bilder hervorruft - Bilder, die man glaubt, auch aus eigener Erfahrung zu kennen.


Titelbild

Ralf Bönt: Berliner Stille. Erzählungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
155 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 383530030X

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