Maelstrom von Lügen

Ein Mailwechsel über Bret Easton Ellis‘ Roman „Lunar Park“

Von Alban Nikolai HerbstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alban Nikolai Herbst und Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.“
Goethe

17.05.2006 16:50
Lieber Herr Herbst,
Helmut Krausser schrieb in der ZEIT, der Held von Bret Easton Ellis‘ mittlerweile in fast allen großen Tageszeitungen besprochenem Roman „Lunar Park“ sei so „knackedoof“, dass er sich einfach nicht die Bohne für ihn interessieren könne. Ein Großteil des Buchs sei zudem schlicht langweilig, ja „gekünstelt, bieder, läppisch und falsch im Ton“. Auch Thomas Blum erinnert sich in der „Jungle World“ fast schon sehnsüchtig an Ellis‘ Frühwerk und fällt das enttäuschte Urteil über „Lunar Park“: „Was zunächst beginnt als mit reihenweise von ironischen Selbstzitaten durchsetztes, postmodernes Verwirrspiel, verkümmert zu einem plagiatsversessenen und traditionell erzählten Wirrwarr von Einzelteilen aus dem Horrorfundus.“
Mal im Ernst: Ist das Buch am Ende wirklich nur ein drittklassiger Stephen-King-Lookalike Schmöker? Und wie steht es mit dem Verwirrspiel zwischen Autobiografie und Fiktion, das Ellis hier weitertreibt? „Nach der Funktionsweise einer semipermeablen Membran durchdringen sich Realität, Fiktion, fiktionale Realität und reale Fiktion ständig. In der Fiktion ist alles wahr, und doch stimmt nichts wirklich, obwohl doch Sämtliches der Realität ähnelt. Keiner hat gesagt, dass moderne Literatur einfach ist“, räumt Blum in seiner Kritik ein, und Harald Fricke fragt in der „taz“ gleich ganz rundheraus: „Ellis, Ellis, who the fuck is Ellis?“
Sie selbst schrieben mir zu dem Roman bereits recht ungehalten im März: „Ich habe jetzt 100 Seiten gelesen und merke, dass Ellis ein geschickter, auch pfiffiger Autor ist, der spannend erzählen kann usw. – Aber: Dieses ganze Setting von Schickimicki, Popgemotze und Weltschmerzigkeiten bei Millioneneinkommen, dieses Gekokse, Geschniefe, Gevögel, die öden Parties, deren Kosten ganze Dörfer der so genannten Dritten Welt jahrelang die Existenz sichern könnten – all das, was seine eigene Sinnleere zwar bedauert und drunter leidet, aber eben halt doch wieder zur Grundschablone des Erzählens macht, kotzt mich einfach nur an. Ich empfinde ein solches ‚Leid‘ als ausgesprochen erheuchelt: ‚Ich will aus diesem Leben hinaus‘, versichert uns der negative Held selbst usw. – zugleich wird aber eben dieses Leben abermals zum Motor des Erzählten.“
Ich möchte das von Ihnen noch einmal genauer wissen. Haben Sie inzwischen weitergelesen? Ist es wirklich so schlimm? Kann man dem neuen Buch dieses mit „American Psycho“ (1991) so berühmt gewordenen Autors wirklich überhaupt gar nichts Gutes mehr abgewinnen?
Herzlich,
Jan Süselbeck

10.08.2006 11:15
Brett Easton Ellis. Any news is good news.
Würde das schlechte Buch als ein schlechtes nochmals besprochen,
wüchsen Ellis‘ beklagte Millionen noch an.
(Distichon 12).

10.08.2006 11:22
Lieber Herr Herbst,
viel über das Buch sagt der Satz nun nicht gerade aus. Bitte konkreter:
Was genau erbost Sie so an dem Text?
Herzlich,
Jan Süselbeck

10.08.2006 12:44
Es erbost mich nicht, lieber Herr Süselbeck, sondern es langweilt mich – langweilte mich über eine sehr lange Strecke. Nicht, dass dieser Autor nicht schreiben könnte, sein Handwerk hat er gelernt. Es ist vielmehr das ständige Jammern über seine Berühmtheit (er selbst macht sich ja – das ist das eigentlich Interessante an dem Buch, auch das mir nahe – zu seiner Hauptfigur), das Gejammer über den Reichtum, den er angehäuft hat aufgrund seiner Popularität, dieses ständige self-fishing einer verlogenen Selbstkritik, die sich um so mehr feiert, als sie zu leiden vorgibt – an Inhalts- und Lebensleere usw. Hätte man all das hinausgestrichen, wäre ein annehmbares Buch des Mystery-Genres dabei herausgekommen, spannende Unterhaltungsliteratur, gegen die als solche nichts einzuwenden ist. Die auch gerne ihr Geld verdienen darf. Aber sich dann doch bittschön nicht drüber beschweren soll.
Ihr
ANH

10.08.2006 14:10
Lieber Herr Herbst,
Sie schreiben, Ellis sei Ihnen zumindest in einem Punkt nahe, nämlich in der poetologischen Entscheidung, sich selbst in seinen Büchern zu seiner Hauptfigur zu machen.
Ist dies – erstens – so überhaupt richtig? Sprechen nicht die vielen Ironisierungen und nicht zuletzt die skurrilen Anleihen im plattesten Horrorgenre, die Ellis in seinem Roman macht, dann doch eher dagegen? Als Literaturwissenschaftler halte ich Erzähler und Autor erfahrungsgemäß besser immer auseinander, und man sollte diese Sphären glaube ich auch im Falle Ellis tunlichst sauber trennen. Um nur ein typisches, erläuterndes Beispiel aus der modernen deutschsprachigen Literatur zu nennen: Arno Schmidt etwa schreibt in seinem wunderbaren Text „Goethe und Einer seiner Bewunderer“ (1956) aus der Perspektive eines Autors namens Arno Schmidt, der noch dazu dem von den Toten für einen Tag auferstandenen Goethe stolz die Romane vorzeigt, die der ‚wirkliche‘ Schmidt bis dahin verfasst hatte. Und doch käme man in Teufels Küche, wenn man nun diesen Text als bloßes autobiografisches Zeugnis des Autors lesen und deuten würde – auch wenn Schmidts Erzählung als kritisches Panorama der äußerst realen restaurativen deutschen Nachkriegsgesellschaft interpretierbar ist.
Zweitens: Bringen Sie sich nicht auch in Gefahr, ähnliche Kritik auf sich zu ziehen, wie Ellis das aus Ihrer Sicht tut, wenn Sie „sich selbst zur Hauptfigur“ Ihrer Texte machen? Sie haben Ihr öffentliches Online-Tagebuch auf Ihrer Website „Die Dschungel. Anderswelt. Alban Nikolai Herbst“ am 3. Juli 2006 mit pathetischen Worten beendet, die auf private Gründe verwiesen. Familiäre Intimitäten, die Sie in dem Moment aber ja dennoch schon wieder im Sinne einer gewissen schriftstellerischen Selbstdarstellung – im Rahmen des ‚Geamtkunstwerks Alban Nikolai Herbst‘ wenn Sie so wollen – ‚verwertet‘ haben. Müssen Sie sich nicht auch fragen lassen, ob Sie hier ein ebensolches „self-fishing verlogener Selbstkritik“ betreiben, die letztlich permanent darauf aus ist, sich eigens zum literarischen Ruhme zu ‚feiern‘? Kurz: Ist das nicht vielleicht sogar eine Situation, in die sich jeder Schriftsteller begeben muss? Der er gar nicht entkommen kann, weil sie nun einmal sein Material ist? Bei Ihnen ergo genauso wie bei Ellis? Ja: Gehören ein gepflegtes kleines Borderline-Syndrom und eine handfeste Profilneurose vielleicht sogar zum unabdingbaren Handwerkszeug eines jeden Autors?
Fragt herzlich,
Ihr
JS

22.08.2006 17:13
Lieber Herr Süselbeck,
ich denke, Sie begehen einen allerdings verständlichen Fehler, den Arno Schmidt aus seinem in der Tat herrlichen Goethetext von seinem Autor zu trennen; zumindest auf der Ebene des Ich-Ideals sind beide Schmidts dieselben, und zwar gerade auch, weil Schmidt mit seinen eigenen Büchern Goethe gegenüber so – der Kleinbürger würde sagen: – angibt. Wie Schmidt das allerdings tut, mit welch einer literarischen Frechheit und Kraft der Formulierung, das genau hat Format (und auch, wie er die ihm eigene Kleinbürgerei, in puncto Spesenabrechnung, gegenüber der himmlischen Buchhaltung auf die Schippe nimmt, ohne sie dabei doch tatsächlich einzusehen, und das bei einem solchen Anlass!).
Man muss sich ja nur einmal die Rolle vorstellen, die Schmidts Werk seinerzeit für das literarische Leben in Deutschland spielte, nämlich so gut wie gar keine. Da greift man zu solchen Methoden – ich weiß genau, wovon ich hier spreche –, die obendrein den Vorteil haben, möglicherweise im Nachhinein durch dann doch noch gewonnene Bedeutung einen ganz besonderen Witz zu entfalten.
Aber nicht über Schmidt wollen wir korrespondieren. Ellis unterscheidet sich in dem in Diskussion stehenden Buch von, sorry, ‚Schmidt und mir‘ darin, dass es kein ästhetisches Verfahren ist, wenn er ’sich selbst‘ zur Hauptfigur macht, sondern sozusagen ein Gag, um Glaubwürdigkeit herzustellen, und zwar nur um diesen Gag. Er transportiert hier keinen Witz und schon gar keine zugrunde liegende Erkenntnis- bzw. Systemtheorie. Der Einfall gilt rein dem Umstand, Unterhaltung und Selbstmitleid in Erzählung zu überführen. Denn tatsächlich hat Ellis Millionen verdient, tatsächlich gehört er zu den Pop-Literatur-Größen, tatsächlich wurde „American Psycho“ verfilmt. Und so weiter. Deshalb ist für den Leser nie klar, ob die Anekdoten, die Ellis etwa über Keanu Reaves oder meinethalben Harrison Ford kolportiert, nicht doch irgendwie stimmen. So reizvoll das ästhetisch an sich wäre und so sehr ein Spiegel unserer sich medienmythisch brikolierenden Gegenwart, so wenig ist der Roman bricolage.
Daran krankt er, nämlich an einem Mangel von Komplexität, die unbedingt erfordert ist, wenn man sich denn erzählerisch-poetisch auf so etwas einlässt. In die gleiche Kerbe schlagen die Anleihen aus dem Horror-Genre, die bei Ellis weniger das, als eher Anleihen aus dem Trash sind. Um mehr als sowas zu sein, mit aller reißerischen Funktion, die es hier hat, wäre von dem Buch zu erwarten gewesen, den Trash an vielen Stellen weitest zu verlassen: Dokumentarpartikel mit hineinzunehmen aus Zeitungen und/oder Spielfilmen, Reflexionen anzustellen, die schwierigen Inhalts sind usw. usw. Und auch die Sprache variant zu verwenden. Das tut Ellis gerade nicht, sondern belässt seinen Text auf dem Niveau eines stilistisch gutgeschriebenen Unterhaltungsromans, der sich wie ein Krimi lesen soll. Was aber auch nicht gelingt, wegen der zweihundertseitigen Jammerei über das seelische Elend eines Millionärs, der an Alkohol und Koks geriet und nicht mehr davon lassen kann.
Mit psychoanalytischem Blick gelesen liegt mir die Deutung nahe, die eingebaute Horrorgeschichte sei innerhalb des Romans eine literarische Verschiebung, also Abwehr, nämlich des eigentlichen – persönlichen – Problems. Dann allerdings wären Ellis im Buch und Ellis der Autor identisch. Worüber nichts zu sagen ist. Wir wissen es nicht und wissen auch nicht, ob der US-Amerikaner seine Horrorschnipsel nicht zum Beispiel einem Horrortrip ‚verdankt‘, dessen Erlebnisse er notiert und dann in „Lunar Park“ verarbeitet und zur Quelle neuer Einkünfte gemacht hat. Und wir wissen nicht, ob Ellis im realen Leben auch so ein Jammerpott ist, oder ob er nicht gerade das auch erfunden hat. Dann gälte: Man kann Langeweile in einem Roman darstellen, aber das darf nicht langweilig sein.
Erstaunlich freilich bleibt für mich, dass allein, sich selbst in einen Roman hineinzunehmen, so wirkt. So oder so macht das Verfahren etwas glaubhafter, als fehlte es. In Ellis‘ Fall fiele das Buch ohne dieses Verfahren restlos in sich zusammen. Man muss nur einmal imaginär die Namen der ‚real existierenden‘ Personen durch fiktive ersetzen und die Erzählperspektive in die 3. Person Singular umdenken.
Genau dies geschieht – nunmehr zu Ihrem „Zweitens“ – in vielen meiner eigenen Bücher, in die ich ‚mich selbst‘ als handelnde Person integriert habe; es wird oft von „Alban Herbst tat dies und das“ gesprochen, also ‚ich selbst‘ werde objektiviert, und wiederum oft kippt ein Satz, der eingangs in der 3. Person Singular stand, plötzlich in die 1. Person und endet so – etwas, das der Entwicklung einer stilistischen, vor allem grammatikalischen Kunst bedarf, von der bei Ellis nicht die Rede sein kann. Ellis schreibt gut, das ist schon mal viel, aber eben auch alles. Dass freilich eine handfeste Profilneurose zum unabdingbaren Handwerkszeug eines jeden Autors gehören könnte, mag ich nicht bestreiten, auch wenn sie gar nicht alle Schriftsteller haben, etwa der mir sehr achtbare Wilhelm Genazino. Und ich antwortete Ihnen gern auch auf die weiteren Fragen, auf das „self-fishing verlogener Selbstkritik“ etwa, das Sie in meinen Dschungeln auszumachen scheinen. Nur denke ich, im Rahmen der Ellis-Diskussion führte das zu sehr ab – nämlich mitten in meine Ästhetik, in das, was ich einen ‚Kybernetischen Realismus‘ nenne, und in die Möglichkeitenpoetik. Dem scheint mir der Anlass – der eher marginale Roman eines US-amerikanischen Literatur-Pop-Stars – nicht angemessen zu sein. Jedenfalls wäre es ein anderer Briefwechsel, einer übrigens, den ich sehr viel lieber führte.
Ich grüße Sie herzlich,
Ihr
ANH

22.08.2006 19:47
Lieber Herr Herbst,
ein soeben erschienener Text Ihres Lektors Denis Scheck, den ich vorgestern gelesen habe, erinnert mich daran, dass Sie in Ihrem aufgrund einer Klage und einer einstweiligen Verfügung einer sich in ihrer Intimsphäre verletzt fühlenden früheren Lebensgefährtin verbotenen Roman „Meere“ ansprechen, aus welcher Familie Sie stammen: „Alban Nikolai Herbst wurde 1955 unter dem Namen Alexander von Ribbentrop als Großneffe des Nazi-Außenministers Joachim von Ribbentrop geboren, eine Familienkonstellation, die in ‚Meere‘ thematisiert wird. So fixiert war ich auf diesen vermeintlichen Sprengstoff für die Rezeption des Romans“, wundert sich Scheck, „so bestrebt, nur ja keine Lesart zuzulassen, die auf eine voyeuristische Ausbeutung dieser Verwandtschaft hinauslaufen könnte, dass ich auf potentielle Minen im Privatleben des Verfassers nicht einen Gedanken verschwendete. […] Der Roman erschien mir von Beginn an so weit entrückt jeder realistischen Lesart, dass ich nicht verblüffter sein könnte, wenn Günter Grass morgen von der EU wegen Verunglimpfung der Aalfischerei in seiner ‚Blechtrommel‘ verklagt würde.“
So kann es eben gehen in der Welt der Literatur. Schecks Text, der in dem von Gunther Nickel herausgegebenen Buch „Krise des Lektorats“ (Göttingen 2006) erschienen ist, ist mittlerweile von Grass‘ gerade erschienener Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ eingeholt worden, die dem Autor tatsächlich ganz andere konkrete Kritik wegen seiner dort enthüllten SS-Mitgliedschaft im Alter von 17 Jahren eingebracht hat – gegen die Sie sich wiederum auf Ihrer Website mit dem Argument empören, Grass‘ SS-Verstrickungen hätten rein gar nichts mit seinen großen ästhetischen Leistungen als Schriftsteller zu tun. Wie dem auch sei: Jeder liest Romane und die in ihnen verkündeten „Wahrheiten“ anders, und die Frage nach der „Realität“ in solchen Texten, zumal der autobiografischen, wird seit jeher immer wieder neu gestellt.
Was nun Bret Easton Ellis betrifft, so finde ich nach der Lektüre seines Romans „Lunar Park“, Sie tun ihm schlicht Unrecht. Gewiss: Viele der Kritikpunkte, die man im Feuilleton gegen diesen Roman lesen konnte, mögen bis zu einem bestimmten Grad zutreffen. Doch eins ist dieses Buch bestimmt nicht: larmoyant. Noch einmal: Ellis macht in diesem Text nichts anderes als Sie, der Sie etwa in „Meere“ über eigene familiäre Wurzeln berichten, die innerhalb eines literarischen Textes weit über den Horizont irgendwelcher drastisch beschriebener Fummeleien hinausweisen. Was das Publikum, was die Kritik und die Literaturwissenschaft hinterher damit machen, weiß man nie. Auch Ellis‘ Roman ist zunächst einmal ein Zeitbild, und ein humorvoll geschriebenes dazu. „American Psycho“ mag uneinholbar sein, aber schon wie Ellis auf den ersten 40, 50 Seiten seines neuen Romans diese eigene, frühere Phase seines Autorlebens verspiegelt und ironisiert, den Riesenerfolg seines Hauptwerks, die Drogenexzesse und das Rumschmeißen mit Hummern in Luxuslokalen, das hat ehrlich gesagt unheimlichen Drive und Witz und kann, ja muss doch wohl auch irgendwo als schonungslose Selbstkritik gelesen werden. Von einem ‚Heulen auf hohem Niveau‘ habe ich hier jedenfalls offen gestanden gar nichts bemerkt. Und schon allein der erste Satz des Buchs, der mit den anderern ersten Sätzen der bisherigen Romane des „echten“ Ellis‘ verglichen wird und später im Buch in einem anderen banalen Zusammenhang wiederkehrt, spielt ja bereits ganz ironisch mit dem vexierbildhaften Thema der Autobiografie: „Du siehst Dir verblüffend ähnlich“, steht da.
Sie werfen Ellis‘ Buch außerdem einen „Mangel an Komplexität“ vor. Den kann ich in dem Roman beim besten Willen nicht erkennen. Ellis befindet sich allein schon mit seinem ständigen gekonnten Augenzwinkern zwischen erschriebener Lüge und behaupteter Wahrheit auf Augenhöhe mit der großen Literatur. Das zeigt sich etwa in dem ulkigen Satz des Erzählers, er könne „niemals in einem autobiographischen Text so aufrichtig von mir selbst erzählen wie in einem Roman“. Angesichts dieser netten Paradoxie musste ich gleich an Novalis‘ bekanntes – und übrigens auch wieder von Arno Schmidt in seiner grandiosen „Schule der Atheisten“ (1972) aufgegriffenes – Diktum denken, wonach die Welt nur eine Karikatur unserer großen Romane sei. Diese Mätzchen gehen dann bei Ellis so weiter: „Ganz gleich, wie entsetzlich die geschilderten Ereignisse auch erscheinen mögen“, heißt es wenig später in „Lunar Park“, „eines dürfen Sie als Leser nie vergessen, wenn Sie dieses Buch in Händen halten: Alles beruht auf Tatsachen, jedes einzelne Wort ist wahr.“ Gegen Ende des Texts heißt es wiederum plötzlich, ein guter Roman sei immer ein Traum. Dabei denkt man dann natürlich nicht nur unweigerlich an Pedro Calderón de la Barcas Theaterstück „La vida es sueño“ (1636) und sowieso an Sigmund Freud, sondern auch an die nicht unkomische Idee in der Handlung von „Lunar Park“, wonach sich der dortige „Bret Easton Ellis“ seine Träume kurzerhand ausdenkt und schnell in den Laptop tippt, bevor er zu der Psychoanalytikerin geht, zu deren Besuch ihn seine Frau gegen seinen Willen gedrängt hat.
„Sie sind keine Kunstfigur, Mr. Ellis, habe ich Recht?“, fragt der Agent Donald Kimball den Erzähler – und später werden wir daran erinnert, dass Kimball bereits in „American Psycho“ vorkam und deswegen in „Lunar Park“ ‚eigentlich‘ nur ein weiteres jener Gespenster sein kann, die dort die ‚Realität‘ unsicher machen, weil sie wie ‚wahrgewordene‘ Zombies aus den Büchern des echten Ellis durch die Gegend laufen und ihr Unwesen treiben, während auch der von Kimball angesprochene Ellis im Buch ja wohl tatsächlich eine Kunst- bzw. Romanfigur ist – oder etwa doch nicht? Und so weiter, das hat mich beim Lesen wirklich zum Lachen gebracht.
Denken Sie nur an den in diesem Jahr noch einmal so abgefeierten Wolfgang Koeppen, der ja zuletzt über Jahrzehnte hinweg überhaupt nichts mehr schrieb und stattdessen gerne schalkhaft verkündete, er habe sich selbst zur Romanfigur gemacht. Das genau ist die Sorte Witze, auf die sich auch Ellis ganz wunderbar versteht: „Wenn Du das Leben für die Fiktion aufgibst, wirst du eine Romanfigur“, heißt es in „Lunar Park“ – ganz so, als habe sich Ellis Koeppen zum Vorbild erkoren, und: „Du träumst ein Buch, und manchmal wird der Traum wahr.“
Das Ganze verspinnt sich immer wieder neu und bleibt natürlich unauflösbar für den Leser, in ständigem Selbstwiderspruch zu den zitierten Wahrheitsbeteuerungen am Anfang: „Wenn ich an ‚Ordnung‘ und ‚Tatsachen‘ dachte, musste ich einfach lachen. Ich lebte in einem Film, in einem Roman, im Traum eines Idioten, den ein anderer schrieb, und ich war langsam erstaunt – überwältigt davon, wie ich mich verfranst hatte.“ Ganz genau: Und ich habe das bei der Lektüre sehr genossen. Zuletzt: „Ich belüg Dich jetzt“, heißt es einmal in Arno Schmidts stark autobiografisch verspiegelten Alterswerk „Abend mit Goldrand“ (1975), und schon in der „Schule der Atheisten“ steht so schön: „Meine Geschichte hat keine andere Bürgschaft, als ihre Unwahrscheinlichkeit.“ Auch Ellis schreibt ganz wunderbar diesen einfach wahren Sätze hin: „Als Schriftsteller frisierst Du alle Indizien im Sinne der Schlußfolgerungen, zu denen Du kommen willst (und hältst Dich selten an die Wahrheit). […] Aber das macht ein Schriftsteller: sein Leben ist ein Maelstrom von Lügen. Beschönigungen sind sein Lebenselixier.“ Tolles kommt dabei natürlich nicht immer unbedingt heraus – siehe Grass.
Herzlich,
Ihr
JS

23. August 2006, 00:09
Nun, lieber Herr Süselbeck, wenn Ihnen Ellis‘ Buch auf diese Weise zugesagt hat, dann mag das an unserer verschiedenen auch künstlerischen Sozialisierung liegen. Dann ist darüber aber auch nichts weiter zu sagen. Sie empfinden als ironisch, was mir als uneigentlich und angesichts Millionen Hungernder nur pervers vorkommt: also wenn ein Millionär vor sich hinjammert und um die Folgen seines Starkults klagt. Das mag etwas mit Pop-Prägung zu tun haben, kann sein. Mich interessiert’s nicht. Ob nun Sie recht haben, oder ob ich recht habe, spielt dann keine Rolle mehr. Es wird, legt man Wirkungsästhetiken an, beliebig. Für mich bleibt es einfach ein völlig marginales Buch. Und ich mag dann auch nicht mehr argumentieren, weil nur noch Meinungen aufeinandertreffen.
Besten Gruß
ANH

23. August 2006, 16:01
Lieber Herr Herbst,
wenn zwei Meinungen aufeinandertreffen, hat das ja auch sein Gutes, wenn man sie ‚ausdiskutiert‘. Ob nun Ellis als Millionär bloß „vor sich hinjammert“ oder einfach einen Roman geschrieben hat, der vielleicht doch gar nicht ganz so schlecht ist, wie viele meinen – das können und wollen wir hier ja auch gar nicht definitiv entscheiden. Mir ist jedenfalls ein humorvoller amerikanischer Autor wie Ellis, der sich selbst vorm Publikum derart rücksichtlos entblößt, in jedem Fall lieber als eine selbstgefällige Figur wie Günter Grass, der noch sein verlogenes und pfauenhaftes SS-Geständnis strategisch für einen Bestsellererfolg seiner entbehrlichen Autobiografie nutzt.
Eines wollte ich aber abschließend doch noch zurückweisen, weil es offenbar nicht deutlich geworden ist. Ich halte die von mir zum Vergleich und zur Anschaulichmachung gewisser Motive bei Ellis zitierten Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen nicht unbedingt für Autoren, die mit einer „Pop-Prägung“ in Zusammenhang zu bringen sind. Mir jedenfalls ist das alberne Genre des so genannten Popromans tatsächlich immer zutiefst zuwider gewesen. Ist „Lunar-Park“ etwa ein „Pop-Roman“? Ich glaube nicht. Man sollte von dieser reflexhaften und langsam langweilig gewordenen Etikettierung vielleicht zumindest in diesem einen Fall einmal absehen. Es ist vielleicht in Vergleich zu dem, was Ellis früher geschrieben hat, tatsächlich ein eher „marginales“ Werk, aber mehr als eine dieser Pop-Belanglosigkeiten entnervender deutscher Emporkömmlinge wie Stuckrad-Barre ist es allemal.
Herzliche Grüße,
Jan Süselbeck

24. August 2006, 20:57
Lieber Herr Süselbeck,
über Stuckrad-Barre will ich gar nicht rechten, und selbstverständlich hat Arno Schmidt weiß Göttin nichts mit Pop-Literatur zu tun. Das alles macht den Ellis aber nicht besser; dass er zur Pop-Literatur zählt, und sich selber ja auch, steht allerdings außer Zweifel. Nun ist Lunar Park wahrscheinlich kein Roman der Pop-Literatur, das gestehe ich sofort zu. Aber es ist ein Unterhaltungsroman von mäßigem Unterhaltungswert – also wenn einem das Gejammer nicht so auf die Nerven geht und das permanente name dropping, das in diesem Buch betrieben wird; ansonsten ist auch das ‚mäßig‘ eher zu hoch gegriffen.
Tatsächlich kommt der Roman ja ab ungefähr der Hälfte auch in Fahrt, er bekommt, um es adäquat auszudrücken, drive. Nur macht das allein noch keine gute Literatur und schon gar keine, die sich an etwa Nabokov, Pynchon, Gaddis und ähnlichen US-Autoren messen lässt. Das aber ist die einzige Messlatte, um die es geht; alles andere ist Unfug – also wenn man nicht wenigstens versucht, es zu erreichen. Scheitern kann dabei jeder, das ist schlimm, aber keine Tragödie. Man versucht’s dann halt nochmal.
Was Ellis aber zu erzählen hat, eigentlich, bleibt mir nach wie vor unklar – abgesehen von seiner permanenten und schließlich ganz aufs Genre verschobenen Larmoyanz bei einem Einkommen, das jährlich um die mehrer Millionen $ geht, für die sich bessere Verwendung als gepanschter Alkohol und Drogen-Juppheidi fände. Aber sowas ist natürlich hip für die, die’s gern ebenfalls hätten. Und ich kann mich nicht entsinnen, Ellis etwa Rücken an Rücken mit der US-amerikanischen Intelligenz gehört zu haben, die sich gegen Bushs Hegemonialpolitik wendet. Schon gar nicht findet man darüber etwas in dem Buch.
Muss auch nicht sein. Es muss dann aber auch kein Roman sein, der nichts ist als ein Unterhaltungsroman der, sagen wir, zweiten Kategorie. Schon dass wir diesen Briefwechsel über so etwas Marginales führen, ist an sich von ziemlichem Übel.
Ihr
ANH

 

Titelbild

Bret Easton Ellis: Lunar Park. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
457 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462036548

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