Sigmund Freud Superstar

Vom Popsong über die Psychoanalyse zur Neurowissenschaft und zurück: Klaus Theweleits "Sigmund Freud Songbook"

Von Kai SinaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sina

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um die beeindruckende Selbstverständlichkeit Freud'scher Theoriebildung im kulturellen Wissen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart zu untersuchen, lohnt es sich, überall dort nachzuschauen, wo mediale Projektionen und Reflexionen gesellschaftlicher Selbstbilder stattfinden, also in den Künsten. Dass sich für eine solche Untersuchung und zum Beleg Freud'schen Denkens als "Allgemeinwissen" dabei vor allem diejenigen Künste anbieten, die sich an die "Allgemeinheit" wenden, liegt auf der Hand - und es ist (wieder einmal) Klaus Theweleit, der sich in seinem soeben erschienenen "Sigmund Freud Songbook" in die Tiefen und Untiefen populär-medialer, oder genauer: popmusikalischer Weltentwürfe aufgemacht hat, um Sigmund Freud und dessen Denken als integralen Gegenstand der Popkultur bzw. der Popmusik zu präsentieren.

Für diese Vorstellung benötigt Theweleit zunächst keinen einzigen Kommentar. Er begibt sich vielmehr in die Rolle eines Archivars und Vermittlers, der seinen Lesern Funde aus fast 100 Jahren Popmusikgeschichte unterbreitet. Dabei scheut er sich dankenswerterweise nicht, Texte der mittlerweile in die popmusikalische Wallhalla aufgestiegenen Beatles ("Strawberry Fields Forever") neben Lyrics der deutschen Herzschmerz-Popband Rosenstolz ("Die Psychologin") zu stellen oder einen Song des intellektuellen Leonard Cohen ("Is This What You Wanted") mit den brachialen Texten der 80er-Jahre-Rocker von Guns N' Roses ("Right Next Door To Hell") in thematische Verbindung zu setzen. Ob Freud in diesen Texten nun als Figur explizit genannt wird (wie z. B. in Madonnas James-Bond-Song "Die Another Day"), oder aber sein Denken implizit verarbeitet wird (wie z. B. im Song "Daddy" der Metalband Korn): Das auf den ersten Blick so disparate Textfeld eint die Auseinandersetzung mit Freud und das popmusikalische Abarbeiten an seinem Werk. Die gesammelten Songs sind damit Zeugnisse der imposanten popkulturgeschichtlichen Wirkung Sigmund Freuds und bilden wie nebenbei eine Grundlage, die Geschichte der Popmusik im 20. Jahrhundert auf der Basis ihrer Beschäftigung mit Freud neu zu erzählen: vom American Quartet, George Gershwin und Cole Porter über Jimi Hendrix, Lou Reed und den Doors bis zu Macy Gray, Alanis Morissette und der Hamburger Hiphop-Band Eins Zwo.

Doch während es Theweleit mit der Präsentation des nackten Textmaterials in erster Linie um die Darstellung der Popmusik als Rezeptionsmedium Freud'schen Denkens und Wirkens geht, zielt er in den drei Essays, die seine Anthologie rahmen, auf weit mehr - nämlich auf die ontologischen Gemeinsamkeiten zwischen Popmusik und Psychoanalyse. Um deren Schnittmenge zu belegen, bedient sich Theweleit eines Tricks und geht dabei in der Logik Freuds einfach konsequent einen Schritt weiter: Wenn sich, so Freud, der literaturschaffende "Dichter" wie ein spielendes Kind "eine eigene Welt erschafft" und diese Welt "in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt", so ist das Gegenteil dieses Spiels nicht "Ernst, sondern - Wirklichkeit." Anders gesagt: Genauso wie das Kind im Spiel eine eigene fiktive Welt entstehen lässt, so erfindet auch der Dichter auf spielerische Weise erzählte Welten, die einen Gegenpol zur Realität darstellen. Zwischen dem spielenden Kind, dem fabulierenden Dichter und dem Patienten auf der Couch vermag Theweleit nun keinen qualitativen Unterschied zu erkennen: Die "Re-Inszenierungen untergegangener eigener Geschichte(n)" in der Psychoanalyse seien, so Theweleit, nichts anderes als ein "Kunstverfahren", mehr noch: es handle sich um "ein Spielverfahren", in dem sich der Patient "zum Akteur" in einem "selbst geschaffenen Kunstraum" mache - einem Kunstraum, in dem, so Freud, "man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann".

Doch bei diesen Feststellungen bleibt es nicht. Theweleit deckt auf engstem Raum dutzende (teils verwinkelte) Parallelen zwischen Freud'schem Denken und dem Phänomen ,Pop' auf, die er dem Leser in phrasierend-ellipsenhaftem Stil vorlegt: Er spricht über die popkulturelle Abgrenzung von einer "spießig-bürgerlichen" Welt und den ständigen "Anlauf auf ein neueres (wilderes) Leben", wie es sich im Menschenbild des ,Pop' genau wie in der Psychoanalyse manifestiere; er sieht im "Rausch" und in der Lust an der "Übertretung" (z. B. im "Garagenrock") das einst "Subversive der Psychoanalyse" am Leben; er erkennt in der Rezeption von Popmusik ein Bedürfnis, "den Schund der vorliegenden Realität wenigstens für ein paar Stunden zu verlassen", um sich von den "gigantischen Pop Events" verführen zu lassen, aus dem eigenen "Reality Tower" zu treten, die "primäre Bedeutungsschwere" des Alltags zu suspendieren und sich der "Ergriffenheit", dem "Fan-Tum" und den "Genüssen" "radikal und ohne zu fragen" hinzugeben.

Eben dieser Rezeptionsvorgang von Popmusik ist nun Ausgangspunkt für das dritte Essay, in dem Theweleit noch einen Schritt weiter geht, dabei zunächst aber nur ein Phänom umreißt, das eigentlich jeder kennt - nämlich "dass Schallplatten, die man Jahre später wieder hört, dem emotionalisierten Zuhörer den Eindruck vermitteln, sie hätten in ihren Rillen die Gefühle gespeichert, die man vor Jahren beim ersten Hören hatte." Dass an dieser Behauptung mehr dran ist, als man vielleicht zunächst vermutet, bestätigen ihm neueste neurowissenschaftliche Forschungen: Wenn es nämlich so ist, dass, so der Psychiater Joachim Bauer, "individuelle Erfahrungen im Organismus Reaktionsmuster ausbilden können, die einen Einfluss auf die Regulation der Genaktivität in zukünftigen Situationen haben", wenn also "genetische Reaktionsmuster durch Erlebnisse und Erfahrungen ,eingestellt' werden können" - warum sollte dann nicht die Wahrnehmungserfahrung des Musikhörens "synaptische Verknüpfungen" herstellen können, die den Anschein hervorrufen, als sei, so Theweleit, auf "manchen Mingus-Platten, bei Coltrane oder Billie Holiday" das Gefühl, das man beim ersten Hören hatte, gleichsam ,gespeichert'? Die Emotionen, die das erste Hören einer bestimmten Platte hervorgerufen hat, sind, so kann mit den Forschungen der Neurowissenschaftler argumentiert werden, im neuronalen System der Person archiviert, und in dieser Logik behauptet Theweleit konsequenterweise, dass sich "bestimmte Teile" des Körpers "nach der Aufnahme bestimmter Musiken" offenbar verändert haben müssen. Diese archivierten Emotionen können nun durch das erneute Hören jener Musik aus dem Unbewussten in seiner Wirkung wieder hervortreten, ohne dass der Hörer sagen könnte, was mit ihm in diesem Moment passiert. Genau an dieser Stelle rehabilitieren die Neurowissenschaftler also eine Freud'sche Kernkategorie, nämlich den Begriff des Unbewussten, den Theweleit auf das Phänomen der Musik, oder genauer: auf die Popmusik rückbezieht, die, anders als andere Kunstformen, schließlich auf den unmittelbaren Affekt und das direkte Gefühl setzt.

Vom Liedtext über die Psychoanalyse zur Neurowissenschaft und zurück: Theweleit argumentiert in Siebenmeilenstiefeln. Er reißt Argumente an, gibt sie wieder auf und versucht es an anderer Stelle erneut. Das Verfahrens des ,trial and error' spiegelt sich dabei in elliptisch-fragmentarisierten und assoziativen Satzfetzen wider, die nur in ihrer Gesamtschau verständlich werden. Dabei lässt sich aus Theweleits Reflexionen allerdings nicht so etwas wie eine Quintessenz ziehen, was der Komplexität der einzelnen Gegenstände, die er hier miteinander zu verbinden sucht, wohl auch kaum gerecht werden würde. Theweleit hat mit seinem "Sigmund Freud Songbook" ein beeindruckendes ,work in progress' vorgelegt - einen Steinbruch von Ideen, der dem Leser ein intellektuelles Abenteuer und dem Spezialisten Anlass zur kritischen Reflexion sein mag.


Titelbild

Klaus Theweleit: absolute(ly) Sigmund Freud. Songbook.
Orange Press, Freiburg 2006.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3936086214

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch