Familienbande

Nach 56 Jahren erscheint Marguerite Duras' Debütroman "Die Schamlosen"

Von Gesa HinrichsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Hinrichsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seine Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Nicht seine Mutter, nicht seinen Vater und die Geschwister auch nicht. Könnte man es, so hätte sich Maud Grant sicherlich für ein anderes familiäres Umfeld entschieden: Kein Bruder, der sie tyrannisiert, keine Mutter, die sie nicht beachtet und auch kein leiblicher Vater, der mehr schlecht als recht von einem duckmäuserischen Stiefvater ersetzt wird.

Jacques, der älteste Sohn im Haus Grant-Taneran, tyrannisiert seine Familie auf die subtilste aller Arten. Mit ständigem Vorwurf in Blick und Stimme - niemand verstünde ihn, niemand liebte ihn - bettelt der Lebemann um Geld und Aufmerksamkeit. Seine Mutter, die Witwe Madame Grant, kann ihrem Erstgeborenen nichts abschlagen. Sie nimmt ihn in Schutz, egal in welche Schwierigkeiten er sich und seine Lieben bringt, welche Grausamkeiten er ihr in aller Skrupellosigkeit entgegen schmettert. Verheiratet mit Monsieur Taneran hat sie zwar in der Ehe das Sagen, doch bei ihrem Sohn versagt sie kläglich.

All die mütterliche Liebe, die sie für den nun fast vierzigjährigen Jacques aufbringt, zehrt so an ihren Kräften, dass sie diese für ihre Tochter Maud kaum mehr verspürt. Die Schwierigkeiten, in die Jacques sich manövriert und die damit verbundenen Enttäuschungen muss die zwanzigjährige Maud ausbaden. Sie fühlt sich ihrem Bruder gegenüber durch dieses unausgesprochene Bündnis verpflichtet. "Sie waren so eng verbunden wie zwei Opfer [...]. Alles Böse, was er getan hatte, hatte sie genauso empfunden, als hätte sie es selbst getan." Auch Henri, ihr Stiefbruder, ist ihr keine Stütze. Anfänglich scheint sich zwischen ihnen so etwas wie geschwisterliches Verständnis aufzubauen, doch Henri eifert seinem älteren Stiefbruder nach, um ihm mit der Zeit immer ähnlicher zu werden.

Um Jacques nach dem Tod seiner Frau auf andere Gedanken zu bringen, beschließt Madame Grant, mit ihren Kindern auf ihren Landsitz in der Dordonge in der Nähe von Bordeaux zu fahren. Das eigene Gut ist allerdings schon so heruntergekommen, dass die Familie gezwungen ist, sich bei ihren Nachbarn, der Familie Pecressse einzuquartieren. Die Situation spitzt sich auf diesem engen Raum zu. Da Jacques die Familie durch seine Spielerei und Genusssucht mehr und mehr in finanzielle Not gebracht hat, sieht seine Mutter als einzige Lösung der Probleme die Heirat Mauds mit dem vermögenden Bauernsohn Jean Pecresse. Maud, die von ihrem beschlossenen Schicksal nichts ahnt, findet diesen grobschlächtigen Kerl widerwärtig. Sie trifft auf Georges Durieux, ebenfalls Bauer, doch von seltener Feinfühligkeit und Größe. Jacques bemächtigt sich der Freundschaft Durieuxs - zum einen um seiner Schwester einen Strich durch die Rechnung zu machen, zum anderen wegen seines immensen Besitzanspruches.

Zunächst nimmt Maud auch diese Wendung als schicksalhaft an, doch dann flieht sie zu Durieux und wird von ihm schwanger. Trotz dieser Entwicklung der Dinge schließt Madame Grant einen Handel mit der Familie Pecresse, der besagt, ihr Gut mitsamt ihrer Tochter sei für 50.000 Francs zu haben. Als einzige Lösung des Konflikts bleibt, dass Georges Maud "freikauft".

Mit "Die Schamlosen" debütierte Marguerite Donnadieu unter dem Pseudonym Marguerite Duras. "Dieses Buch brach einfach aus mir heraus", so die damals 29- jährige Diplomatentochter. 1914 wurde sie im heutigen Vietnam geboren, ihr Vater verstarb früh und Marguerite Duras wuchs mit ihrer Mutter und zwei Brüdern auf. Diese Familienkonstellation ist in vielen ihrer späteren Werke ebenso wie in diesem Debüt wieder aufzufinden. Nicht zuletzt in "Der Liebhaber", mit dem sich Duras 1984 an die Spitze Weltliteratur schrieb. Radikal und gnadenlos beschreibt sie auch hier den Untergang einer Familie, in der die Mutter die Tochter nicht liebt, der ältere Bruder die Schwester schikaniert, und das Mädchen sich schließlich vor ihrer Familie verschließt, um ihre eigene Welt in den Armen eines fremden Mannes zu entdecken. Hinter der Fassade einer heilen Familie wirken diese subtilen Grausamkeiten, die Marguerite Duras so treffend beschreibt, umso erschreckender, doch nur im Schoße der 'verschwiegenen Lieben' lassen sie sich kommentarlos dulden.

"Die Schamlosen" besitzt zwar nicht die Stärke und Aussagekraft des späteren Welterfolges - hier bestimmen Geradlinigkeit und Selbstbestimmung der Protagonistin die Sprache. Doch ist in diesem Debüt schon der nüchterne Blick auf zwischenmenschliche Konfliktfelder zu verspüren, für den Marguerite Duras weltweit gerühmt wird.

Titelbild

Marguerite Duras: Die Schamlosen. Roman. Aus d. Französ. v. Andrea Spingler.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
216 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3518410776

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