Möglichkeit der Vollkommenheit

Richard Barber analysiert Erzählungen über den Gral

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sage vom heiligen Gral - wer hat nicht schon von ihr gehört oder sie in der ein oder anderen Version sogar gelesen? Nicht wenige Autoren haben sich dieser Fabel bemächtigt, selbst Schriftsteller unserer Zeit wie zum Beispiel Tankred Dorst, Christoph Hein, Dieter Kühn und Adolf Muschg. Der englische Autor Richard Barber, Experte für das Mittelalter, ist den verschiedenen Manifestationen des Grals nachgegangen und hat seine unterschiedlichen Wahrnehmungen im Laufe der Jahrhunderte genau aufgezeichnet, mitunter gar zu genau. Auch auf die Frage, was der Gral eigentlich ist, versucht er, umfassend zu antworten.

Für einige ist der Gral eine von Geheimnissen umwitterte Kristallschale, die unter dem Kreuz das Blut des Erlösers aufgefangen haben soll und seitdem Gegenstand zahlreicher Mythen ist. Für andere ist er nur eine faszinierende Metapher, ein seit achthundert Jahren immer wiederkehrendes Thema in der erzählenden Literatur des westlichen Europa und Ausdruck schöpferischer Einbildungskraft. Zumindest stehe der Gral, meint Barber, außerhalb der Reichweite der normalen Welt: "Welche Gestalt oder Form wir ihm auch verleihen - der Heilige Gral verheißt uns - in unserer Phantasie - die Möglichkeit der Vollkommenheit."

Erwachsen aus der Feier der Eucharistie, inspirierte er Dichter und Künstler zu Texten, die in ihrer Mischung aus dichterischer Fantasie und religiösem Glauben "sich in ihrer Eindringlichkeit durchaus mit den Schlussszenen in Dantes 'Paradiso' und dem transzendentalen Finale in Goethes 'Faust' messen können."

Für mittelalterliche Leser war der Gral biblischen Ursprungs und gehörte mit zur Kreuzigungsgeschichte. Gleichwohl verblieb er außerhalb des kirchlichen Horizonts, "geliebt nur von den Dichtern, die ihn geschaffen hatten - und von den begeisterten Lesern ihrer Werke."

Die erste Erzählung vom Gral schrieb Chrétien de Troyes Ende des 12. Jahrhunderts. In seiner Gralserzählung, die schnell populär wurde, aber unvollendet blieb, steht die Entwicklung des ritterlichen Charakters im Vordergrund. Innerhalb der nächsten zwanzig Jahre gab es Versuche, Chrétien de Troyes' Arbeit an der unvollendet gebliebenen Geschichte vom Gral fortzusetzen und in anderen Versionen neue Ideen, die Erzählung vom Gral fest in der christlichen Tradition zu verankern. Eine wichtige Figur in der Entwicklung der Geschichte des Grals ist Robert de Boron. Barber verfolgt die Linie der "Grals"-Autoren bis hin zu Hartmann von Aue (dieser verpflanzte als erster den Artusroman nach Deutschland), zu Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg. Wolframs Augenmerk lag allerdings nicht auf der Theologie des Grals. Ihm ging es um die Menschwerdung, um die Entwicklung Parzivals als Individuum innerhalb der Gesellschaft und um einen, aus der damaligen Krisensituation heraus geborenen Entwurf einer idealen Gesellschaft. Für den englischen Schriftsteller Thomas Malory (er lebte Anfang des 15. Jahrhunderts und verfasste seine Artusepik zur Zeit der Rosenkriege) waren der Heilige Gral und die Eucharistie wiederum eng miteinander verbunden. Obwohl die Kirche den Gral niemals offiziell anerkannt hat, wurde er zu einer religiösen Ikone von mächtiger Wirkung für Nicht-Kleriker. Mit dem Herannahen der Reformation verschwand der Gral aus der poetischen Imagination. Sowohl die protestantischen Reformatoren des 16. Jahrhunderts als auch die katholischen Gegenreformatoren standen dem Gral wie allen volkstümlichen und nicht sanktionierten Kulten äußerst feindselig gegenüber. Der Gral geriet mehr in Vergessenheit als in Verruf - zwei Jahrhunderte lang.

Zwischen 1630 und 1730 wurde der Gral zum Forschungsgegenstand in den aufblühenden Wissenschaften. Dann kam es zur Wiedergeburt des Grals bei den Dichtern der Romantik und nicht zuletzt bei Richard Wagner. Doch zumeist war die neue Literatur eine fiktionale und weniger eine historische Rekonstruktion des Mittelalters. Friedrich de la Motte Fouqué schuf die im Mittelalter angesiedelte Märchennovelle "Undine" und Karl Immermann, sein Freund und Protegé, die Dichtung "Merlin, eine Mythe", in die er den Gralmythos eingearbeitet hat.

Richard Wagner verweigerte sich in seinem "Parsifal" den Orthodoxien des etablierten Glaubens zugunsten eines Synkretismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Modeerscheinung geriet. Wagners Bühnenfestspiel wurde jahrelang nur in Bayreuth aufgeführt, ganz so, wie es der Komponist gewollt hatte. Erst 1951 kam es unter der Regie von Wieland Wagner zu einer substantiellen Neuinszenierung. Im 20. Jahrhundert wanderte die Gralsgeschichte in esoterische Lehren und in die New-Age-Philosophie. Hier gilt der Gral vielfach als spiritueller "Kraftplatz". Im "Dritten Reich" kursierte sogar das Gerücht (Otto Rahn, ein völkischer Esoteriker, Gralforscher und überzeugter Nazi obendrein, hatte es in Umlauf gebracht), die Nationalsozialisten hätten eine Suchexpedition nach dem Gral organisiert.

Ironischerweise, merkt Barber an, sei nunmehr der Gral, ursprünglich ein Symbol christlichen Ursprungs und christlicher Konnotationen, vielfach zum Mittel der Flucht aus den etablierten Religionen in eine Welt geworden, in der alles und jedes eine Stimme hat. Anstelle des Christentums haben wir die "westliche Mysterientradition, die für das Heute eine neue Mythologie erfindet mit dem Gral als zentraler Ikone." Inzwischen habe der Gral zahlreiche Konzepte aufgenommen, sogar den Feminismus und die taoistische Lehre.

In Adolf Muschgs 1993 veröffentlichtem Roman "Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival" - der in Barbers Buch allerdings nur in der Bibliografie mit aufgelistet wird wie auch die Texte von Tankred Dorst, Christoph Hein und Dieter Kühn - hat der Gral endgültig ausgedient. Neue Rezepte für Lebenssinn und Daseinsbewältigung sind von ihm, laut Muschg, nicht mehr zu erhoffen.

Auch wenn Richard Barber in seinem Werk die zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren links liegen lässt, so hat er doch offensichtlich nahezu alles aus der Vergangenheit zusammengetragen, was wir über den Gral wissen können, und viele Gralserzählungen einer detailreichen, aber durchaus fesselnden Analyse unterworfen.

Hilfreich ist ebenfalls der seinem Buch mitgegebene umfangreiche Anhang mit Anmerkungen, Bibliografie, Personenregister und Bildnachweis.


Titelbild

Richard Barber: Der heilige Gral. Die Geschichte eines Mythos.
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Erhardt.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2005.
400 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3538072035

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