Kein Spaziergang
Vor 70 Jahren starb der expressionistische Dramatiker Reinhard Goering. Christophe Fricker traf im kanadischen Halifax seine Tochter, Ingrid Goering-Meyerhof
Von Christophe Fricker
Sie steht in der offenen Tür: Ingrid Goering-Meyerhof, neunzig Jahre alt und ganz da in diesem Augenblick. Sie stehe "am Ausgang des Lebens, in einem Alter, wo man genug gesehen hat." In ihrer festen Stimme klingt aber kein Wille zum Abschiednehmen mit, sondern das ruhige und so seltene Bewusstsein, den eigenen Rhythmus selbst bestimmen zu können. Seit zwanzig Jahren wohnt sie in Halifax, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Nova Scotia. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie um, in ein Zimmer mit Meerblick. Damit ist sie zufrieden: "Ich kann den Mond und die Vögel sehen, das konnte ich früher nicht. Sowas gibt doch ein angenehm freies Gefühl."
Die Sonne scheint herein, und wir entscheiden uns zu einem Spaziergang. Ingrid zieht ihre Schuhe an, hilft sich dabei mit einem metallenen Schuhlöffel. Der sei "aus Flugzeugen", sagt sie. Nach dem Krieg habe man Schrott wieder in alles mögliche Nützliche verwandelt. Ein Anzeichen für den Willen zum Weiterleben - und für die Kraft dazu. Aber witzig sei es schon, sich vorzustellen, dass dieser Schuhlöffel einmal durch die Luft gefolgen sei. In der kalten, klaren Märzluft treten wir auf die Straße, an deren Seiten sich glänzend schwarzer Schnee kniehoch hält. Wir passieren die Filialen der immer gleichen Ketten. Der haligonische Winter ist noch lange nicht vorbei, und so sind die Bäume kahl. Auf dem Gehsteig liegen hingeworfene Flaschen. Am Hafen erstreckt sich ein gigantischer Parkplatz für die Gäste des Westin-Hotels, für die wenigen, die am Bahnhof in den Zug steigen, und vor allem für den Megamarkt. Möwen fliegen um uns herum, und Enten verrichten ihr Geschäft des scheinbar ziellosen Herumwatschelns am Ufer.
Entschiedenen Schrittes geht Ingrid mir voran. Sie kennt ihre Wege. Dass ich nicht nur an ihrem Vater interessiert bin, sondern auch an ihrem eigenen Lebensweg durch das quälend lange 20. Jahrhundert, verwundert sie zunächst. Aber die Erzählung muss in der Kindheit anfangen und damit beim Vater. "Es kommen auch Irrtümer vor", warnt Ingrid und genießt zugleich die Aussicht, Erinnerungen aufzufrischen.
I.
1930 traf ein Telegramm ein: Mutter und Töchter sollen nach Berlin kommen: Die Aufführung! Ingrids Vater, der expressionistische Dramatiker Reinhard Goering, hatte zwölf Jahre zuvor seinen bis dahin einzigen Triumph erlebt, die Aufführung der "Seeschlacht" am Deutschen Theater unter Max Reinhardts Regie. Nun steht, nach langer Schaffenspause, "Die Südpolexpedition des Kapitäns Scott" an. Bei der Premiere trägt Goering eine grüne Krawatte. "Dann wird das die nächste Mode", ließ er im Brustton der Überzeugung verlauten. Nach der Vorstellung tritt er vor den Eisernen Vorhang, um den Applaus entgegenzunehmen. Da habe sie weinen müssen, sagt Ingrid, wie er so dastand, schmächtig und allein der Masse gegenüber. Publikum und Kritik sind vom Stoff gefesselt, vom männlichen Wettkampf und von der kühlen Sprache. Aber grüne Krawatten werden nicht Mode, der Triumph eines vergangenen Jahrzehnts wiederholt sich nicht, und er wird sich nie mehr wiederholen.
Goering, der Einsame, der Wanderer, der Buddhist und Bettler, der die stimmgewaltigen Autoren der Zwischenkriegszeit kannte, der sich als Arzt versuchte und mit dem Leben nie zurechtkam. "Reinhard Goering hat immer wieder, auch zu uns Kindern, gesagt, dass man zwar nicht entscheiden könne, wann das eigene Leben beginnt, dass man aber über dessen Ende sehr wohl verfügen kann." Er wehrte sich gegen den Zwang zum Überleben, gegen das rücksichtslose Überlebenwollen. Goering verstört das unausgesetzte Kämpfen, an dessen Ende man "nicht einmal tot" ist. Der Dichter, der bald zum Protagonisten der Neuen Sachlichkeit wird, macht 1936 seinem Leben voller Ideen und voller Enttäuschungen in der Nähe von Jena tatsächlich ein Ende, wie schon vorher sein Vater, dessen Leben als Ingenieur kaum weniger von Ortswechseln geprägt war als das seines apodemialgischen Sohnes.
Goering zog 1914 sein medizinisches Examen vor und meldete sich freiwillig, wie es zum guten Ton gehörte. Aber der Einsatz im Ersten Weltkrieg endete nach wenigen Wochen in einem Davoser Sanatorium - Tuberkulose. Von vielen in Deutschland wurde der Kuraufenthalt als Fahnenflucht, zumindest als Feigheit, gedeutet. Goering war als Arzt eingesetzt worden, als "Schneider am Menschen", und lernte die Schrecken des Krieges als einer kennen, der sie mit den eigenen Händen lindern sollte.
An verschiedenen Orten versuchte er nach dem Krieg, sich als Arzt zu etablieren. So auch im Berliner Arbeiterbezirk Wedding. Einmal durfte die Tochter mit, sogar mit ins Behandlungszimmer. Dort saß eine alte Dame mit hochgezogenen Ärmeln, welcher der Vater Blut abnehmen sollte. Er setzte die Nadel an, traf aber keine Vene. Und auch nicht beim zweiten Versuch. Für die Patientin muss es schmerzhaft gewesen sein, für das Kind unangenehm: den Vater in einem so alltäglichen Geschäft scheitern zu sehen. Versuche, sich eine Existenz als Heilpraktiker, Kur- und Kassenarzt zu gründen, verliefen immer wieder im Sande. Seine Methoden waren unorthodox bis revolutionär. Jede Behandlung begann nicht mit der Feststellung eines Schmerzes, sondern mit der tiefsinnigen Frage: "Was fehlt Ihnen?" Wenn er nicht helfen konnte, stellte er keine Rechnung.
II.
Mit den dichterischen Vorbildern Henry Benrath und Stefan George kam keine dauerhafte Verbindung zustande. George war "die große Enttäuschung in seinem Leben" - er hatte sich von ihm geistige und menschliche Unterstützung erhofft, wollte in einen starken Bund aufgenommen werden, wollte Freundschaft und Dienst erleben. Doch zu dauernder Hingabe war er weder willens noch fähig.
Goering fühlte sich dem Deutschland Kleists und Hölderlins verbunden. Bei allem Außenseitertum war er literarisch auf der Höhe der Zeit. Als Brecht schon auf der Flucht ist, verteidigt Goering öffentlich das Epische Theater. Durch seinen Freund, den Wiesbadener Buchhändler Hans von Goetz, versucht er, Kontakt mit dem Oppositionsverlag "Die Runde" des Rundfunkjournalisten und Dichters Wolfgang Frommel aufzunehmen.
Goering näherte sich den verschiedensten geistigen Strömungen, vom Buddhismus bis zum Nationalsozialismus (einige Monate ist er Mitglied der Partei, tritt aber schon vor 1933 wieder aus), vom demokratischen Nationalismus bis zum Katholizismus, zu dem ihn ausgerechnet die Lektüre Stefan Georges brachte. Er stellte Fragen und verlangte Antworten, gab sich aber nie zufrieden. Er spitzte zu, formulierte Widersprüche und zeigte Möglichkeiten auf. Seine Figuren sind Idealisten, die ihre Ideale nicht erfüllen können. Sie geben sie nicht auf, sondern an den Zuschauer weiter. Seht, was ihr daraus macht! Der Kämpfer gegen Bürokratismus und Formularwesen musste sich doch mit Verwaltungen auseinandersetzen: Lange war er von der Sozialhilfe abhängig, immer wieder bewarb er sich um Stipendien. Obwohl er ein Gegner der Technologie war, schrieb er enthusiastische Flugzeug-Gedichte, als er als Luftfahrt-Korrespondent Freiflüge erhielt. In einem Nachstück zur "Südpolexpedition" schickt er gar den Gott Hermes in einem Flug 'wie mit der Lufthansa' an den Pol.
Er ist seiner Tochter als charismatischer Redner in Erinnerung. Selbst die Bilder seiner "unendlichen Frauen" verblassen gegen das Talent des politisierenden Autors, über eine Fülle von Themen packend zu dozieren. Seine "Ideen", sagt die Tochter fest, hochfahrend und immer noch mit Bewunderung gegenüber dem, den Misserfolge nur anstachelten. Er hatte einen Bekannten, den Juristen Urban Kauth, den er "vom Spießertum befreien" wollte. Sinnbildlich wurde ihr das, als der Vater dessen Bücher als unnütz aus dem Fenster warf und die Gläser mit bürgerlich eingemachter Marmelade aus dem Keller gleich hinterher. Kasimir Edschmid schildert in seinem Expressionisten-Buch weitere ungewöhnliche Therapien. Goering verfocht vegetarische Ernährung und das Fasten als Kur, ja als großes Erlebnis. Fast erschütternd sei es, sagt die Tochter, wenn man feststellt, "dass man das dann kann" - einfach elf Tage lang ohne Essen auszukommen und sich noch wohl zu fühlen!
Immer wieder verschwand Reinhard Goering, manchmal monatelang, um durch Deutschland "spazierenzugehen", wie Ingrid es nennt. Goering steht für eine beunruhigende, geradezu paradoxe Mischung aus Schicksalsgläubigkeit und Weltbeglückungsträumen. Aber seine großen Werke sind weder pazifistisch noch kriegsverherrlichend, sondern saubere Diagnose.
III.
Ingrid wurde am 9. November 1915 in der Schweiz geboren, drei Jahre bevor sich an ihrem Geburtstag zum ersten Mal die deutsche Welt grundlegend veränderte. Des Vaters (erste) Frau Helene war ihm an den Ort seines Kuraufenthaltes gefolgt. Für Ingrid bedeuten die zwei Zufälle, der Geburtsort und ein später prominenter Name, großes Glück: In dunklen Zeiten ersparen sie ihr wohl manches Mal Schwierigkeiten. Im Dritten Reich wird sie vorgeladen. Ihre Mutter begleitet sie, wartet vor der Tür. Da hilft ihr der Name - wer wollte sich mit jemandem anlegen, der vielleicht Verbindungen zu höheren Stellen hat? Und auch der Geburtsort sei "eine Empfehlung" gewesen. Nach drei knappen Fragen ist sie wieder draußen.
Ingrid konnte nur einen halben arischen Nachweis vorweisen und leidet unter den Folgen dieser "Schande" bis heute. Sie durfte nicht studieren. Sie wollte Schauspielerin werden, und ihre Freundin Lisbet (später die erste Frau ihres späteren Mannes Gottfried) drängte sie, unbedingt bei der Schauspielerin vorzusprechen, zu der sie selbst gehen wollte. Ingrid folgte in ihrem schönsten Kleid. Das Vorsprechen verlief erfolgreich, und es wurde ihr gesagt, dass man sie brauchen könne und sie mit auf Tournee gehen würde. Ingrid tanzte innerlich vor Glück und schwankte zur Türklinke, die sie schon berührte, als sie noch einmal eine Stimme hörte: "Sie sind doch arisch?" Mit leisem "Ja" verschwand sie für immer aus dem Schauspielerleben. Ingrid wuchs protestantisch auf und erfuhr von ihrer Abkunft erst spät. Sie hatte Glück.
Ingrids geliebte Mutter Helene Gourovich wusste von Russland her, was Pogrome sind. Sie stammte aus Odessa. Helene ist das einzige Kind ihres Vaters, eines Hals-, Nasen- und Ohrenarztes. Er hatte für seine Tochter ein Pferd im Stall und einen Affen im Käfig. Zuhause lernte sie fünf Sprachen und dazu die Geschichte der betreffenden Länder. Sie war an Kunst interessiert, und das bedeutete unausweichlich, nach Paris zu reisen. Im Jahre 1911 fährt sie, um Malerei zu studieren. All ihre Zeit verbringt sie im Louvre, bis sie auf der Treppe einer Untergrundstation den Bildhauer Walter Wolf und seine Frau trifft, die ihr einen Reinhard Goering vorstellen, der sich in ihrer Gesellschaft befindet.
1912 ist das erste Kind unterwegs, und so wurde eilig geheiratet - die Ehe wurde 1926 geschieden. Sich mit dem Erbe ihrer Mutter auseinanderzusetzen, habe sie lange vermieden. "Das ist wohl eine Art praktischer Feigheit", sagt sie. Aber in den Achtzigern sei sie nach Odessa gefahren, habe einen großen Eindruck von der Potemkinschen Treppe empfangen. In Eisensteins "Panzerkreuzer" ist dieser mit optischen Tricks angelegte Weg vom Museumsbezirk zum Hafen herunter prominent. Über den Film hatte in den Zwanzigern Goering eine enthusiastische Kritik geschrieben, in der er die sichtbare Fähigkeit zum Sieg bewundert. Dass es sich um den Sieg einer kommunistischen Revolution handelt, war für den ideologischen Vagabunden "nur ein Zufall". Ingrid reiste weiter ins damalige Leningrad, wo sie den Panzerkreuzer Aurora besucht, der im wahren Wortsinn den Startschuss für die Oktoberrevolution abgab. Er ist seit den Fünfzigern ein Museum.
Ingrid wuchs in Berlin auf. 1920 erhielten Mutter und Töchter Besuch von Niddy Impekoven, jener legendären Tänzerin, die der Vater ein Jahr zuvor kennengelernt und erfolgreich von ihrer Anorexie, einer damals noch wenig erforschten Krankheit, geheilt hatte. Selbst von der zur Bissigkeit neigenden Berliner Presse der Zeit wurde sie als 'Kind aus Poesieland' bejubelt. "Der Trancezustand, das Erdentrücktsein, die völlige Hingabe an die Musik mit allen Fibern" sei jedem Zuschauer spürbar, wenn die 'Wunderblume mit dem umschatteten märchentiefen Auge' tanze. Bei ihrem Besuch in Berlin musste sie feststellen, wie die Familie des kurzzeitig berühmten Expressionisten in ziemlicher Armut lebte und schrieb tief bewegt in ihrer Autobiografie über jenes "Elend".
Erst heute merkt Ingrid, dass Reinhard Goering ein "unbefriedigender Vater" war. Wieviel Zeit sie überhaupt mit ihm verbrachte, sei schwer zu sagen. Immer wieder war er verschwunden, ohne Nachricht über seine Pläne zu hinterlassen. Aber wenn er seine Kinder sah, behandelte er sie wie Seinesgleichen, sprach mit ihnen wie mit Erwachsenen. Zu Weihnachten 1934 schreibt er an seine Töchter einen Brief, in dem er sich anklagt, seinen beiden Frauen und seiner finnlandschwedischen Freundin Dagmar Öhrbom "schweres Unrecht getan" zu haben. Das "muss alles wieder gut werden, und Ihr müsst mir dabei helfen."
IV.
"Fünf Minuten vor Hitler" waren sie bei Albert Einstein eingeladen. Der Vater hatte gemahnt, dass sich die Kinder schön anziehen und gut benehmen sollten. Man klingelt an der Haustür und ein Hausmädchen macht auf. Im Haus herrscht eine eigenartig uneigentliche Stimmung. Der Tisch ist gedeckt, das Essen kann jeden Moment beginnen. Gläser, Teller und Bestecke sind bereit, frische Blumen in der Mitte. Die Familie Goering sitzt schon am Tisch. Dann kommt das Hausmädchen wieder, sagt Bescheid: Herr Einstein hat Deutschland verlassen. Das war im Dezember 1932. Einstein hatte ein Angebot aus Princeton angenommen, das ihn für sieben Monate im Jahr verpflichtete. Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten führte aber dazu, dass er nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte.
"Treppauf, treppab" habe sie nach dem Ende der Schulzeit nach Arbeit gesucht, wo auch immer eben ein Schild an der Tür hing, dass jemand gebraucht würde. Schließlich wurde sie fündig, im Shell-Haus am Landwehrkanal, einem der architektonischen Höhepunkte der Zwischenkriegszeit. Hunderte von Entwürfen musste Emil Fahrenkamp vorlegen, bis es 1930 endlich gebaut werden konnte, als eines der ersten Gebäude Berlins mit einem Stahlskelett. 1931 wurde es eingeweiht und zum Hauptquartier der Shell-Tochter Rhenania-Ossag.
Im Shell-Haus hat Ingrid ihren Vater zum letzten Male gesehen. Er kam und bat den Stockhüter, seine Tochter zu rufen. Erstaunt kam Ingrid aus ihrem Büro und traf ihren Vater als wäre er ein Verehrer, der eine Verabredung treffen will. Nach zwei oder drei Sätzen geht er zum Paternoster zurück, wo er und Ingrid sich so lange in die Augen blicken, bis sein Abteil für immer in der Tiefe verschwunden ist.
Das Gebäude wurde im Krieg beschossen. "Angst hatte ich damals keine, der Krieg hat mich gar nicht interessiert", sagt Ingrid offen, ohne Trotz. "Das Essen war in Berlin rationiert, aber immerhin gab es Essen. Meine Freundinnen auf dem Land waren viel schlimmer dran." Und rasch ergänzt sie: "Ich hänge nicht am Leben, nicht so sehr wie meine Schwester am Leben hing." Und religiös ist sie auch nicht. Das ginge bei ihr eben nicht. Dass es Gott gebe, könne ja sein. Aber auch er mache Fehler. Dass Speiseröhre und Luftröhre so dicht beieinander liegen, zum Beispiel, das ist doch ein Fehler, oder nicht?
Als das Shell-Haus getroffen wird, gibt es Tote in nächster Nähe. Ingrid sitzt im Luftschutzkeller, und neben ihr liegen schon Tote. Im benachbarten Keller gibt es eine Kuhle, zu der sie ein Kollege führt. Verkohlte Gestalten sind da, einer streckt noch seine Hand herauf. Bilder, die nie verschwinden.
V.
Am östlichen Zipfel des Einwanderungslandes Kanada erinnert uns das Museum Pier 21 daran, dass hier von den Zwanzigern bis in die Siebziger über eine Million Menschen begrüßt wurden, die in ihrer Heimat nicht mehr willkommen waren. Aber auch die Vielzahl von Restaurants, vom Italiener bis zum Inder, vom Äthiopier bis zur Karte mit heimischen Meeresfrüchten, legt Zeugnis davon ab. Wir entscheiden uns für letztere und genießen den Blick über einen weiten Hafen, dessen Bedeutung als Kriegmarinestützpunkt über die Jahrzehnte abnehmen durfte. Im Zweiten Weltkrieg war Halifax Ankerpunkt der auf Europa gerichteten Operationen der Westmächte.
Ingrid Meyerhof ging nach dem Krieg, im Jahre 1948, mit Mutter und Schwester nach Chile, weil der Schwager dort Arbeit in Aussicht hatte. Ingrid besuchte Deutschland regelmäßig, auch einmal für längere Zeit, durchaus mit der Absicht, sich wieder dort niederzulassen. Das allgemeine Bedürfnis nach "goldenen Wasserhähnen" stieß sie aber so ab, dass sie stets nach Chile zurückkehrte, wo sie in Santiago ein Zuhause aufbaute.
Gleich zu Beginn durchquerte sie das Land mit dem 2CV von Norden nach Süden, von der Wüste bis ins Eis. Ihre eigene Südpolexpedition, gewissermassen. Süffisant stellt sie sich auf die Seite von Amundsen, der besser vorbereitet gewesen sei als "der schöne Engländer" Scott. Bewundernd erzählt sie: "Ich las in einem Buch, dass Amundsen in Grönland sogar das Leder persönlich prüfte, bevor er es für die Schuhe seiner Mannschaft in Auftrag gab!"
Mit ihrem Mann lebte Ingrid als zweite Frau von Gottfried Meyerhof seit den Achtzigern in Kanada. Ihm machte es Spaß, dass sie an seinem Geburtstag aus Santiago nach Halifax zog, wo er Dekan der Fakultät für Ingenieurwissenschaften war. Georg Gottfried Meyerhof, geboren 1916 in Kiel, war der älteste Sohn von Otto Meyerhof, Medizin-Nobeltreisträger von 1922.
Gottfrieds Schul- und folgende Studienzeit spielte sich in Kiel, Berlin, Heidelberg und schließlich in England ab. Für Söhne von Nobelpreisträgern gibt es nur zwei Möglichkeiten: "Entweder man wird genauso gut, oder man wird verrückt." Preise, besonders der höchste, sind eine ebenso große Ehre wie sie eine Bürde sind. Gottfried trat bald aus dem Schatten seines Vaters. Er profilierte sich auf dem Gebiet der Bodenmechanik, übersah den Entwurf und den Bau von Brücken und einer großen Zahl von anderen Hoch- und Tiefbauprojekten. Über zweihundert Papers belegen heute seine herausragende wissenschaftliche Kapazität. Er war "ein Arbeiter", sagt seine Witwe. Und Fellow zahlreicher Gesellschaften in Kanada und der ganzen Welt. 1999 erhielt er die höchste kanadische Auszeichnung, den Order of Canada.
VI.
Unser Mittagessen ist inzwischen beendet, und wir setzen unseren Gang durch Halifax fort. Wir brechen ins vornehme South End auf, wo Gottfried und Ingrid zurückgezogen zwischen hohen Bäumen lebten. Wir gehen über Young Avenue in Richtung Point Pleasant Park, vorbei an den Villen der Wohlhabenden. Zu fast jedem Haus fällt Ingrid eine Geschichte ein. Nur von wenigen Häusern kennt sie die Besitzer nicht. Und ihr Urteil über manche protzige Erweiterung eines ursprünglich bescheidenen Baus fällt harsch aus: "Da standen unbeschränkte Gelder zur Verfügung, und das kommt dann dabei raus." Staunend vermerkt sie die Anzahl Garagen, die zu manchem Haus gehören. Aber "wenn einer stirbt, wird verkauft."
Ingrids Pragmatismus erstaunt mich immer aufs Neue. Wie es denn war, auf einen anderen Kontinent zu ziehen? Es war eben so. Aber sie habe doch kein Spanisch gekonnt? Das lernt man schon. Wo ihre Heimat ist? Das weiß sie nicht. "Dort, wo ich hingespült werde." Der leichte Schlaganfall, den eine Freundin erlitten hat, ist auch "interessant" und lehrt, dass man im entsprechenden Fall rasch handeln müsse. Den Ausfall bestimmter Sprechfähigkeiten und die anschließende Therapie begleitet Ingrid neugierig. Eine andere Freundin leidet an der Alzheimerschen Krankheit. Offenbar schämt sie sich ihrer Vergesslichkeit. Daher vermeidet sie klare Aussagen. "Es gibt ja so viele Arten, sich zu drücken", seufzt Ingrid. Ich frage, ob sie das nervös mache. "Nein", sagt sie ruhig, "man muss Verständnis haben. Ich studiere das." In ihrer surrealen Kurzerzählung "Die Ente" kommt Ingrids lakonischer Ton vollends zum Tragen: "Ein Krieg brach aus und sehr viele Menschen starben, sie starben schneller als gewöhnlich. Dann war wieder Frieden."
Der Lakonismus hat seine eigene ganz musikalische Linienführung: "Ich saß am Tisch und aß", sagt sie deutlich, "mit Vergnügen." Dann macht sie eine Pause. "Am Nachbartisch aber saß jemand, der aß nicht mit Vergnügen", und hier steigert sich die Stimme, "sondern mit Wildheit." Schlussakkord, Ende der Beobachtung.
Eine Nachbarin in Halifax war Elisabeth Mann-Borgese, Thomas Manns jüngste Tochter. Mit 62 hatte sie eine Professur für Politik mit dem Spezialgebiet Meeresrecht an der Dalhousie University erhalten. Sie starb 2002 im schweizerischen St. Moritz an einer Lungenentzündung. Auch sie eine Frau mit großem Vater und professoralem Ehemann, auch ihre Familie von Selbstmorden überschattet. Ingrid begegnete ihr gelegentlich, und eines ist ihr in besonderer Erinnerung: Sie war jene Dame, selbst ausgebildete Konzertpianistin, die ihren Settern das Klavierspielen beigebracht hatte. Heute ist alles möglich.
Folgt man vom Schnittpunkt zweier Lebensläufe den Linien, die zu diesem Punkt führten, zeigt sich bald, dass die Linien zuweilen parallel verliefen. Auch Thomas Manns Frau Katia empfand ihre jüdische Herkunft als wenig prägend. Ihre Tochter Erika war bei Max Reinhardt ausgebildet worden, und ihre erste Liebe, der Verleger Klaus Landshoff, machte zur Behandlung seiner Tuberkulose einmal in Davos Station. Nachdem die Goerings Albert Einstein verpasst hatten, saß er mit Max Reinhardt und Thomas Mann in Princeton an einem Tisch, wo sich deutsche Emigranten trafen.
Auf unserem Spaziergang komme ich der Neunzigjährigen manchmal kaum nach. Bei starkem Wind überlege ich mir auf der Uferpromenade, ob es wohl vorkomme, dass Menschen ins Wasser geweht werden. Neben mir geht Ingrid mit entschiedenem Schritt voraus und hat offenbar solche Sorgen nicht. Ob sie Sport getrieben habe? Fit sei sie eigentlich immer gewesen, sagt sie, und ihre Spezialität waren Kopfstände. Beim Gang am Strand habe sie manchmal gefragt: "Soll ich einen Kopfstand machen?" Wenn alle ja sagten, habe sie einen Kopfstand gemacht. Einfach so. Und ich bin sicher, dass sie es auch heute noch kann. "Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel als Abgrund unter sich", hatte Celan gesagt. Doch im dunklen 20. Jahrhundert gibt es helle Flecken, Tage, an denen sich der Kopffüßler wieder umdreht. Man ist es eben so gewöhnt.
Wir sind zurück bei ihrem Zimmer. Ingrid schließt die Tür auf, dreht sich noch einmal um. Sie habe ein langes Leben gelebt, sagt sie, und fügt staunend hinzu: "Und immer noch weiß man nicht, wie und wann es zu Ende gehen wird."