Schnappschüsse der Germanistik zwischen Texten und Kontexten
Akten des Münchner Germanistentags 2004
Von Bernd Blaschke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAlle drei Jahre richtet der deutsche Germanistenverband einen mehrtägigen Germanistentag aus. Diese wissenschaftlichen und didaktischen Rummelplätze sind einer der wenigen Orte, an denen das aus vielen Unterdisziplinen, Forschungs- und Vermittlungsinteressen bestehende Fach sich als Ganzes versammelt - oder zumindest dieser Anspruch einer Vollversammlung besteht. In Wirklichkeit sind unter den vielen hundert Beiträgern und Teilnehmern der in viele Sektionen, Intersektionen, Workshops und einige wenige Plenarvorträge unterteilten Großkonferenz freilich oft wenige der bekannten Germanisten mit dabei. Denn die haben ja meist attraktivere, spesenträchtigere Einladungen zu anderen Konferenzen und Vorträgen. So finden sich bei diesen Verbandstagen, wie in anderen Fächern auch, vorwiegend die Jüngeren, die ihre Forschungen vorstellen und Kontakte knüpfen.
Früher wurden die vielen Vorträge noch in toto in mehrbändigen Tagungsakten publiziert. Fraglich, wer das lesen konnte und wollte. So ist es zu begrüßen, dass sich nunmehr die Sitte einzubürgern scheint, neben den aus Konferenzsektionen hervorgegangenen thematischen Sammelbänden einen Auswahl- und Überblicksband zu edieren. Dieser hat dann den Anspruch, den Stand des Fachs anhand der Leitthemen des jeweiligen Germanistentags zu dokumentieren. Insofern kommt ihm sicherlich auch die Funktion zu, die in viele partielle Fachöffentlichkeiten (in Form von Zeitschriften, Jahrbüchern oder auch Feuilletonartikeln) zersplitterte Germanistik zumindest in Form eines Schnappschusses, einer Momentaufnahme ihrer vielfältigen Diskussionen, abzubilden. Zu Recht wurde in den letzten Jahren im Schiller-Jahrbuch die Unübersichtlichkeit der Fachöffentlichkeit, die Publikationsflut aber auch der Publikationszwang gerade für jüngere Wissenschaftler in einem Debattenforum diskutiert. Fraglich, ob dieser Germanistentag-Band ein solcher Ort fachlicher Einheit und Verbindlichkeit sein kann.
Die Münchener Großkonferenz stand unter dem vagen Doppeltitel 'Germanistik in / und / für Europa. Faszination Wissen'. Zum Europabezug der Germanistik finden sich im Sammelband fast nur sprachwissenschaftliche Studien zu Themen wie Mehrsprachigkeit oder deutsche respektive EU-Sprachpolitik. Germanistische Literaturwissenschaftler scheinen zum Thema Europa wenig zu sagen zu haben; sie suchen ihre Grenzüberschreitung zumindest in diesem Sammelband lieber gleich mit Georg Forster in der Südsee, mit Thomas Mann in seinem mütterlichen Brasilien oder in der Alterität des Mittelalters unter der Sektionsüberschrift 'Ältere deutsche Literatur - Faszination fremder Literarizität'. Studien zum Europadiskurs der Schriftsteller, wie sie etwa P. M. Lützeler vorgelegt hat, scheinen hier kaum Aufnahme oder Fortsetzer gefunden zu haben. Vielleicht halten die Literaturwissenschaftler die Befassung mit Europa freilich auch für die Angelegenheit von Komparatisten oder überlassen sie den sogenannten Auslandsgermanisten. Von denen berichten einige über den Stand und die Probleme des Faches z. B. in Schweden, Russland, Polen oder Portugal. Das sind interessante, freilich doch sehr punktuelle Lageberichte, die einem Fach- und Forschungsüberblick, wie ihn das "Handbuch interkulturelle Germanistik" (hg. von A. Wierlacher, 2003) versuchte, nicht nahekommen.
Der Untertitel ,Faszination Wissen' wurde von den Literaturwissenschaftlern deutlich interessierter aufgenommen. Zwei neugermanistische Sektionen widmeten sich mit einer Vielzahl von Fallstudien dem Verhältnis zwischen den Wissenschaftsbezügen in literarischen Werken und ihrer epistemischen Umwelt. Angenehm fällt auf, dass das in den letzten Jahren zu einem der größten literaturwissenschaftlichen Forschungsfelder avancierte Paradigma ,Literatur und Wissenschaften' offensichtlich in die Phase feinerer Unterscheidungen getreten ist. Es geht nicht mehr vorrangig darum, die Ähnlichkeiten und Referenzen zu wissenschaftlichen Theorien und Praktiken in den literarischen Werken festzustellen und sie solcherart bruchlos zum bloßen Dokument eines Diskurses oder einer Episteme zu nivellieren. Viele der Beiträge, etwa zu Lichtenberg, Büchner oder zu ,Sprache und Wissen in der Moderne' beharren auf der ästhetischen Widerständigkeit literarischer Werke, die sich zwar auf Diskurse der Wissenschaften beziehen und doch eigensinnige Transformationen des Wissens vollziehen.
Die Vorträge dieser neugermanistischen Sektion zu ,Literatur und Wissen' werden als ein- bis vierseitige Zusammenfassungen publiziert. Gleiches gilt für die ebenfalls lesenswerten Abstracts der literaturtheoretischen Intersektion (d. h. einer Sektion, an der Vertreter aller Unterdisziplinen - mithin älterer wie neuerer Literatur, Linguistik, Didaktik und Landeskunde - partizipieren konnten) zum Spannungsverhältnis zwischen ,Aura' des Wortkunstwerks und Ratio seiner Analyse. In deren zehn knappen Skizzen wird das intrikate Verhältnis von poetischen Texten und literaturwissenschaftlichem aber auch anderem Methodenwissen debattiert.
Der Eindruck großer Buntheit, anregender Abwechslung, manchmal aber auch wundertütenhafter Beliebigkeit, den dieser Sammelband hinterlässt, rührt auch daher, dass ganz unterschiedliche Formate der Beiträge zum Abdruck kamen. Die eher wissenschaftspolitischen Workshops der Tagung werden durch ein- bis zehnseitige Zusammenfassungen ihrer Leiter dokumentiert; ebenso die Sektion zur Fachdidaktik, die sich der Leseerziehung widmet, und die Sektion zur ,Linguistischen Hermeneutik'; diese bietet zusätzlich noch einen instruktiven historischen Abriss zum methodischen Selbstverständnis der Sprachwissenschaft zwischen hermeneutischer und szientifisch positivistischer Diziplin.
Andere Sektionen druckten statt der Kurzversionen aller Beiträge einige ausgewählte Vorträge in extenso; so etwa die anregenden Studien aus der Intersektion ,das agonale Prinzip: Streitkulturen', die sich einer Kulturgeschichte des Sarkasmus, dem Verlauf der Andersch-Sebald-Debatte und dem agonalen Prinzip anhand der mittelalterlichen Frauenfigur der Gyburg widmen. Am interessantesten im Gewimmel dieser germanistischen Kurz- und Langformen, zu denen sich noch die Gattung der erbaulichen, eher politischen als wissenschaftlichen Eröffnungsrede (durch Jutta Limbach) und eines charmant feuilletonistischen ,Lobs der deutschen Sprache' (durch Thomas Steinfeld) gesellt, dürfte dabei die Kurzform sein. Auf drei oder vier Seiten eine wissenschaftliche These nebst Veranschaulichung am Material darzulegen, das ist eine Schlüsselqualifikation der Wissenschaftspräsentation, die man im Alltag unserer Fächer nur selten antrifft, die jedoch einigen der Beiträge hier (etwa zum Exzerpieren und Pfropfen als Verfahren Jean Pauls oder über Bildverlust und ironische Epiphanie bei Peter Handke) anregend und elegant gelingt. Ähnlich gelungene Shortcuts literaturwissenschaftlicher Forschung, übrigens auch vorwiegend zum Paradigma ,Literatur und Wissenschaften', legte kürzlich das Berliner Zentrum für Literaturforschung auf knapp hundert Seiten vor (unter dem Titel ,Trajekte Extra'). Diese Form pointierter, informativer und eleganter Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse in kurzen Texten ist gewiss eine wichtige Form der Selbstdarstellung für eine breitere Öffentlichkeit, die man nicht allein den Journalisten überlassen sollte.
Zum heiklen Thema ,die Germanistik und ihre Öffentlichkeit' bietet der Band auch einen materialreichen Plenarvortrag von Thomas Anz, der den nächsten Germanistentag in Marburg 2007 mitvorbereitet und im übrigen die germanistische und literarische Öffentlichkeit um das Internetorgan bereichert hat, das Sie soeben lesen. Anz verteidigt die Wissenschaft gegen oft ungerechte und uninformierte Zerrbilder in der Öffentlichkeit (etwa böse Artikel der ZEIT anlässlich des Münchner Germanistentages). Sein Plädoyer für eine engagierte Vermittlung der eigenen Forschungen in die breitere Öffentlichkeit verbindet er mit der Forderung nach einer Literaturgeschichte, die sich weniger der gattungspoetischen Entwicklung widmen solle sondern eher den anthropologisch und alltäglich relevanten Entwicklungen von Themen wie Krankheit, Tod, Lust, Liebe, Ehr- oder Schamgefühl. Dahingehende Studien, wie sie etwa Elisabeth Bronfen oder Peter von Matt geschrieben haben, fänden berechtigterweise mehr Resonanz als die ,zwanzigste Einführung in die Epoche der deutschen Klassik oder die fünfzigste Monografie zur Geschichte der Novelle'.
Die spannendsten 50 Seiten dieses Sammelbands vom Germanistentag sind vielleicht die vier Beiträge, die sich einem Rückblick auf den Münchner Germanistentag von 1966 widmen. Auf diesem epochalen Verbandstreffen wurde erstmals (und lange bevor dies bei den Historikern geleistet wurde) die nationalistische und nationalsozialistische Vergangenheit des Faches in einem größeren und prominenteren Rahmen thematisiert.
Die Hauptbeiträge von 1966 (von E. Lämmert, W. Killy, P. von Polenz und K. O. Conrady) wurden in einem legendären Band der "edition suhrkamp" publiziert. Nun haben zwei der Beteiligten, Lämmert und von Polenz, höchst informative Kontextualisierungen des damaligen Ereignisses nachgetragen. Sie schildern dessen schrittweise, umstrittene Planung und dessen Nachwirkungen in der Hochschulreform, aber auch in der fruchtbaren Marbacher Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik. Wer verstehen will, wie das Fach vor, in und nach den sechziger Jahren aussah, der findet in diesen vier Aufsätzen sehr lesenswerte Anekdoten, Argumente und Ausblicke auf personelle wie thematische Strukturen des Fachs. Ein ähnlich gelagerter Rückblick auf die Abwicklung oder Transformation der DDR-Germanistik nach 1989 war ebenfalls Gegenstand eines Workshops. Leider fanden sich keine der entlassenen DDR-Wissenschaftler zu diesem kritischen Rückblick ein. Doch lesenswert sind die zusammengefassten Diskussionen, an denen sich Beteiligte wie Eberhard Lämmert oder Jens Bisky und Fachgeschichtler wie Klaus Weimar oder Frank-Rutger Hausmann mitwirkten, allemal.
Einheit und Kohärenz sind in den Wissenschaften nicht unbedingt anzustrebende Werte. Spezialisierung und Ausdifferenzierungen der Themen und Methoden sind oft notwendig und hoch produktiv. Und doch irritiert bei den vorliegenden Einblicken, dass sich die Unterdisziplinen der Germanistik offenbar nicht allzu viel zu sagen haben. Gewiss freut es den Literaturwissenschaftler, dass sich Linguisten auf die hermeneutische Tradition der Sprachwissenschaft besinnen. Doch bleibt die Aufteilung beunruhigend, dass sich die Sprachwissenschaftler Europa und der Mehrsprachigkeit widmen, die Literaturwissenschaftler hingegen der 'Faszination Wissen'. Und noch die bedenkenswerten Überlegungen zur pädagogisch wertvollen Alterität des Mittelalters, etwa in Peter Strohschneiders Workshop-Bericht 'Altgermanistik und Schulpraxis', würden an Profil und schulpraktischer Realitätsnähe gewinnen, wenn man diese vergliche mit den Alteritätserfahrungen, die man an neuerer Literatur oder Fremdsprachenliteratur machen kann und soll. Eine streitbare Debatte über die Bedeutung, gar den Vorrang der Fremdheit der Antike, des Mittelalters, der Südsee bei Cook, Bougainville oder Forster sowie der Fremdheit postkolonialer Gegenwartsliteratur - das wäre gewiss noch relevanter als ein Lob der Fremdheit des Mittelalters oder des Exotischen bei Thomas Mann.
Wer sich ein gründlicheres Bild von der Lage der Germanistik machen will, als es reduktionistische Zeitungsartikel gelegentlich vermitteln, der findet auf den 600 Seiten ein brauchbares Album von recht realistischen Schnappschüssen. Ein vollständiger Überblick über Forschungstrends und modische Themen kann das nicht sein. Es fehlen in diesem Schaufenster etwa kompaktere Blöcke zu Fokus-Themen wie Editionsphilologie/Critique génétique, Computerphilologie (die war voriges Mal in Erlangen Hauptthema), Neurolinguistik, Emotionstheorien oder Frühneuzeitforschung. Aber immerhin: es ist die Selbstdarstellung der Beteiligten des Familientreffens 2004.
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