Kain oder Abel
Floortje Zwigtmans Roman " Wolfsrudel" sorgt für unruhigen Schlaf
Von Wolfgang Haan
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIon Brebu, der Erzähler in Floortje Zwigtmans Roman "Wolfsrudel", und seine Freunde Vulpe und Alexandru leben im 19. Jahrhundert in der Walachei. Sie haben genug vom dörflichen, ärmlichen Allerlei und der täglichen knochenharten Schufterei auf den Feldern. Sie streben nach Höherem. Doch für ungebildete, arme Bauernsöhne gibt es nur einen Weg, reich zu werden: Man wird Räuber. Diesen Weg ging schon Vulpes älterer Bruder Lupu. So schleichen sich eines Nachts die drei Freunde aus ihrem Heimatdorf und schließen sich Lupus "Bruderschaft der Wölfe" an.
Das Aufnahmeritual ist erniedrigend und brutal: Sie müssen sich zunächst Wolfsfelle und Holzmasken überziehen. Dann zwingt man sie, wie die Tiere aus Fressnäpfen ein undefinierbares Zeug zu essen, das "widerwärtig roch, nach fauligem Laub, Eiter, toten Tieren, das alles durcheinander. Die Flüssigkeit fraß sich wie flüssiges Feuer durch meine Speiseröhre bis tief in den Magen" - es handelt sich um eine Art Droge. Diese versetzt sie in einen Rausch, in dem sie Dinge tun, "für die man sich im Nachhinein schämt. Aber wenn ich an das denke, was noch kommen sollte, dann schäme ich mich für diese Dinge noch am wenigsten."
Die Freude über die Aufnahme in das "Wolfsrudel" währt nicht lange. Vulpe erträgt zunächst geduldig die Bevormundung und schlechte Behandlung durch seinen Bruder. Als er in einem nahe gelegenen See eine versteckt liegende, scheinbar unbewohnte Insel entdeckt, die sich ideal als Räuberhauptquartier eignet, ist er sich sogar sicher, dass er in der Achtung seines Bruders steigen wird. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Lupu ist gegen einen Umzug und lässt sich nur auf Grund des Drucks der restlichen Bande umstimmen. Kurz darauf weiß Vulpe, warum sein Bruder gegen die Verlegung war: Er und seine beiden Freunde entdecken ein sagenumwobenes Grab, dass Lupu schon lange Zeit sucht: Hier könnte Vlad Teppes seine letzte Ruhestätte gefunden haben - besser bekannt als Dracula. Nachdem sie das Grab geplündert haben und es ans Teilen der Beute geht, beansprucht Lupu als Hauptmann der Bande einen Großteil des Diebesguts. Dass sein großer Bruder auch noch das Prachtschwert Draculas für sich einfordert, macht Vulpe wütend. Bestärkt wird er in seinem Zorn durch einen Schafshirten, der auch auf der Insel lebt und zu seinem Ratgeber avanciert. Doch auch der zweite Bewohner der Insel, ein alter Einsiedler, beginnt sich mit orakelnden Aussprüchen in die Geschehnisse einzumischen und die Gedanken der drei Freunde zu verwirren. Keiner weiß, welche Ziele die beiden wirklich verfolgen oder auf wessen Seite sie stehen. Nicht zuletzt wegen der Einflüsterungen der "Ratgeber" beginnen die Ereignisse zu eskalieren. Vulpes aufgestaute Wut macht sich dadurch Luft, dass er eine eigene Räuberbande gründet, zu der ein Teil von Lupus alter Bande überläuft. Doch das reicht Vulpe nicht. Der Hass auf seinen Bruder ist so stark, dass nur noch ein Gedanke sein Denken beherrscht: Er will ihn töten - und das Schwert in seinen Besitz bringen.
Zwei Charaktere mit Kultcharakter
Floortje Zwigtmans Roman ist ein genial konstruiertes Drama von wahrhaft (alt)biblischem Ausmaß. Gewaltige Gefühle beherrschen die fesselnden Geschehnisse: ein klassischer Bruderzwist, ausgelöst durch Neid und Missgunst, Gewalt in vielen Facetten, Blutopfer und die reinigende Kraft des Feuers sind nur einige Aspekte der auf zwei Zeitebenen angesiedelten Geschichte. Ions Sohn erzählt die Geschichte seines Vaters und damit die der zwei Brüder Lupu und Vulpe. Parallel dazu erzählt Radu, Vlads Bruder, deren verhängnisvolle Geschichte, die im 15. Jahrhundert spielt. Statt der Präsentation trockener geschichtlicher Daten malt die Schriftstellerin ein fantasievolles und -anregendes Bild. Aus den beiden historischen Figuren werden zwei wagemutige, lebensechte Personen voller widerstrebender Gefühle, aus bloßen Jahreszahlen mitreißende Schlachten, aus der Abfolge von Thronfolgen Intrigen und hinterlistiges Taktieren. Sie erfindet Dracula nicht neu, doch völlig anders als alle bisherigen Schauerromane, in denen Dracula eine tragende Rolle spielt. Vampirismus kommt zwar im Buch vor, ist jedoch nur ein Nebenthema, das erst am Ende des Romans angesprochen wird. Und selbst hier schafft es die Autorin, den Leser mit ihrer Variante eines Vampirs dem Genre eine ungewöhnliche Komponente zu verleihen. Diese Fähigkeit, aus bekannt Geglaubtem Neues zu schaffen, ist eine der großen Gaben der Autorin, die neben ihrer bildschaffenden und leichten Sprache als nächstes ins Auge fällt. Mit dieser seltenen Fähigkeit ist es ihr gelungen, zwei Figuren zu erschaffen, die Kultpotenzial haben. Und auch hier spielt die Autorin wieder gekonnt mit den Erwartungen des Lesers: Es sind weder die Charakterpaare Vulpe/Lupu noch Radu/Vlad, die das Potenzial haben, Aufnahme in den Olymp der unsterblichen literarischen Figuren zu finden, sondern Ion/Alexandru könnte diese Ehre zuteil werden. Nun könnte man glauben, dieses Paar zeichne sich durch Rechtschaffenheit aus oder sei "Das Gewissen" der Bande. Doch Floortje Zwigtman vermeidet die Gefahr, diese beiden durch eine edle Gesinnung unglaubwürdig zu machen. Die Anziehungskraft von Ion und Alexandru resultiert unter anderem aus den brillant dargestellten Wechselwirkungen von Opportunismus, Gruppenzwängen und vielfältigen unbestimmten Ängsten (die auch diabolisch-maliziös von den "Beratern" geschürt werden) mit religiösen Betrachtungen, Verbundenheit mit alten Traditionen und Skrupeln vor der Skrupellosigkeit, der Verrohung, dem Tiersein - der Begriff des "Rudels" mit all seinen Implikationen wird von der Autorin genussvoll seziert.
Romane wie dieser zeigen uns die Sinnlosigkeit der Frage: "Was würdest Du in meiner Situation tun?" und führen uns zu der Erkenntnis, dass es "Die einzig richtige Entscheidung" nicht gibt. Viel wichtiger ist es, sich überhaupt zu entscheiden, diese Entscheidung zu akzeptieren und nicht Alternativen oder verpassten Gelegenheiten hinterher zu trauern. Und sollte sich die Entscheidung als Fehler herausstellen, muss man auch den Mut zu haben, diesen einzugestehen und daraus zu lernen.
"Wolfsrudel" kommt ohne plumpe Moral oder philosophisch-akademische Betrachtungen daher. Stattdessen konfrontiert uns Floortje Zwigtman mit einer Kernfrage des Daseins und erteilt gleichzeitig wie nebenbei einen der besten Ratschläge, den man nicht nur Jugendlichen mit auf den Weg geben kann.
Der Gerstenberg Verlag spricht für diesen Roman eine Altersempfehlung "ab 15 Jahren" aus. Diese ist auf Grund der geschilderten Ereignisse berechtigt. Dabei sind es nicht die wörtlichen Beschreibungen, die dieses Buch für jüngere Leser ungeeignet machen, sondern, im Gegenteil, die Dinge, die nicht beschrieben werden. Durch ihre literarischen Fähigkeiten erzeugt die Autorin sehr intensive Bilder, die möglicherweise zu einem unruhigen Schlaf führen könnten.