Die Einladung ins Haus des Osterhasen

Péter Esterházys Einrichtungen seines Wortraums

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man weiß, dass der Überschuss an Schokoladenosterhasen der vergangenen Saison herhalten muss für eine transsexuelle Mutation zu den künftigen Weihnachtsmännern. Und von denen finden sich im kommenden Frühling wiederum etliche zum Osterhasen umoperiert. Frischer Schnee von gestern, kalter Kaffee für morgen.

Im Jahr 1986 war in Ungarn Péter Esterházys "Bevezetés a szépirodalomba" erschienen, ein Konvolut aus neunzehn unterschiedlich langen, den verschiedensten Genres zugehörigen Texten, darunter Märchen, Schwank, Bildroman, Drehbuch, Opernlibretto, Anekdote, Tagebuch und Roman. Entstanden sind die Arbeiten zwischen 1978 und 1986. Wie später in deutscher Übersetzung sind auch in Ungarn zunächst einzelne Teile ausgesondert und als selbstständige Werke publiziert worden. Die komplette Sammlung, die solch bekannte Titel wie "Wer haftet für die Sicherheit der Lady?", "Kleine Pornographie Ungarns" und "Die Hilfsverben des Herzens" umfasst, liegt jetzt als "Einführung in die schöne Literatur" auf Deutsch vor.

Der Klappentext kann wie eine Einführung in die "Einführung" gelesen werden. Esterházy gibt darin Auskunft über die Entstehungsgeschichte des Werks und greift dabei auf die alte Metapher vom "Texthaus" zurück. Sämtliche Texte des Buches stehen, durch Querverweise, Zitate, Figuration oder szenische Wiederholungen, getreu dem Topos von den Gängen im Haus, miteinander in Verbindung. Die Rede vom Labyrinth, wie manch ein Kritiker sie vorgebracht hat, scheint indes wenig plausibel. Die "Einführung" kann eher im Sinne der Memoria-Metapher vom Haus als Einladung aufgefasst werden, einen Gedächtnisraum zu betreten, der, nach der antiken "Rhetorik an Herennius", als "Schatzhaus der Erfindungen" galt.

Die alphabetische Aufzählung von Ortsnamen zu Beginn zeugt vom Projekt des Aufbaus; da werden gleichsam die Baumaterialien des Hauses durchdekliniert. Alle Texte sind durchdrungen von versteckten und kenntlich gemachten Zitaten, von Paraphrasen, Transformationen, und am Ende des Buchs findet sich, komplementär zum Alphabet des Anfangs, eine alphabetische Auflistung von Autornamen, Namen der 'Baumeister', aus deren Werken "in wörtlicher oder verzerrter Form" zitiert wurde. Es käme einem ermüdenden und wenig instruktiven Suchen von Ostereiern gleich, wollte man möglichst viele Stellen ausfindig machen, wo Esterházy sich 'wörtlich' bedient und wo er 'verzerrt' wiedergegeben hat.

Zuweilen muten seine Spielereien heute etwas angestaubt an, die Witze und Kalauer nicht selten schal, abgestanden. Das Lachen bleibt nicht im Halse stecken, es kommt erst gar nicht so weit. Esterházy weiß darum, denn er vermerkt schon früh: "all dies ist ein wenig überdimensioniert, die spielerisch-ironischen Allusionen, die intellektuellen Scherze, die Wortspiele und Reminiszenzen eröffnen manchmal ein viel zu weites, gedanklich nicht ausreichend fundiertes Assoziationsfeld, sehr schöne schriftstellerische Vorstellungen, tiefe innere Assoziationen, zarte Andeutungen wechseln sich ab mit billigen Pointen und schwächeren schriftstellerischen Ideen". Diese Einsicht klingt wie ein placet in eigener Sache. Während heutzutage etwa die Versatzstückprosa von Arno Schmidt kaum mehr Aufsehen erregt und die James Joyce geschuldete Monumentalität eines Paul Wühr fast in Vergessenheit geraten ist, konnte das am "Ulysses" und "Tractatus" geschulte Experiment Esterházys in Ungarn als ein Affront, als dezidierte Zurückweisung der "Sprache als Uniform" gelten.

Mit der "Einführung" hat Esterházy seinerzeit einen Grundstein zur nachmodernen ungarischen Literatur gelegt. Heute haftet dem Werk bereits ein Klassikerstatus an. Einem Leitmotiv gleich geistert das Datum des 16. Juni durch die Zeilen - manch einer könnte das für einen running gag halten. Dass der 16. Juni jener Bloomsday aus dem "Ulysses" ist und dass am 16. Juni 1958 der ungarische Widerstandskämpfer Imre Nagy nach der gescheiterten Revolution von 1956 hingerichtet wurde, ist bekannt. Da treffen sich also zwei Anspielungen, die sich als bedeutsam aufspielen. Dass just am 16. Juni 2004 Esterházy den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, konnte er freilich damals nicht wissen, und dass der Schreiber dieser Zeilen ausgerechnet am Todestag Nagys geboren ist, dürfte ein merkwürdiger Zufall sein, eine Koinzidenz, über deren nahezu unheimliche Wesensart sich schon W. G. Sebald und der von Esterházy geschätzte Antal Szerb den Kopf zerbrochen haben. Zuweilen aber regt der Anspielungsreichtum mehr auf als dass er anregt. Getretener Quark wird eben immer noch breit, nicht stark. Ein Satz von Ronald Sukenick, den Esterházy nicht zitiert, "connections proliferate, meanings drop away", könnte als Motto über dem gesamten Unternehmen stehen. Die anfängliche Zerfahrenheit des Erzählens in "Die Flucht der Prosa" und "Indirekt" weicht allmählich einem gefestigteren, weniger brüchigen Erzählstil in "Agnes" und "Kleine Pornographie Ungarns".

Es ist, als sei die Prosa, die durch jene alphabetische Aufzählung den "Einzug der Wörter" in die ersten Teilstücke hält, tatsächlich noch auf der Flucht; eine Baustellenprosa, aus der dann im Verlauf der folgenden sechshundert Seiten die Konturen eines Hauses sich abzeichnen. Ein solches Gebäude ist selbstverständlich niemals bezugsfertig, derart dass man sich tatenlos, auf ewig, darin niederlassen könnte. Der Hausbau ist beständig Revisionen unterworfen, Erweiterungen, Berichtigungen auch. "Harmonia Caelestis" und die "Verbesserte Ausgabe" sind dafür ein Beleg.

Nach einem Drittel der Lektüre kann man in Esterházys "Einführung" Fuß fassen. Die über das ganze Buch verteilten Bildchen am Seitenrand, vor allem das Foto eines Engerlings und eine Tarotkarte des Gehängten, zeigen Verknüpfungspunkte an. Die Szene beispielsweise des Gangs der schwerkranken Mutter zur Toilette im Krankenhaus aus "Flucht der Prosa" kehrt wieder in "Die Hilfsverben des Herzens". Auch in "Agnes" hat die kranke Mutter einen Auftritt. Umgekehrt finden sich in "Kleine Pornographie Ungarns" Verweise zurück auf "Flucht der Prosa". Paraphrasen und Rekonstruktionen finden sich unzählige in der "Einführung".

Eine der offenkundigsten Bearbeitungen eines vorgegebenen Textes liegt in den "Kosztolányi-Rekonstruktionen" vor. Das Problem der Rückübersetzung stellt sich bei all den original deutschsprachigen Texten, die Esterházy in ungarischer Übersetzung in seinen Text aufgenommen hat und die sodann, in deutscher Übersetzung, selbst der Abänderung unterliegen. Ein Beispiel nur. In "Flucht der Prosa" heißt es: "Du mußt los. Deine Kleidung rauscht auf der Wendeltreppe. Stumm leuchtet die Kerze in der dunklen Stube, eine silbrige Hand löscht sie. Die Kastanie rührt sich keinen Hauch." Als Folie schimmern Trakls Gedichtzeilen aus "Sommer" hindurch, die beiden Strophen: "Nimmer regt sich das Laub / Der Kastanie. / Auf der Wendeltreppe / Rauscht dein Kleid. // Stille leuchtet die Kerze / Im dunklen Zimmer; / Eine silberne Hand / Löschte sie aus" Für den Übersetzer ist es in solchen Fällen schwer zu entscheiden, ob er, wie hier, das deutschsprachige Original einem Osterei gleich suchen soll, oder aber das ohnehin durch die ungarische Trakl-Version bereits im 'Original' 'Verzerrte' durch eine Rückübersetzung abermals 'verzerrt' - da die 'Verzerrung' der Übersetzung immer schon innewohnt.

Einmal ungeachtet solcher Probleme des Übersetzens soll ein weiteres Beispiel zeigen, wie Esterházy eine Texttransformation initiiert. Im Opernlibretto "Daisy", jeweils auf den linken Buchseiten abgedruckt, sagt die Figur Robi: "Aber sagen Sie, Mister Praecox, / Was für eine Szene ist das, / In die ich, armer Tropf, geraten bin!" In der Erzählung "Daisy", auf den rechten Seiten, heißt es unter dem Titel "unser Stolz ist unsere Ejaculatio praecox": "oh, Mr. Praecox, ich bin nur ein Tropfen auf einer heißen Madame Stein, in was für eine Szene bin ich da hineingeraten!" (Wie fein, eine Anspielung auf Charlotte von Stein). Und wenig später, in einer Regieanweisung: "Siegestrunken kommt Robi aus dem Pissoir, er pfeift, wirft uns Küsse zu. Das ist die sog. Praecox-Szene, ein Belohnungsspiel für die Robi-Variationen".

Esterházys Haltung als Schreibender ist erklärtermaßen die des Ironikers. Der Akzent liegt ihm dabei auf Witz (im Ungarischen übrigens als Lehnwort aus dem Deutschen gebraucht, 'vicc') und Humor. In "Kleine Pornographie Ungarns" schreibt er: "Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: Das bin ich ja zum Teil selbst. Diese Art Ironie - die konstruktive Ironie - ist im heutigen Ungarn ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht. Man hält Ironie (fälschlich) für Spott und Bespötteln. Mir ist aber jener Witz am liebsten, der als Fingerzeig, als ein Augenzwinkern für schwere, wesentliche Gedanken steht." Nun, als so konstruktiv mag sich diese Ironie nicht immer erweisen; und das Augenzwinkern als Deut auf schwere und wesentliche Gedanken - das könnte man glatt für einen Witz halten. Gleichwohl kann man Esterházy zugute halten, dass er einen ausgeprägten Sinn für das Burleske, schier unglaubwürdig Wunderbare hegt, wie etwa im "Märchen" vom Untergang und Wiedererstarken des Kommandanten Pogatschen; dass er ein Gespür entwickelt für die Absurditäten des (realsozialistischen) Alltagslebens, den Aberwitz, zum Beispiel in "Flucht der Prosa": "Er geht ins Badezimmer, gestern war es kalt, sie konnten die aus Ostdeutschland stammende Badewanne nicht benutzen, denn sobald sie den Stöpsel zogen, wurde der Fußboden geflutet, das Badezimmer hat keinen Schlüssel, und wie Labát Nagy bissig bemerkte, offenbar deswegen nicht, weil der Architekt, dieser Phantast, von vornherein wußte, daß der Schlüssel sowieso verlorengehen würde: deswegen hat er das WC neben den Eingang plaziert, damit man mit dem Fuß die Tür zuhalten kann." Als merkwürdig komisch dürfte sich auch die Szene ausnehmen, in "Agnes", in der zwei ausgewachsene Männer im Wohnzimmer mit einem Gummiball "Torschießen" veranstalten: "das verklebte Haar fiel ihnen in die Stirn, als hätten sie ein richtiges Fußballspiel ausgetragen, die Schüsse wurden schärfer, sie überstiegen den Rahmen, den sie zu Beginn festgesetzt und gebilligt hatten."

Dem Fußball als Passion ist Esterházys Buch "Deutschlandreise im Strafraum" geschuldet. Den Anlass zu dieser Reise gibt ein Auftrag des "SZ"-Magazins, der Autor solle sich in deutschen Landen einmal umsehen und seine Eindrücke schildern. Einer blitzartigen Eingebung gemäß wird er den Entschluss fassen, sich deutsche Kleinmannschaften anzusehen, die Concordia Eschersheim im Westen und den BC Hartha im Osten. In der sächsischen Provinz hat Esterházy 1970 selbst als Aktiver ein Spiel bestritten, "in den Farben des Arbeiterturnvereins Csillaghegy." Und in Frankfurt hofft er die Bekanntschaft zu einer fußballkundigen Lektorin wieder auffrischen zu können, deren Vater einmal Trainer in Husum gewesen ist. Die Studien über die Deutschen, den Fußball in Ost und West sowie Besuche beim heimischen Verein in Csillaghegy sollen eine Art "Vorarbeit" bilden zu einer "einfache[n] Geschichte", die dann zu schreiben wäre. Im Fußball scheint sich ein Land zu erkennen zu geben. Überhaupt kann dieser Sport als eine der letzten Emanationen Gottes auf Erden angesehen werden, eines Gottes, der Strafen verhängt und das Schicksal. In der Erfolgskurve eines Vereins mag sich auf überraschende Weise das eigene Leben spiegeln. Solche Feststellungen gelten freilich nur für vom Fußball Gezeichnete. In einer seiner vergleichenden Beobachtungen hält Esterházy fest: "Das deutsche Volk sieht im deutschen Schiedsrichter die Verkörperung und Garantie der Ordnung, ihm graut auf Grund seiner neurotischen geschichtlichen Erfahrungen vor dem Chaos, daher hütet es sich davor, diese Ordnung anzutasten." Und weiter: "Indessen sieht das ungarische Volk im ungarischen Schiedsrichter nicht die Ordnung, sondern die Macht, den Staat, die Obrigkeit, den Uniformierten, das heißt den Sartreschen Anderen, den Fremden." Reminiszenzen an die schmerzhafte Niederlage der Ungarn im Endspiel der WM 1954, eine Umschreibung gar des Verlaufs der damaligen Ereignisse auf dem Platz, dürfen natürlich nicht fehlen, genauso wenig wie eine Hommage an den legendären Spieler Ferenc Puskás, dessen Auftauchen im vergangenen Jahrhundert nach Esterházy geradezu eine Zeitenwende markiert: "Puskás ist die letzte Persönlichkeit des Fußballs, das letzte Aufblitzen und die Zusammenfassung der Modernität, der Weg zur einzigen Metapher." Das Entertainment hat das Spiel verdrängt. Beim Besuch dann in der sächsischen Provinz, am Spielfeldrand, wird Esterházy nach seinem Namen gefragt. Die Umstehenden lachen. "Vielleicht haben sie 'Osterhase' gehört, wie üblich (siehe Sowa-Dische-Enzensberger)." Da ist er also wieder aus seinem Verhau herausgehoppelt, der Osterhase, ins Haus der Sprache. Die Nennung der drei Namen in Klammern ist nicht von ungefähr. 1993 erschien eine bebilderte Geschichte, von Dische und Enzensberger verfasst, von Sowa illustriert, unter dem Titel "Esterhazy (Eine Hasengeschichte)". Drei Jahre darauf hat Esterházy sie ins Ungarische übersetzt, unter dem Titel "Esterházy. Egy házy nyúl csodálatos élete", zu Deutsch: "Esterházy. Das abenteuerliche Leben eines Haushasen". Das Haus (ungarisch: 'ház') wohnt im Namen. Und mit der "Deutschlandreise" ist ein weiterer Winkel im Gedächtnisraum belebt und ausstaffiert worden. Man kann das Buch über den "Strafraum" auch als einen jener Gänge im Gebäude der Sprache begehen, der bereits weiterführt zu einer "anderen Geschichte". Der Erzähler ist "eigentlich noch nicht darin, nur unterwegs dorthin."


Titelbild

Péter Esterházy: Deutschlandreise im Strafraum.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda.
Berlin Verlag, Berlin 2006.
185 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3827006449

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Titelbild

Péter Esterházy: Einführung in die schöne Literatur.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda, Zsuszanna Gahse, Angelika und Peter Maté, Terézia Mora und Hans-Henning Paetzke.
Berlin Verlag, Berlin 2006.
891 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3827005396

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