Ganz schön dick und doch oft platt

Ein Sammelband stellt das Science Fiction-Jahr 2006 vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei dem im Heyne Verlag erschienenen "Science Fiction Jahr 2006" handelt es sich um einen Stein von gut 1.500 Seiten. Wie bereits der Einband verrät, bildet "die Zukunft des Science-Fiction-Films" Schwerpunktthema des Bandes. Wie das Herausgeber-Duo Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke im Editorial berichtet, habe die ursprüngliche Konzeption des Schwerpunkts vorgesehen, "den Science-Fiction-Film in den verschiedenen Beiträgen aus jeweils klar definierten Blickwinkeln gewissermaßen bürokratisch einzugrenzen", um so "Schlüsse für den möglichen Fortbestand oder Nicht-Fortbestand des Genres" ziehen zu können. Die eintreffenden Essays hätten jedoch gezeigt, "dass sich der SF-Film wie kaum ein anderes Medienphänomen unserer Zeit wie eine Art ungebetener Gast auf allen Ebenen des kulturellen Stammhirns breitgemacht" habe. Darum sei die geplante "handzahme Abhandlung des Themas" verworfen worden und stattdessen ein "Marsch durch ein nach allen Seiten hin offenes Diskursfeld" angetreten worden. Bekenntnisse wie diese schrauben die Erwartungshaltung auf ein eher niedriges Niveau. Die polemischen Ausfälle der Herausgeber gegen die "akademisch-feuilletonistisch Zirkel" der "Kulturschickeria" und ihre vermeintlichen "Vorurteile und tautologischen Verreckungen" senkt sie noch weiter.

Die vom Antiintellektualismus eines solchen Feuilleton-Bashings geweckten Befürchtungen sieht man noch übertroffen, wenn man vom Editorial zu den Filmbesprechungen vorblättert. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen in einer von Vulgaritäten ("What is this shit?") durchsetzten und oftmals recht sinnfrei vor sich hinblubbernden Plapperprosa gehalten, deren Bemühen um einen lockeren, vermeintlich jugendkompatiblen Jargon nur angestrengt wirkt. So wird etwa Steven Spielbergs "Krieg der Welten" als "eine dem Geiste des H. G. Wells-Romans voll gerecht werdende Krawall-Adaption" charakterisiert. Die Beurteilungen sind größtenteils schlichtweg haarsträubend. Bryan Singers Film "X-Men" etwa wird mit den Worten getadelt, er wolle "den Figuren bleierne Tiefe verleihen", und stattdessen ein cineastisches Werk empfohlen, das "völlig mühelos, naiv und unbeladen daherkommt".

Ein anderer Film wird dafür gepriesen, dass er zwar "unfassbar debil und offensiv cheesy", aber immerhin "ein Riesenspaß" sei und den "kathartischen Durchrütteleffekt aufs erfrischend Unsubtilste" "unterstütz[t]". Lars von Triers "Dancer in the Dark" wiederum wird beiläufig als "überschätzt" abgetan. Der genaueren Erörterung einer strittigen Frage geht man mit der flapsigen Bemerkung aus dem Weg, dass man "auch wirklich lang und breit darüber konferieren" könne, was man natürlich unterlässt. Für Leute, die nur gucken, aber nicht lesen können, gibt es zudem eine wort- und wertlose Film-Bewertung, die bis zu sechs Sternchen verleiht. Allerdings kann man sich auch bei manch einer dieser Filmbesprechungen nur schwerlich des Eindrucks erwehren, sie sei wohl eher in ein Diktiergerät gestammelt als niedergeschrieben worden.

Nach der Lektüre der Filmbesprechungen kann es eigentlich nur noch besser werden. Und tatsächlich, das wird es auch. Nicht nur die AutorInnen der Hörspiel- und Buchrezensionen gehen - meist - weit ernsthafter zu Werke, auch die Schwerpunktbeiträge heben sich wohltuend von den Filmbesprechungen ab. Sind diese nicht nur indiskutabel sondern fast ausnahmslos eine Zumutung, so erweisen sich jene nicht nur als diskutabel, sondern können durchaus auch einmal anregend sein; selbstverständlich auch dort, wo man mit ihrem Verfasser (für das Buch durften - abgesehen von einigen kurzen Rezensionen - nur Männer zur Feder greifen) nicht konform geht.

In dem mit 16 Beiträgen und etwa 450 Seiten umfangreichen Schwerpunkt vertritt Raimar Zons die These, dass die Paranoia die Religion des posthumanen Menschen sei. Sven-Eric Wehmeyer findet die Verfilmungen von Comic-Superhelden "nahezu allesamt unglaublich belanglos bis schlecht" und konstatiert, dass aus der "flachen Masse" nur Bryan Singers "X-Men"-Filme und "Ang Lees überlange und überambitioniert seriöse King-Kong-Hommage" "Hulk" herausragt. Hans W. Giessen macht nach der bekannten Entwicklung von den Utopien der 1970er Jahre zu den Dystopien der 1980er und 1990er einen neuesten Trend hin zu als SF-Filme "verkappte[n] Videospielen" aus und fordert "komplexe Geschichten" statt "kompakte[m] Geballer". Sowohl Giessen als auch Zons kann man die Zustimmung schwerlich verweigern. Thomas Schärtl fragt, ob es nach "Matrix" noch einen SF-Film gebe und befindet in eigenwilliger Formulierung, dass der "Abgesang auf das Ende eines Genres" "verfrüht" kommt.

Rolf Giesens kritischer Genre-Geschichte wiederum mag zwar hier und da zuzustimmen sein, doch malt er sie - abgesehen von einem um 1970 aufblitzenden Lichtblick - so gänzlich Schwarz in Schwarz, dass sie in toto doch allzu düster ausfällt. Und in einigen Details liegt er geradezu atemberaubend falsch. Der 1932 in die Kinos gelangte Film "King Kong" etwa sei "präfaschistisch", lautet eines seiner Verdikte. Und warum? Nun, "Hitler selbst soll sich diesen Film wiederholt angesehen haben." Aha! Als Antwort auf die Frage, "Warum sich die Leute für Starship Troopers oder Schlimmeres begeistern?" legt Giesen Maila 'Vampira' Nurmis Statement nahe, demzufolge "heute jeder einen Dachschaden hat". Womit wenig über den Film gesagt ist, dafür aber deutlich wird, dass Giesen ausgesprochen ironie- und satireresistent ist.

Was allerdings durchaus nicht für alle Autoren gilt. Markus Koch etwa erkennt "Starship Troopers" als "kritische Parodie" und lobt zurecht seine "konsequent satirische Übertreibung". Dafür fällt sein Urteil über das "Star Trek-Universums", dem er eine "patriarchale, neokoloniale Ordnung" bescheinigt, doch arg undifferenziert aus, und Ripley zu den "Randfiguren" des Films "Alien - die Wiedergeburt" zu rechnen, ist mehr als merkwürdig. Georg Seeßlen, der prominenteste Schwerpunkt-Autor, bietet einen lesenswerten Beitrag zum Subgenre "Science Fiction Noir" und moniert aus leicht nachvollziehbaren Gründen an Roland Emmerichs einfallslosem "Warnungsfilm" "The Day after Tomorrow", dass er "fast so" auftrete, "als hätte es die Revolte der Science Fiction Noir nie gegeben".

Peter M. Gaschler preist hingegen diesen ökologischen Propaganda-Schinken, in dem SchauspielerInnen kaum mehr als Staffage sind, als Emmerichs "erste ernstzunehmende" Arbeit seit seinem "amerikafeindlichen Filmdebüt". Denn beide Filme Emmerichs, so freut sich Gaschler, machten Schluss "mit der Beweihräucherung westlicher Werte und Tugenden".

Neben Schwerpunktthema und Rezensionsteilen enthält der Band die beiden größeren Rubriken "Bücher & Autoren" sowie "Science & Speculation". In letzterem stellt Rüdiger Vaas hundert - wie er überschwänglich schreibt "exzellente" - Neuerscheinungen aus "Philosophie und Wissenschaft" vor. Tatsächlich handelt es sich ganz überwiegend um die übliche Durchschnittsware der Textsorte populäre Sachbücher. Karlheinz Steinmüller wiederum macht sich so seine "Gedanken zu Demographie und Science Fiction" und Tommy Lang setzt seinen in einem früheren Band begonnen "Spaziergang durch den Ablagekorb der Visionen" fort.

Unter der anderen Rubrik - "Bücher & Autoren" - versucht sich Ralf Reiter der Literatur John Harrisons mit einer metaphernreichen Sprache zu nähern, die auch schon mal eine Stilblüte hervortreibt. Bereits "beim ersten irritierten Lesen" von Harrisons Werken "ahnte" der Autor, "dass es sich hier irgendwie um wertvolle Literatur handelt", in der sich "unaussprechliche Dinge und große Rätsel" verbergen. Denn "Harrisons Semiotik ist eine verdrehte, dekonstruktivistische, buchstäblich übersinnlich[e]". Womit etwa das sinnfreie Niveau der Film-Besprechungen erreicht wäre.

Etwas lesbarer, wenn auch kaum konsensfähig, ist da schon Thomas M. Dishs Essay über die "Ikonen der Phantastik und die Quellen der modernen Science Fiction". Das "Spektrum der SF im Fernsehen", vermerkt er gallig, reiche von "ziemlich bis ausgesprochen schwachsinnig". Ausgenommen will er nur "Wiederholungen von Kinofilmen" wissen. Da wir uns jedoch nicht im Schwerpunkt sondern in einer Rubrik befinden, die der geschriebenen SF gewidmet ist, wendet er sich bald von Film und Fernsehen ab und dieser zu, unterstreicht jedoch gleich die "wesentliche Tatsache", dass es bei ihr nicht um Literatur gehe. Wagt er sich über den Horizont des SF-Genres hinaus und in die 'wirkliche' Literatur hinein, gerät er leicht mal ins Straucheln und rechnet Camus den "frühen Modernisten" zu

Michael K. Isoleits Interesse gilt William Gibsons "unabgeschlossene[r] Science-Fiction-Revolution". Schnell, nachdrücklich und zur Freude des Rezensenten macht er deutlich, dass er von Gibsons Spaghetti-SF nicht allzu viel hält. "Neuromancer" sei "mindestens zur Hälfte und die beiden Folgebände der Sprawl-Trilogie vollends missglückt". Auch habe der vermeintliche Großmeister des Cyber-Punks "keinesfalls eine neue Schule oder Bewegung in der Science Fiction begründet", sondern nur eine "bestimmte Attitüde ins Genre eingespeist, einen Komplex von thematischen und, mehr noch, atmosphärischen, visuellen und sprachlichen Elementen".

Im weiteren bietet der vorliegende Band - nicht wie das Inhaltsverzeichnis ausweist zwei, sondern - drei Interviews. Das dritte, mit H. R. Giger, verbirgt sich in Uwe Neuholds Bericht über seine "Reise ins Schweizer Dreieck der Phantasie". Schade bloß, dass Giger nur noch wenig Bedeutendes zu seinem in den 1970er Jahren doch immerhin bahnbrechenden Werk zu sagen hat.

Interessant hingegen ist das Interview mit Mitherausgeber Wolfgang Jeschke, einem Urgestein der deutschen SF-Szene. Allerdings reicht auch sein Blick über die engen Grenzen des Genres nicht hinaus. Was sich dort, in der "Mainstream-Literatur" - dies scheint ihm alles jenseits der SF zu sein - tut, interessiert ihn schlicht nicht, denn die sei "nicht nur vergleichsweise intim, sondern zu oft phantasielos". Angenommen einmal, das träfe zu, so gilt zumindest letzteres für das Gros der SF-Literatur nicht minder.


Titelbild

Sascha Mamczak / Wolfgang Jeschke (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2006. Die Zukunft des Science-Fiction-Films.
Heyne Verlag, München 2006.
1514 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3453521838

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