Im Osten nichts Neues

Kritikerliebling Ottessa Moshfegh hat eine ebenso grausame wie brutale Parabel geschrieben, die unsere Gegenwart sezieren soll

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder von Ottessa Moshfeghs bis heute veröffentlichten Romanen war eine literarische Stilübung, was der amerikanischen Autorin zu Unrecht den Ruf einer genialen Wunderschriftstellerin eingebracht hat. Hier geht der Begriff ‚Meisterwerk“ bei Kritik und Kollegen allzu schnell über die Lippen, wie auch das Zitat von Theresia Enzensberger auf dem Schutzumschlag von Moshfeghs neuestem Werk Lapvona illustriert. Dabei waren ihre bislang vier Romane nur leidlich originell oder interessant, einzig ihr dritter, Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, stach hierbei etwas heraus. Nach der misslungenen Paranoia-Thriller-Pastiche Der Tod in ihren Händen nun also ein – möglicherweise (Zeitangaben gibt es keine) – im Mittelalter angesetztes Märchen, das unübersehbar als Parabel auf unsere unruhige Weltlage und nicht zuletzt auch auf Russlands Krieg gegen die Ukraine gedacht ist.

Dabei geht es vor allem um Eines: die Darstellung extremer Grausamkeit und menschlicher Niedertracht. Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden, denn Moshfegh gelingt im Laufe des Romans das Kunststück, keine ihrer Figuren auch nur im Ansatz sympathisch zu gestalten. Jedes Mal, wenn man mit einem Opfer jener menschlichen Niedertracht Mitleid empfindet, schildert sie entweder dessen nicht weniger niederträchtige Gedanken oder zeigt als Reaktion die nächste Stufe der Verrohung. Die Figuren befinden sich gar in einer unaufhaltsamen Verrohungsspirale, die nicht aufzuhalten ist, sondern von einem unsichtbaren und hasserfüllten Gott scheinbar immer noch ein Stück weitergedreht wird.

Das reduzierte Setting hilft bei der Zeichnung dieser irdischen Hölle: Das fiktive Dorf Lapvona – geht man nach den Namen der Bewohner, wohl irgendwo in Osteuropa gelegen –, in dem die Menschen in unvorstellbarer Armut leben, wird regiert von einem ebenso wahnsinnigen wie degenerierten Fürsten, der in einem prächtigen, von unüberwindbaren Soldaten bewachten Schloss auf dem Hügel residiert und den Menschen im Dorf noch das Letzte an Geld und Nahrungsmitteln raubt, sie, um seine Macht zu festigen, terrorisiert, hinrichten lässt, aushungert. Im Mittelpunkt des ausbeuterischen Elends steht allerdings die Kirche und der Glaube, der die Menschen erst zu Sklaven werden lässt, weil er ihnen das Paradies als Belohnung für die irdischen Leiden verspricht. Der skrupellose Dorfpriester nutzt dies selbstredend zum eigenen Machterhalt aus, doch ist auch er nichts weiter als eine Marionette in einer von Machtgier und Sensationslust getriebenen Welt. Religion, der katholische Glaube, ist für Moshfegh die Pforte, welche die Niedertracht erst in die Welt lässt. Eine beileibe nicht neue, aber selten in solch entwaffnender Radikalität geschilderte Vorstellung.

Der Höhepunkt der Grausamkeit wird zur Hälfte des Buches erreicht, als eine beispiellose Dürre die Region trifft – auch dies ein Verweis auf unsere Zeiten – und die Menschen nichts mehr anpflanzen können, unter Hunger leiden und zuguterletzt anfangen, sich gegenseitig aufzuessen. Es sind vor allem diese Szenen, welche die Autorin genüsslich ausweidet. Zugleich schildert sie recht eindringlich den Weg eines Landwirts, der zuvor aus Tierliebe sogar Vegetarier war, nun aber nach und nach einen menschlichen Leichnam verspeist, bis nur noch der Torso übrigbleibt.

Nachdem dieser Ekelhöhepunkt erreicht ist, beginnt das Buch im zweiten Teil auf erschreckende Weise zu verflachen. Das Setting verlagert sich vom Dorf ins Schloss und auf den Alltag des irren Herrschers Villiam. Leider ist diese Figur in dem Versuch, Grausamkeit als Folge eines durch Macht korrumpierten kindlichen Gemüts zu zeigen, völlig überzeichnet und misslungen; ein Klischeebild vom wahnsinnigen Herrscher, dem man schon unzählige Male begegnet ist. Gleichzeitig verliert der Roman immer weiter den Fokus. Die familiären Verwicklungen werden zunehmend undurchdringlicher (und erinnern hierin ein wenig an die TV-Serie Dark), was wohl zeigen soll, dass alle Menschen irgendwie miteinander verwandt sind. Und das als schockierend gedachte Ende kann nicht mehr schockieren, weil man in dieser zweiten Hälfte des Romans den Bezug zu den Figuren längst verloren hat, den man sich in der ersten Hälfte noch mühsam durch all die von ihnen verübten Grausamkeiten aufgebaut hat.

Was bleibt, ist die sprachliche Gestaltung, die Moshfegh beim Wildern in verschiedenen Gattungen stets am wichtigsten ist. In Lapvona nimmt sie den Ton des Märchens an und zugleich setzt sie auf einen allwissenden Erzähler, der abwechselnd die Gedanken der Protagonisten zeigt und reflektiert. Dies führt dazu, dass die Leser*innen den Figuren stets mehrere Schritte voraus sind und sich mitunter an deren Unwissenheit und Naivität weiden können. Das wiederum lässt aber ein mitunter ungutes Gefühl der moralischen Überlegenheit aufkommen, welches dem Roman keinesfalls guttut. Obgleich es die Autorin bewusst unterlässt zu moralisieren, werden die Leser*innen regelrecht dazu gezwungen, einen absoluten moralischen Standpunkt einzunehmen – gerade weil die Figuren so eindimensional verkommen sind, weil dies, das wohl am Ende die Botschaft von Lapvona, einfach das Wesen des Menschen ist.

Splatter- und Mittelalter-Freunde werden ihren Spaß an dem Buch haben. In der Figur der Ina (die der Autorin, mehr als alle anderen noch, am Ende leider völlig entgleitet) kommt sogar ein Folk Horror-Moment in den Roman, der leider nicht weiter verfolgt wird. Wer aber an intelligenten Parabeln über unsere Gegenwart seine Freude hat, wird hier arg enttäuscht werden.

Titelbild

Ottessa Moshfegh: Lapvona.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
336 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446275843

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