Literatur als Instrument der Gegenwartsanalyse

Die Germanistin Eva Horn über den Wandel des Klimabegriffs, die Notwendigkeit wissenschaftlichen Austauschs und Literatur des Anthropozäns

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Eva Horn (*1965) ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Sie forschte und lehrte zuvor in Konstanz, Frankfurt/Oder, Basel, der New York University und der Columbia University. Zu ihren Schwerpunkten gehören Literatur und Kunst im Anthropozän, Klima in der Kultur- und Literaturgeschichte sowie Narrative der Katastrophe. Zuletzt veröffentlichte sie zu diesen Themengebieten die Monographien Zukunft als Katastrophe: Fiktion und Prävention (Fischer 2014) und, zusammen mit Hannes Bergthaller, Anthropozän – zur Einführung (Junius 2019).

 

Eine der Kernaussagen Ihres Buchs Zukunft als Katastrophe von 2014 ist, dass Klima als Motiv in der Literatur kaum darstellbar sei, da es kein ‚Ereignis‘ ist. Auf welche Weisen findet ‚Klima‘ denn Eingang in die Literatur und an welche Grenzen stößt diese dabei?

Das ist richtig, Klima ist kein Ereignis, sondern eher ein Zustand. Es zeigt sich aber in bestimmten Phänomenen. Eigentlich geht es dabei um zwei Fragen: Erstens, wie man Klima in Texten lesen kann. Diese Frage betrifft die Aufmerksamkeit der Leserin. Die andere Frage ist, wie sich das Klimaverständnis historisch verändert hat. Vielleicht fange ich mal mit dieser zweiten Frage an, weil der ältere Klimabegriff sehr interessant ist, aber uns auch total fremd und ein bisschen anrüchig.

Dieser Klimabegriff stammt eigentlich aus der Antike und besagt, dass Klima das ist, was die Gesamtheit der Umweltbedingungen – Wasserquellen, Bodenbeschaffenheit, Pflanzenbewuchs, Winde, die Intensität der Sonneneinstrahlung – an einem bestimmten Ort prägt. Klima ist hier also nicht etwas Planetarisches, sondern eine Ortsgegebenheit. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine bis ins frühe 20. Jahrhundert sich zwar wandelnde, aber doch kontinuierliche Tradition, die besagt, dass Klima die Besonderheit eines Orts ausmacht und seine Bewohner prägt.

Das ist natürlich recht deterministisch gedacht. Und so wird es spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann im 20. Jahrhundert tatsächlich auch ausformuliert: Bestimmte Kulturen, so heißt es, könnten keine Hochkulturen werden, weil dort das Klima so schwierig sei. Mit dieser Perspektive unterscheidet man „bessere“ von „schlechteren“ Klimata. Kein Zufall, dass dabei das „beste“ Klima immer das ist, in dem der Autor oder die Autorin lebt, der oder die die Klimatheorie formuliert.

Die andere Frage betrifft die Darstellbarkeit von Klima in der Literatur – oder seine Lesbarkeit. Hier gibt es lange eine klare Hierarchie. Im Vordergrund der Handlung agieren die Menschen, das Klima bildet nur den stummen und kontinuierlichen Hintergrund, der manchmal kurz thematisiert wird. Manchmal unterstreicht das Wetter die Dramen, die sich zwischen den Menschen abspielen. Aber es bleibt immer Hintergrund, Bühne. Dieses Verständnis von Klima als Hintergrundphänomen macht es natürlich schwieriger darstell- und lesbar.

Und in der Gegenwartsliteratur?

In der heutigen Climate Fiction wird das Klima als hochgradig aktives und komplexes Phänomen geschildert, aber natürlich stehen im Vordergrund dann doch die sozialen Verhältnisse, die sich aus diesem Klima – zum Beispiel extreme Trockenheit, Hitze oder Kälte – ergeben. Auch hier haben wir die Aufteilung in Vordergrund und Hintergrund. Im Vordergrund spielen sich die Konflikte der Protagonisten ab, und das Klima ist sozusagen die Bühne dafür. Nur dass es in der heutigen Cli-Fi viel extremer wird und die Menschen vor extreme Herausforderungen stellt.

Klima ist also nicht grundsätzlich undarstellbar. Wichtig ist aber zu verstehen, dass sich der Begriff massiv verändert hat. Was wir heute als Klima definieren, ist geprägt durch den Klimatologen Julius von Hann, der Klima Ende des 19. Jahrhunderts ganz neu bestimmte: als „durchschnittliches Wetter“ an einem Ort. Das ist der Beginn der modernen Klimatologie. Seitdem haben wir es mit einem sehr abstrakten Klimabegriff zu tun, der zwar wissenschaftlich korrekt ist, aber sich eigentlich nur noch errechnen lässt.

Es geht nicht mehr um die sozialen Praktiken, menschlichen Stimmungen oder medizinischen Probleme, die man spüren und diskutieren kann und die alle dem Klima zugeschrieben wurden. Es geht heute um „globale Jahresdurchschnittstemperaturen“, die man zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort der Welt sinnlich erleben kann. Dieses Verständnis macht das Klima eben so schwer greifbar.

Kann Literatur ein spezielles Wissen über Klima vermitteln, das über die Reproduktion historischer und naturwissenschaftlicher Fakten hinausgeht?

Die Gegenwartsliteratur muss sich jetzt mit der Tatsache auseinandersetzen, dass ihr durch den Klimawandel Klima als Sujet weggenommen, zugleich aber durch die Naturwissenschaften wieder zurückgespielt wird. Viele Bücher machen das, indem sie versuchen, wissenschaftliches Wissen popularisiert darzustellen. Insofern partizipieren diese Bücher stark an einer Art klimatischer Aufklärungsarbeit nach dem Motto: ‚Wenn das Klima sich ändert, ändert sich alles für euch! Leute, glaubt den Naturwissenschaftlern!‘.

Das sind zumeist dystopische Romane, die Klimawandel greifbar, konkret vorstellbar machen wollen, wie etwa Paolo Bacigalupis Roman The Water Knife, der von einer massiven Dürre im US-amerikanischen Südwesten ausgeht. Ein anderes Modell ist das Buch Alice, der Klimawandel und die Katze Zeta von Margret Boysen. Es ist der Versuch, mit literarischen Mitteln und auf eine sehr anschauliche, witzige Art naturwissenschaftliches Klimawissen verständlich zu machen. Oder auch Erste Erde: Epos von Raoul Schrott, das die ganze Geschichte des Planeten in einem formal sehr ambitionierten, literarischen Experiment zu fassen versucht. Anders als bei dem Buch von Boysen, kann man hier nicht mehr sagen, dass Literatur bloß zum Vehikel für naturwissenschaftliches Wissen wird. Vielmehr wird naturwissenschaftliches Wissen, das wir heute haben, zum Gegenstand eines extrem ehrgeizigen literarischen Versuchs, der sich auch ganz intensiv mit der Geschichte von literarischen Formen auseinandersetzt. Da geht es nicht darum, sich zum Pressesprecher der Klimatologie zu machen. Raoul Schrott ist sicher kein bloßer Umweltaktivist, das Buch ist wirklich eine Herausforderung.

Aber die besten Bücher sind eben gerade als Literatur interessant. Die sind nicht geschrieben, um Leute zu aktivieren, sondern versuchen, auf interessante Weise die Frage zu beantworten „Was wäre wenn…?“. Es geht zunächst darum, die Möglichkeiten des Klimawandels durchzuspielen.

Über Unterhaltung hinausgehend haftet der Climate Fiction doch immer ein politischer Appell an, würde ich sagen. Hat Ihrer Meinung nach Gegenwartsliteratur, die sich mit dem Klimawandel befassen will, ein Stück weit politische Verantwortung? Zumindest gibt es ja Autor*innen wie z. B. Jonathan Franzen, die sich da scheinbar in der Verantwortung sehen.

Warum sollte ausgerechnet Literatur, die sich mit Klimawandel beschäftigt, eine spezielle politische Verantwortung haben? Als Bürgerinnen und Konsumenten haben wir alle eine politische Verantwortung, aber nicht als Literaten. Wenn Literaten diese Verantwortung übernehmen, dann tun sie das nicht, weil sie Autoren sind und glauben, Literatur hat diesen Job. Sie äußern sich als Bürger, die sich besonders gut ausdrücken können oder als Intellektuelle eine bestimmte Verantwortung haben. Sie sind in der Lage, Dinge zu sagen, die sonst nicht gehört würden.

Aber Literatur hat nicht per se die Aufgabe, wie der Pfarrer in der Kirche irgendwem etwas zu predigen! Literatur hat vor allem die Aufgabe, gute Literatur zu schreiben. Das kann ein wahnwitziges Formexperiment sein wie bei Raoul Schrott oder aber auch eine süffige Literatur wie bei Jonathan Frantzen, mit der die Leute sich identifizieren können. Aber selbst sein Roman Freedom, in dem es um Umweltaktivismus geht, hat nichts mit echtem politischem Engagement zu tun. Eher reflektiert er die Geistes- und Gemütszustände von AktivistInnen. Allerdings gibt es tatsächlich engagierte Literatur, wie etwa Richard Powers‘ Roman The Overstory, der zugleich sehr viel Umweltwissen transportiert, ein deutliches Plädoyer vorträgt und durch seine formale und erzählerische Komplexität zugleich noch exzellente Literatur ist.

Sie forschen als Literaturwissenschaftlerin außergewöhnlich transdisziplinär, stehen z.B. beim Klimathema mit verschiedenen Naturwissenschaften im Austausch. Sollte Ihrer Ansicht nach die deutsche Literaturwissenschaft allgemein offener, d.h. transdisziplinärer werden?

Es wäre sehr vermessen, wenn ich jetzt meinen KollegInnen erklären würde, wie sie ihren Job machen sollen. Ich sehe mich selbst mittlerweile eher ein bisschen außerhalb der normalen Literaturwissenschaft, die sich mit genuin literaturhistorischen Fragen auseinandersetzt. Ich nutze Literatur oft auch als Gelegenheit, um mich mit Themen zu beschäftigen, die eben nicht allein literarischer Natur sind, wie Verrat und politische Geheimhaltung, wie Katastrophen und ihre Prävention oder eben auch mein jüngstes Thema, Klima. Literatur kann etwas, das sonst sehr schwierig oder trocken ist, nämlich zu fragen „Was wäre wenn…?“ Sie kann Möglichkeiten durchspielen und ist so das vielleicht wichtigste Instrument unserer Imagination. Als solche ist sie aber auch eine Gegenwartsanalyse, entweder eine aktuelle, von heute, oder eben auch eine aus der Vergangenheit.

Ich lese gerne alte Texte und versuche dann, mit Fragen, die wir heute haben, diesen Text in seinem historischen Kontext neu aufzuschließen. Die Hermeneutik nannte das mal „Horizontverschmelzung“. Das ist nicht wahnsinnig außergewöhnlich in der Literaturwissenschaft, aber ich glaube, ich treibe das zu einem gewissen Extrem, indem ich auch außerliterarische Fragen auf diese Weise beantworte. Klima mag uns nicht als „literarisches“ Thema erscheinen. Aber Literatur ist ein extrem feines Instrument, um z.B. die verschiedenen Klimabeobachtungen im Laufe der Geschichte zu entziffern, um zu zeigen, wie Klima den Körper oder die Stimmungen von Menschen beeinflusst, oder wie Klima als soziales Medium funktioniert. Genau um diese Dinge geht es mir in meiner aktuellen Arbeit.

Was versprechen Sie sich von Ihrer speziellen Arbeitsweise?

Ich glaube wir können heute nicht mehr einfach nur Fachwissenschaftlerinnen sein. Ich habe diesen emphatischen Gegenwartsbezug und stelle mir immer die Frage, was kann ich als Literaturwissenschaftlerin zur jetzigen Situation sagen. Aber ich war auch immer sehr von anderen Fächern und Forschungsfragen fasziniert und frage mich, was andere Forscherinnen dazu zu sagen haben. Was nicht mehr geht ist, sich in seiner Disziplin zu verbunkern. Die scheinbar „apolitischen“ Klimawissenschaften haben das schmerzhaft gelernt – plötzlich war das, was sie gemacht haben „Politik“. Es ist fundamental wichtig, nicht nur als Wissenschaftler öffentlich aufzutreten, sondern auch, sich gemeinsam auszutauschen. Das Anthropozän ist eine bedrohliche Diagnose, aber auch ein dringlicher Aufruf, aus dem Elfenbeinturm herauszukommen. Und es ist ein fantastischer Gegenstand für eine multi-disziplinäre Herangehensweise. Es gibt nicht nur unglaublich wichtige naturwissenschaftliche Einsichten in die gegenwärtige Veränderung der Welt, es gibt auch eine Literatur des Anthropozäns, Ästhetiken und Poetiken des Anthropozäns. Um diese zu analysieren, muss Literaturwissenschaft sich mit naturwissenschaftlichem Wissen auseinandersetzen, denn die Autoren tun es auch.

Das heißt aber auch für Wissenschaftlerinnen, Texte zu schreiben, die ein intelligentes und interessiertes Publikum lesen kann, das nicht nur aus Germanistinnen besteht, und Fragen zu stellen, die über unsere Fachgrenzen hinausschauen. Ein Vorbild ist zum Beispiel der Geologe Jan Zalasiewicz, der Vorsitzende der Anthropocene Working Group, der brillante, aber auch für jeden interessierten Laien lesbare Bücher schreibt, das berühmteste vielleicht Die Erde nach uns. Ich finde es unglaublich wichtig, dass Wissenschaftler sich auch einem großen Publikum stellen und Position beziehen. Wir müssen als scientific community über Disziplingrenzen hinaus zusammenkommen, aber auch gemeinsam den Mund aufmachen, also auch als public intellectuals auftreten. Da nehme ich zurzeit eine Veränderung wahr, die ich spannend und schön finde.

Was können denn die Naturwissenschaften von den Literaturwissenschaften lernen?

Dass es Dinge gibt im menschlichen Leben, die nicht messbar sind, aber spürbar, sagbar, erzählbar, beobachtbar. So zum Beispiel mein aktuelles Lieblingsthema, das Klima. Wir leben in einem Zeitalter der Wissenschaften, alles muss messbar, berechenbar, modellierbar sein. Es gibt aber auch einen Zugang zum Klima, der sensorisch ist oder emotional, affektiv. Wir brauchen ein ästhetisches Sensorium für die Welt, in der wir leben, als Gegenpol oder Ergänzung zur Verwissenschaftlichung und Technisierung unserer Welt.

Diese Aisthesis, als eine reichhaltige Wahrnehmung mit allen Sinnen, aber auch als die Umsetzung dieser Wahrnehmungen in Sprache, verhilft uns zu einem reicheren Begriff von Wirklichkeit. Das ist das, was wir Geisteswissenschaftler den Naturwissenschaftlern zu sagen haben. Wir haben ein gemeinsames Problem und müssen uns ergänzen in der Analyse und Beschreibung dieses Problems.

Das Problem ist der Klimawandel?

Das Problem ist das Anthropozän. Das ist ein sehr komplexer Sammelbegriff für viele verschiedene Dimensionen der planetarischen Umweltveränderung, die im Moment in zunehmender Beschleunigung stattfinden: Natürlich der Klimawandel mit allen ökologischen Störungen, die damit einhergehen (wie die Versauerung der Meere, die Änderung von Wasserzyklen und Landschaften, das Schrumpfen von Permafrostzonen und der Anstieg des Meeresspiegels), aber auch Artenschwund, der Zustand der Ozonschicht, zunehmende Luftverschmutzung, die Änderung wichtiger Stoffkreisläufe und vieles andere mehr. All das spielt eine Rolle und steht miteinander in Verbindung. Wir verstehen einiges davon, aber wir verstehen noch lange nicht genug. Deshalb mag ich den Begriff des Anthropozäns: Er macht die Sache zwar komplizierter, aber er wird der hochkomplexen Veränderung des Planeten durch Einwirkung des Menschen gerecht.

Was verstehen Sie unter der Literatur des Anthropozäns? Ist es ein Genre, ist es eine Epoche…?

Literatur des Anthropozäns ist Literatur, die sich mit dieser planetarischen Veränderung auseinandersetzt. Das heißt auch, dass das nicht an Gattungen oder Themen gebunden ist. Zudem haben wir Literatur des Anthropozäns, lange bevor es diesen Begriff gab. Ein schönes Beispiel ist Max Frischs Roman Der Mensch erscheint im Holozän von 1979. Vom Begriff „Anthropozän“ weiß Frisch noch gar nichts. Aber es geht um Erdgeschichte und planetarische Veränderungen, wobei Klima und Umweltveränderungen auch eine Rolle spielen, allerdings in gigantischen Zeiträumen. Frisch handelt von Erdgeschichte, Artengeschichte, und nicht zuletzt vom Menschen als Spezies. Der Protagonist ist ein älterer Mann, der allein in einem abgelegenen Dorf im Tessin lebt, und offensichtlich eine Demenzerkrankung hat. Während draußen sturzbachartige Regenfälle heruntergehen, denkt er über die geologische Geschichte des Tals nach – des Tals, des Kontinents und der Arten. Um sich zu orientieren, schneidet er Lexikonartikel über die Erdgeschichte aus und heftet sie an die Wände seines Hauses. Was er entdeckt, ist, wie wenig stabil die Natur eigentlich ist.

Das ist eine Perspektive, die wir in den letzten Jahren massiv zur Kenntnis nehmen müssen: Die Erde hat ihre eigene Geschichte, die rapide und tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt. Der Mensch ist nun zu einem zentralen Verursacher dieser Veränderungen geworden. Literatur des Anthropozäns ist also Literatur, die über planetarische Veränderungen und das Verhältnis des Menschen zu diesen nachdenkt. Wir brauchen den Begriff Anthropozän nicht unbedingt, um ‚anthropozänische‘ Fragen stellen zu können. In vielerlei Hinsicht ist auch der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder mit seiner großen Kulturtheorie Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784-1791 ein Vordenker des Anthropozäns. Er denkt Natur und Kultur ganz eng miteinander verbunden und sieht den Menschen schon früh als klimaveränderndes Wesen. Literatur des Anthropozäns ist also kein Genre, es ist auch nicht einfach ein Thema, sondern eher eine Fragestellung, die wesentlich älter ist als der Begriff.

Birgt diese sehr breit angelegte ‚anthropozänische‘ Perspektive – Mensch vs. Planet – nicht die Gefahr, hegemoniale Verhältnisse zwischen den Menschen zu vernachlässigen? Wenn man bedenkt, dass z.B. allein drei Länder für die Hälfte des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich sind?

Wir können auch hegemoniale Verhältnisse nicht ohne die Natur denken. Das ist doch das Problem der Moderne, dass hier alles auf Konflikte und Machtverhältnisse zwischen Menschen reduziert wird, in denen Natur angeblich keine Rolle spielt. Das ist ein alter, klassischer, aber vollkommen unzureichender Begriff von Macht. Wenn man sich Ungleichheit genauer anschaut, sieht man, dass sie eine massive ökologische Dimension hat. Es gibt die einen, die in ökologisch relativ geschützten Zonen leben können, deren Konsum aber die Umwelt in anderen Gegenden der Welt zerstört.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Rob Nixon nennt das slow violence: Die Lebensbedingungen von Menschen werden indirekt so beeinflusst, dass sie ökologisch prekär werden. Ich glaube also, dass wir so einen Begriff wie Macht vollkommen anders definieren müssen. Die Frage ist auch: Welche Machtstrukturen wünschen wir uns? Wir brauchen Koordination, um dieses weltweite ökologische Problem irgendwie bearbeiten zu können. Das heißt, wir brauchen Formen der Kooperation und Koordination, die auch durchsetzungskräftig sind und die die Macht haben, bestimmte Dinge anders zu machen. Die Natur ins Spiel zu bringen, ist einfach ein Gebot der Realitätswahrnehmung, das heißt aber auch, politische Fragen anders zu formulieren. Ich glaube, vom Anthropozän-Gedanken her stellen sich ganz viele Fragen neu, die wir gar nicht unbedingt mit Umwelt in Verbindung gebracht hätten.

Bezugnehmend noch mal auf Ihr Buch Zukunft als Katastrophe: Kann man in Zeiten von Corona jetzt noch von einer ‚Katastrophe ohne Ereignis‘ sprechen, die unsere Gegenwart prägt?

Corona ist eine Krise, die sich innerhalb dieser großen ‚Katastrophe ohne Ereignis‘ des Anthropozäns abspielt. Es gibt nun die Behauptung, Corona hinge unmittelbar kausal mit dem Anthropozän zusammen. Der Corona-Virus ist aus einer Zoonose entstanden, d.h. dem Überspringen eines Erregers von Tieren auf Menschen. Das machen Viren so, und es ist nicht das erste Mal, dass das passiert. Etwa die großen Pestepidemien verdanken sich Zoonosen. Aber die Sache liegt doch etwas anders. Corona ist eine Pandemie im Rahmen des Anthropozäns. In unserer Zeit mit globalen Wirtschaftsbeziehungen, weltweitem Reisen, internationalen Abhängigkeiten bei bestimmten Waren, läuft die Sache anders als sie noch 1950 abgelaufen wäre.

Ich glaube, dass Corona uns vor allen Dingen auf die Fragilität der Welt aufmerksam macht, in der wir leben. Es kann ganz schnell etwas passieren, das die Grundlagen unserer Existenz erschüttert. Nur ein Beispiel: Was machen wir, wenn es nicht mehr genügend Insekten gibt, die Getreide bestäuben? Dann haben wir weltweit riesige Hungersnöte. Vor einigen Jahren gab es eine Studie, die gezeigt hat, dass – zumindest in Deutschland – die Gesamtbiomasse der Insekten um 75% zurückgegangen ist. Corona ist ein Hinweis auf die Fragilität unserer ökologischen Situation oder grundsätzlich auf das Prekäre unseres Lebens. Corona hat auch die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit unserer Gesellschaft deutlicher gemacht. Wer vorher prekär beschäftigt war, ist jetzt ohne Job. Bestimmte Firmen aber, etwa Amazon oder andere IT-Firmen, haben mit der Pandemie viel Geld gemacht.

Aber es gibt auch etwas, das Hoffnung macht. Der Lockdown in Europa hat gezeigt, dass man doch politisch viel mehr Bewegungsspielraum hat, als man glaubte. Es muss jetzt darum gehen, Umweltpolitik zur absoluten Priorität zu erheben. Förderungen des Staats müssen an Umweltauflagen geknüpft werden. Dagegen sind Maßnahmen wie in Deutschland zur angeblichen Ankurbelung der Wirtschaft wie Verschrottungsprämien oder die Förderung von Elektroautos absolut kontraproduktiv. Aber das heißt auch, dass wir einen komplexeren Begriff von „Umwelt“ brauchen, dass wir Umweltpolitik in globalen Zusammenhängen denken müssen. Deshalb hänge ich so an dem Begriff des Anthropozäns. Jetzt ist der Moment, Umweltfragen wirklich als Priorität zu behandeln und die Karten neu zu mischen, statt zu fragen, wie wir so schnell wie möglich zurück kommen zu einem Zustand vor Corona.