Lesen in der Corona-Krise – Teil 4

Ist das romantisch? – Eine Literaturwissenschaftlerin in der Krise

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Man hört wieder die Vögel zwitschern. Und endlich wieder Zeit zum Lesen!, sagen die einen. „La romantización de la cuarentena es privilegio de clase“ [Die Romantisierung der Quarantäne ist ein Klassenprivileg], sagen die anderen. Dieser Satz hing kürzlich schwarz auf einem weißen Banner von einem spanischen Balkon. Eigentlich ist das Dilemma, das sich aus dieser Behauptung ableiten lässt, überhaupt nicht neu: Soll ich, das heißt, ich, die junge und gesunde Literaturwissenschaftlerin, derzeit confinée à Paris, es mir jetzt zuhause so richtig gemütlich machen, Brot backen und (endlich!) La Recherche zu Ende lesen, während Millionen ‚systemrelevanter‘ und oft schlecht bezahlter Arbeitskräfte im Pflege-, Dienstleistungs- und Produktionssektoren jeden Tag ihre Köpfe hinhalten müssen und somit bereits bestehende soziale Ungleichverhältnisse weiter reproduziert werden? Während zehntausende Geflüchtete derzeit auf den griechischen Inseln unter katastrophalen Überlebensbedingungen festsitzen, sich selbst und dem Virus überlassen?

Durch das Leid anderer auf seine eigenen Privilegien zurückgeworfen zu werden, ist immer beklemmend, entmächtigend und beunruhigend. Die eigene Betroffenheit – denn betroffen ist von dieser Situation, und das macht sie so außergewöhnlich, jede und jeder – wird doch stark relativiert. Das eigene Wohlergehen bekommt einen fauligen Beigeschmack, und das Sofa wird plötzlich so weich unter einem, dass man es kaum noch bis zum Ende der Nachrichtensendung aushält. Da geht man lieber ans Fenster und klatscht sich fünf Minuten lang das individuelle und kollektive Unbehagen – oder sollte man sagen, das schlechte Gewissen? – von der Seele. Das dumpfe Schuldgefühl der vielleicht vor allem intellektuellen, relativ wohlhabenden Kreise, an das sich jenes Banner auf dem spanischen Balkon richtet (zumindest habe ich mich angesprochen gefühlt), ist natürlich älter als Covid-19 und wird sich weder durch regelmäßiges Klatschen noch durch wiederbelebte Nachbarschaftshilfe und hektische Unterschriften auf change.org jemals auflösen lassen.

Doch geht es nunmehr nicht ausschließlich um unbekannte Geflüchtete vor unseren Außengrenzen, sondern um geliebte und geschätzte Personen aus unserem direkten Umfeld, deren Gesund- und Freiheit plötzlich erschreckend verletzlich geworden ist.  Auch hier kommen unangenehme Fragen auf, Gefühle der Sorge, Angst, Reue, die man vielleicht noch etwas länger von sich fernhalten wollte. Spätestens jetzt lässt sich also ein gewisses Unbehagen angesichts der aktuellen Weltlage, in der sich nun jede*r Einzelne auf irgendeine Weise spiegelt – literarisch Weltschmerz genannt – nur noch schwerlich verdrängen. Sollte man meinen. 

In den ersten Tagen der Ausgangsbeschränkungen war in den Medien viel von einer längst überfälligen kollektiven Innenschau die Rede: Jetzt sei die Zeit gekommen, die eigenen Lebens- und Wirtschaftsweisen, das Zusammenleben auf nationaler und globaler Ebene, aber auch in der direkten Nachbarschaft, in der Familie, unter Freunden grundlegend zu hinterfragen. Der Virus zwinge zum Innehalten, zur Entschleunigung einerseits, zum Bilanz ziehen und kritischen Hinterfragen des individuellen sowie systemischen Status Quo andererseits. Spannende Ansätze und Improvisationskunststücke findet man bereits viele, besonders im Kunst- und Kulturbereich, der von der Krise natürlich besonders akut bedroht ist. Es dauerte jedoch, zumindest in der Social Media-Blase einer studentischen Millenial, nur einen Wimpernschlag, da hagelte es von allen Ecken des virtuellen Raums implizite oder explizite Aufforderungen, die Zwangspause bitte so produktiv wie möglich zu gestalten: Yoga machen, Meditieren, die Wohnung umräumen, Aufstriche selber machen, aber vor allem ganz viel lesen! Massenweise gute und weniger gute Buchtipps inklusive. Sicher, es gibt momentan schlechtere Ideen (Aufstriche) als Bücher zu lesen.

Wahrscheinlich ist die Idee sogar besser denn je, denn Lesen heißt gerade auch, diese neuartige Stille einmal auszuhalten. Doch muss das Lesen gleich ein weiterer Punkt auf der doppelseitigen Quarantäne-To-do-Liste werden? Wieso brauchen überhaupt anscheinend so viele Menschen jenseits der 12 Jahre eine Art Corona-Ferienprogramm? Es ist absurd, dass die Anzahl der Möglichkeiten zum Zeitvertreib auch während einer globalen Pandemie scheinbar nicht kleiner werden darf, niemals, sondern sich lediglich noch stärker in den virtuellen Raum verlagert. Das längst allgegenwärtige Selbstoptimierungs- und Verwirklichungsdogma wird von Influencer*innen im breitesten Sinne weiterhin unermüdlich wiedergekäut, zumindest für die und von denen, die es sich noch leisten können. Mehr noch, gerade jetzt, da wir – gesunde, privilegierte Bürger*innen außerhalb der Risikogruppen und ohne allzu akute Existenzängste – doch so viel Zeit haben, scheint es manchen Internetnutzer*innen drängender denn je, die Neujahrsvorsätze eines ganzen Lebens einzulösen und dies auch niemandem vorzuenthalten.

Tatsächlich beklagten sich Freunde und Freundinnen bei mir bereits über eine neue Art sozialen Druck, der dadurch entstehe. Nach dem Motto: Was du nicht mal während der Quarantänezeit schaffst (Buch schreiben, Instrument lernen, Sexleben in der Partnerschaft reanimieren), wirst du eben niemals schaffen. Die Zeit, diese alte beunruhigend tickende Messgröße, muss um jeden Preis totgeschlagen, vertrieben und darf keinesfalls verloren werden. Diese Idee sitzt tief in uns als Mitglieder einer neoliberal geprägten Leistungsgesellschaft, und sicher, Ablenkung und Zerstreuung wirken erlösend, wenn man den ganzen Vormittag jede zehn Minuten den Corona-Liveticker von Zeit online aktualisiert hat. 

Doch was eigentlich stattdessen tun?, wird man sich an dieser Stelle fragen und frage ich mich selbst. Das Leid der Welt auf seine in einem 400 Euro-WG-Zimmer eingeschlossenen Schultern laden und darunter zusammenbrechen? Was macht die junge Literaturwissenschaftlerin in diesen Krisenzeiten außer Arbeit suchen? Natürlich lesen, klar, schreiben vielleicht, aber wer sich jetzt Literatur widmet, zum Beispiel tatsächlich der Proust’schen Recherche, 5000 Seiten Ennui in ihrer schönsten Gestalt, wird darin eine weitere Antwort finden: Lesen, schreiben, aber auch oder vor allem abschweifen, sich erinnern, Gedanken spinnen. Innerhalb des erlaubten 1km-Radius ums Haus flanieren. Sich trauen, in der Zeit zu sein, anstatt sie zwanghaft zu füllen. Die Wände näherkommen lassen. Das kann sich anfangs nach Langeweile anfühlen und vielleicht auch irgendwie nach Luxus. Ich finde, es ist einer, der sich lohnt.

Denn nur in der Stille, mitten im Nichtstun, gelangt man überhaupt an die Möglichkeit, sich tiefgreifende Gedanken zu machen, über die großen Fragen und Themen, mit denen sich gute Literatur sowieso schon immer beschäftigt, die momentan aber so schwer wiegen wie lange nicht – über seine physische und psychische Gesundheit, über das Abenteuer Menschheit und seinen Platz in der Welt, über Solidarität, die über abendliches Klatschen hinausgeht, Verantwortung, Einsamkeit. Auch über die eigenen Privilegien und Prioritäten und darüber, was eigentlich noch (aus einem) werden soll, nach Corona. Jeder neuartige Gedanke, jede Entwicklungsstufe und die meisten kreativen Schaffensprozesse entsprangen schon immer der sogenannten Langeweile, einem ‚Auf sich selbst zurückgeworfen-sein‘, das man sich eben zutrauen muss. Das ist derzeit nicht romantisch, sondern schmerzhaft und bitter notwendig. Natürlich nicht nur für Literaturwissenschaftler*innen.

Die Autorin ist Redakteurin bei Literaturkritik.de und lebt derzeit in Paris.

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.