Eine postmoderne Lamentatio
Der japanische Publizist Seikô Itô sieht sein Alter Ego im Umerziehungslager und beklagt in einer Fake-Kritik am Roman den Transformationsprozess zur neuen Unfreiheit
Von Lisette Gebhardt
Seikô Itôs Shôsetsu kinshirei ni sandô suru erschien im japanischen Original 2018 und liegt nun im Cass Verlag in Übersetzung von Jürgen Stalph unter dem Titel Das Romanverbot ist nur zu begrüßen auf Deutsch vor. Der Text schildert Ereignisse, die bis in die nahe Zukunft reichen. Im Jahr 2036 ist Japan nach einem verlorenen Krieg zum Teilgebiet eines größeren Herrschaftsbereichs unter der Führung eines Landes geworden, von dem man vermuten kann, es handelt sich um China. Protagonist ist ein in Haft befindlicher Schriftsteller im fortgeschrittenen Alter von 76 Jahren, eingekerkert bereits zu Zeiten des imperialistischen Regimes und immer noch inhaftiert von den Vertretern des pan-asiatischen Reichs. Jener Literat schreibt für ein hauseigenes, in regelmäßigen Abständen erscheinendes Magazin an einem Essay zum Thema „Beipflichtung zum Romanverbot“, welcher die beträchtlichen Gefahren dieses für dubios erachteten Genres diskutiert.
Permanente Gesinnungsprüfungen
Mit dem „seltsamen Roman“ verfasst der in seiner Heimat als Werbetexter und medienpräsente Persönlichkeit bekannte Itô eine zeitdiagnostische Einlassung. Diese knüpft sowohl an aktuelle Debatten zu einer globalen Tendenz hin zu neo-totalitären Systemen an, wie sie auch Japans Trend zum Nationalismus im Gefolge der Dreifachkatastrophe von Fukushima vom 11. März 2011 registriert. Die Staaten des asiatischen Raums, so das Bild, das die Dystopie aus mehr oder weniger bekannten Versatzstücken entwirft, besiegen ein militaristisches Japan und gründen eine asienweite Herrschaftssphäre unter der Ägide Chinas, wobei sich die Nationalstaaten von Indien über Malaysia und Korea in dieses – durch atomare Verseuchung, Ressourcenplünderung und Umweltereignisse stark belastete – Gefüge integrieren. Frühere demokratische Entwicklungen sind in Vergessenheit geraten, Gedankenfreiheit gibt es nicht mehr.
Das Alter Ego Itôs hat sich offenbar in keinem der beiden Regimes beliebt gemacht. Die schwer erkrankte Ehefrau hatte ihren Mann in der Phase des Militarismus denunziert und für seine Inhaftierung gesorgt. Die neototalitäre pan-asiatische Gemeinschaft setzt ihn aktuell einer dauerhaften Gesinnungsprüfung aus, die sich die Erziehung des Humansubjekts zur Aufgabe macht. Psychopolitik dient dazu, das Mindset kapitalistisch eingestellter Völker so zu verändern, dass sie das neue Kollektiv widerstandslos akzeptieren.
Itôs Portrait eines Kontrollregimes in toxischer Umwelt spinnt dabei Ideen weiter, die der Autor Manʼichi Yoshimura in seinem Post-Fukushima-Beitrag Borâdobyô (2014; „Das Pollersyndrom“; dt. Kein schönerer Ort, 2018) virtuos entwickelte und für dessen Taschenbuchausgabe Itô das Nachwort schrieb. Tatsächlich ergänzen sich die Texte und werfen Schlaglichter auf die Lage im frühen 21. Jahrhundert, von dem schon die Schriftstellerin Yôko Tawada zu sagen wusste, es sei der Beginn einer großflächigen Versklavung der Menschen. Auch Itô lässt kaum Zweifel daran, dass die Zukunft keine erfreuliche sein wird. Das Regime in Gestalt von Aufsehern in weißen Schutzanzügen mit abweisenden Visieren ergreift als „Biomacht“ von den Körpern Besitz; es verneint Menschlichkeit und menschliche Würde, indem es die biologische Existenz bis zum Moment des Todes beherrschen will.
Sprache als Bedrohung
So prägnant wie Yoshimuras und Tawadas literarische Repräsentationen postkatastrophischer Transformationsprozesse liest sich der „seltsame Roman“ nicht. Klar tritt das Thema des Schriftstellers als „Volksfeind“ hervor. Man fühlt sich an die Schicksale chinesischer Intellektueller wie Liu Xiaobo (1955-2017) oder Yang Tongyan (1961-2017) erinnert. Seinen Kommentar zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, zu Zensur und zum Ausgeliefertsein des (denkenden) Individuums an eine totalitäre Macht gestaltet der Verfasser als vermeintliche Zustimmung der Itô-Persona zu einer Regierungskampagne, die die Prosaliteratur als fiktionales Format in Misskredit bringen will.
Itô errichtet eine Dichotomie von Roman (jap.: shôsetsu) und Essay (zuihitsu), um scheinbar zumindest letzterem die Existenz in einer sprachfeindlichen Umgebung zu sichern. Dem Roman wirft man „Betrug“ vor. Seine Multiperspektivität und andere in ihm zum Tragen kommende schriftstellerische Techniken und linguistische Kniffe helfen, das zu verfremden, was zum Wohle eines die Deutungshoheit beanspruchenden Regimes als Realität zu gelten habe. In ihrer Beschreibung des Genres beruft sich die Ich-Figur auf die japanische Literaturgeschichte der Moderne sowie auf europäische, chinesische, südamerikanische und landeseigene Primärquellen und kunsttheoretische Erörterungen. Während der Inhaftierte die Redlichkeit des argumentierenden Essays hervorhebt, zeigen sich die Genregrenzen als durchlässig, und am Ende ist eventuell doch ein Roman entstanden.
Der perfiden Situation im Umerziehungslager geschuldet, kann sich der Gefangene nicht sicher sein, ob seine turnusgemäß abgegebenen Elaborate in der Postille der Einrichtung Aufnahme und damit überhaupt eine Leserschaft finden oder ob seine Isolation vollkommen bleibt. Der Leser, der die Anmerkungen des Aufsehers am Ende der Abschnitte sieht, weiß um die hoffnungslose Lage des Schriftstellers, dessen Betreuung auf eine psychiatrische Verwahrung hinausläuft. Beurteilt wird etwa in den Kriterien: „Behandlung: streng / Disziplinierung: mittelschwer.“
Die neototalitäre Gesellschaft der „Asiatischen Union“ kennzeichnet eine strikte linguistische Hygiene und eine sich daraus ergebende Sprachverfremdung. Manch merkwürdige Prägung entsteht, wenn z.B. anstelle von Japan in Relation zum „Mutterland“ China stets „ostperipherer Archipel“ gesagt werden muss. Obwohl der Übersetzer den Text in seinen Manierismen mit großer Akribie ins Deutsche überträgt, erschließen sich dem Leser nicht alle Anspielungen oder die zahlreichen Selbstverweise des Autors.
Geopolitische Kartierungen, taoistische Endzeitphantasie und Borges
Eventuell entfaltet Itôs Text seinen größten Reiz auf den dem „seltsamen Roman“ eingeschriebenen allegorischen und philosophischen Ebenen. Als Allegorie konstruiert der Autor eine neue fiktive Weltkarte: Japan, das man als unbelehrbaren militärischen Aggressor ächtet, wird als gefährlicher „Patient“ von den anderen Mitgliedern des asiatischen Bundes ferngehalten. Die Führung der asiatischen Union übernimmt ein rationales, strategisch klug handelndes China, das früh die Versöhnung mit dem „gemäßigten Islam“ angestrebt hatte. Die USA verlieren an globalem Einfluss. Europa steht für die alte Moderne und seine Nationalstaatlichkeit – hier findet der exilierte Kaiser Japans Zuflucht. Bedeutung hat auch noch der europäische modernistische Zugang zur Kunst, vertreten z.B. durch Marcel Duchamp. Das 21. Jahrhundert, so prognostiziert Itôs Alter Ego, trennt gewaltsam Japans weltanschauliche Bande mit dem Westen. Die Eingliederung ins großasiatische Kollektiv verlangt von der japanischen Bildungsschicht, vertreten durch den notorischen Romancier und Schreiberling, zunächst einmal Buße ob ihrer Hybris.
Zudem rekurriert der Text, wie es im Schlussteil deutlich wird, auf eine taoistische Kosmologie: Die Rede ist von zwei Meistern, die als Repräsentationen der sich ergänzenden Kräfte Yin und Yang auftreten. In dieser Endzeit sind die produktiven Kräfte des polaren Energiefeldes erlahmt, nun steht die Erneuerung der Welt durch Zerstörung an.
Die chinesische Komponente dominiert, das alte Japan und seine europäischen Wurzeln bleiben jedoch eine nostalgische Erinnerung. Parallel zu den sino-asiatischen Elementen legt Itô Spuren zu Jorge Luis Borges. Mit Borges ergibt sich eine Erklärung für die Schachmetapher im Text, ebenso wie der argentinische Autor Kritik am Roman (er schrieb Essays, Lyrik und Kurzgeschichten) übte, oft poetico-philosophische Fragen hinsichtlich des Themas der Unendlichkeit und der Konstruktion von Wirklichkeit stellte und in seinen Arbeiten häufig auf das ins Phantastische abhebende Spiel mit den Möglichkeiten der literarischen Repräsentation der komplexen Konstituenten von Wirklichkeit verwies. Eine Anlehnung an die südamerikanische Literatur erfolgt zusätzlich noch mit der Nennung von Roberto Bolaño, dessen Roman Die wilden Detektive (2000) sich in einer Melange von Ironie, Wahn und Komik mit dem Literaturbetrieb befasst.
Eine Dechiffrierungsaufgabe
Das Romanverbot ist nur zu begrüßen ist eine dystopische Parodie aus dem mittlerweile schon einigermaßen betagten postmodernen Flügel der publizierenden Szene in Japan. Die in den 1980er Jahren populären „Postmodernen“, vertreten durch Schriftsteller und Intellektuelle wie Kôjin Karatani, Kenji Nakagami oder Shinˈichi Nakazawa, nahmen eine kritische Haltung gegen ein kapitalistisch-imperiales Japan ein, wobei man die eigene Person auf verlorenem Posten wähnte. Itô sieht sich, einen Systemwandel beschwörend wie fürchtend, in dieser Tradition. Dass man ihm als erfolgreichem Copywriter und prominentem Mitglied der japanischen Kreativindustrie eine gewisse Nähe zu Machtkreisen unterstellen könnte, ist dem Unternehmer, der sich persönlich nicht in erster Linie als Schriftsteller versteht, bewusst. Selbstreferentiell lässt er seinen Protagonisten reuevoll sagen: „Ich, Nummer 86, Einzelzellenhäftling in Sammeltrakt 3, Zone xxx, habe in meinen frühen Vierzigern von einem damals auf diesem Archipel existent gewesenen Verlag als ‚Essayist‘ einen Preis bekommen und dafür steuerfrei eine Million Yen eingestrichen.“ Dass er die beklagte Umweltsünde der Abholzung von Wäldern für die Papiererzeugung durch seine Schreibambitionen perpetuiert, fällt dem eifrigen Mahner nicht auf.
Gegen Itôs Text ließe sich indes auch einwenden, dass er nach Yoshimuras Borâdobyô eine gewisse Epigonalität nicht verleugnen kann. Im Gefolge von „Fukushima“ hatte der Kreative sich verstärkt der Literaturproduktion zugewandt. Im Februar 2021 kam der dokumentarische Band Fukushima monorôgu („Fukushima Monolog“) auf den Markt, in dem er den Katastrophenopfern, wie er es zuvor im Jahr 2013 schon mit dem Roman Sôzô rajio („Imaginationsradio“) versuchte und wie es in der gängigen Sprachregelung heißt, eine Stimme verleiht. Beide Beiträge laufen der von offizieller Seite erwarteten Konsenskunst mit ihrem Streben nach einer pietätvollen Befriedung der Krise und der moralischen Mobilisierung der Bevölkerung nicht zuwider. Eine regierungskritische Linie, die authentisch und konsequent aufrechterhalten wird, lässt sich deshalb nicht in dem Maß bestätigen, dass man, wie es der Übersetzer im Nachwort schreibt, dem Autor „dankbar sein“ muss. Vielmehr bewegt sich Seikô Itô im Raum des heute alltäglichen Zynismus der Mediengesellschaft, in dem als Ersatz für Intellektuelle häufig routinierte Publizisten und Selbstdarsteller angeboten werden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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