Diplomat, Politiker und Schriftsteller – ein Brückenbauer durch sein Werk

Zum 50. Todestag des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bosnischer Schriftsteller mit kroatischen Wurzeln, serbischer oder jugoslawischer Schriftsteller … über Ivo Andrić findet man in den Literaturlexika die unterschiedlichsten Beschreibungen. Sein Leben und sein Werk sind Teil der Geschichte und der politischen Entwicklung im ehemaligen Vielvölkerstaat auf dem Balkan, einer Region mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Mit Andrić wurde 1961 zum ersten Mal ein Südosteuropäer mit dem Nobelpreis für Literatur (und bis heute einzigen) ausgezeichnet. Damit trat auch erstmals seine bosnische Heimat in das weltliterarische Bewusstsein. Heute wird der Schriftsteller sowohl von Serbien als auch von Bosnien-Herzegowina und Kroatien geehrt, obwohl sein politisches Wirken nicht immer unumstritten war.

Ivo Andrić wurde am 9. Oktober 1892 im bosnischen Travnik als Sohn einer katholischen Handwerkerfamilie geboren. Der Vater starb bereits zwei Jahre nach seiner Geburt, daher wuchs der Junge in Višegrad auf, wo er auch die Volksschule besuchte. Anschließend absolvierte er das Gymnasium in Sarajevo. Als die Habsburgermonarchie die Region annektierte, wurde aus dem „Osmanen“ Andrić ein „Österreicher“. Ab 1912 studierte Andrić Philosophie, Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz.

Schon in der Schulzeit zeigte sich Andrićs literarische Begabung. Der junge Andrić war auch Anhänger der Idee eines Südslawien, einer Vereinigung aller Südslawen, und blieb es auch lebenslang. Vor 1914 verkehrte er im Kreis der Attentäter von Sarajevo. Während des Attentats am 28. Juni 1914 war Andrić jedoch in Krakau. Trotzdem wurde er als Mitglied der revolutionären und national gesinnten Organisation „Mlada Bosna“ („Junges Bosnien“) von den österreichisch-ungarischen Behörden gesucht, schließlich festgenommen und in verschiedenen Lagern interniert. Erst 1917 wurde er amnestiert und er ging nach Zagreb, wo sein Erstlingswerk Ex Ponto (1918, dt. 2012) erschien. Der Prosaband war eine lyrisch-meditative Dichtung, die während des Ersten Weltkriegs und Andrićs Internierung entstand und ein Publikumserfolg wurde. Jahrzehnte später wehrte er sich jedoch dagegen, dass sein Debüt Teil einer Gesamtausgabe seiner Werke wurde.

Trotz des literarischen Erfolges und der Mitarbeit an der Literaturzeitschrift Književni jug (dt. Literarischer Süden) hatte Andrić keine feste Einkommensquelle. Sein ehemaliger Gymnasiallehrer und Förderer aus Sarajevo war inzwischen zum Religionsminister Jugoslawiens ernannt worden. Er bot seinem Schützling, der schon seit Jahren an Tuberkulose litt, eine Stelle in seinem Ministerium in Belgrad an. Ein Kuriosum, denn Andrić war Atheist und hegte große Vorbehalte gegen die Religion. Relativ unbeeindruckt von den neuen Literaturströmungen nach dem Ersten Weltkrieg entstand die Erzählung Put Alije Đerzeleza (1920, dt. Der Weg des Alija Djerzelez (1947)), in der Andrić erstmals seine bosnische Heimat als Handlungsort wählte.

Die Anstellung im jugoslawischen Religionsministerium bot zwar finanzielle Sicherheit, doch Andrić wollte ins Ausland. Wieder war sein Gönner behilflich und verschaffte ihm einen diplomatischen Posten an der Königlichen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl. Innerhalb weniger Jahre sollte Andrić zum ersten Diplomaten seines Landes aufsteigen. Weitere Stationen seiner diplomatischen Karriere waren Triest, Genf, Marseille, Paris, Brüssel, Rom, Bukarest, Graz und Madrid, ehe er 1939 als „außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister an der königlichen Gesandtschaft Jugoslawiens“ nach Berlin kam. Auf diesem Posten blieb er bis 1941. Neben dem diplomatischen Dienst entstanden umfangreiche Erzähl- und Essaysammlungen. Außerdem nutzte Andrić seine diplomatische Stellung im Ausland auch zum Studium von Archiven und Bibliotheken.

Als im Rahmen des deutschen Balkanfeldzugs im Frühjahr 1941 Jugoslawien besetzt wurde, musste das Personal der jugoslawischen Botschaft in Berlin ins von den Deutschen besetzte Belgrad zurückkehren. (Andrić hat Deutschland nach seiner Abschiebung nie wieder betreten, auch später hat er Einladungen immer wieder abgelehnt.) Nach dem abrupten Ende seiner Diplomatenkarriere zog sich Andrić bis zum Ende des Krieges aus dem öffentlichen Leben vollkommen zurück. In den vier Wänden seines Arbeitszimmers ging er in die „innere Emigration“, widmete sich hier voll und ganz der literarischen Arbeit. Mit einem enormen Arbeitstempo entstanden in den dunklen Jahren der Besetzung drei umfangreiche Romane, deren Vorstudien er teilweise schon viele Jahre vorher betrieben hatte: Na Drini ćuprija (dt. Die Brücke über die Drina (1953)), Gospođica (dt. Das Fräulein (1958)) und Travnička hronika (dt. Wesire und Konsuln (1961)). Als im Herbst 1944 Belgrad von jugoslawischen Partisanen und der Roten Armee befreit wurde, waren alle drei Romane fertiggestellt und erschienen allesamt 1945 – ein Novum in der neueren europäischen Literaturgeschichte.

In Die Brücke über die Drina kreist die Handlung um die steinerne Brücke über die Drina, jenen Fluss auf dem Balkan, der inmitten Europas Bosnien von Serbien, aber auch Okzident und Orient trennt. Andric erzählt die abwechslungsreiche Geschichte des Bauwerks vom 16. Jahrhundert bis zu seiner Zerstörung 1914. Mehmet Pascha Sokolis, der Großwesir des Osmanischen Reiches, ließ bei der bosnischen Stadt Višegrad die Brücke über die Drina mit elf weitgespannten Bögen errichten. Gleich nach Beginn des Ersten Weltkrieges sprengten österreichische Pioniere beim Rückzug vor den Serben den Mittelpfeiler in die Luft.

„Die Zeit ging über die Brücke und die Stadt hinweg, in Jahren, in Jahrzehnten.“ Andric wählt die Brücke als Leitmotiv, um die Ereignisse und Episoden aus der Višegrader Geschichte aneinanderzureihen. Aus vielen Begebenheiten und Einzelschicksalen entwirft er ein großes historisches Panorama – vom Glanz und Verfall des Osmanischen Reiches über die österreichische Besatzung und den serbischen Freiheitsdrang bis zum Anbruch der neuen, modernen Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es gibt keine Hauptperson, deren Schicksal oder Entwicklung geschildert wird, Heldin des Romans ist die Brücke selbst, die eine Vermittlerin von Geschichte ist. Durch den Jugoslawienkonflikt in den 1990er Jahren gelangte der Roman zu einer neuen Aktualität.

In Wesire und Konsuln gerät die bosnische Kleinstadt Travnik zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Schauplatz internationaler Diplomatie der europäischen Großmächte. Hier leben Muslime, Katholiken, Orthodoxe und Juden, ein buntes Gemisch, das hier gestrandet ist. Das napoleonische Frankreich und Österreich entsenden jeweils einen Konsul nach Travnik, um die Lage in der lange vernachlässigten Region zunächst zu beobachten, um später Einfluss auf die Verhältnisse zu nehmen und ihre Macht weiter auszubauen. Daher sind der französische Konsul Jean Daville und der österreichische Konsul Joseph von Mitterer um gute Beziehungen zu den Travniker Wesiren bemüht. Beide belauern sich jedoch und intrigieren ständig gegeneinander.

Die westeuropäischen Botschafter mit ihren Familien und die lokale Bevölkerung, die ständig unter Unruhen leidet, geraten aufgrund kultureller Unterschiede, politischer Intrigen und unterschiedlicher Interessen oft in Konflikt. Der Roman Wesire und Konsuln, der die Jahre 1807-1814 umspannt, schildert das Aufeinanderprallen zweier Welten und ist gleichzeitig ein Bekenntnis zur Versöhnung der Völker, Kulturen und Religionen. Andrić setzte hier seinem Geburtsort ein literarisches Denkmal.

Der Roman Das Fräulein ist ein Psychogramm einer krankhaft geldgierigen Frau, eingebettet in die umwälzenden gesellschaftlichen Veränderungen in Bosnien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Rajka Radaković, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns aus Sarajevo, verliert als Fünfzehnjährige den angebeteten Vater, der am Ende noch den Bankrott seines Geschäfts erleben musste. Am Totenbett muss sie dem Vater schwören, rücksichtslos zu sein und „unbarmherzig zu sparen“, um nicht seine Fehler zu wiederholen. Fortan steht ihr ganzes Leben unter diesem Versprechen. Sie übernimmt den Haushalt, der strengsten Sparmaßnahmen unterworfen wird, und entlässt die Dienstboten. Von Geiz getrieben gelingt es ihr, das verbliebene Vermögen zu retten und durch dubiose Geldgeschäfte zu vermehren. Völlig uninteressiert an den politischen Ereignissen und unbeeindruckt von den Urteilen der Nachbarn mutiert Rajka zum „Wucherfräulein“.

Nach Kriegsende verlässt sie Sarajevo und übersiedelt nach Belgrad, wo sie den jungen, leichtsinnigen Ratko kennenlernt. Entgegen ihren Prinzipien gibt sie ihm mehrmals Geld, das Ratko jedoch in zwielichtiger Gesellschaft verprasst. Nach dieser Blamage verbarrikadiert sich Rajka noch mehr. Jetzt ist noch größere Sparsamkeit angesagt. In ihrem Haus hortet sie Gold und Banknotenbündel, bis sie der Tod erreicht, weil Arzt und Medikamente zu teuer gewesen wären. Während in den beiden anderen Romanen der sogenannten „Bosnischen Trilogie“ bunte Menschenmengen agieren, konzentriert sich Andrić in Das Fräulein ganz auf seine Protagonistin, eine „Sklavin der eigenen Raffgier“, und analysiert, wie Gier zwischenmenschliche Beziehungen zerstören kann.

Nach 1945 musste sich Andrić, der in Belgrad bleiben wollte, mit den neuen sozialistischen Machthabern, dem Tito-Kommunismus, arrangieren. In den 1950er Jahren diente Andrić dem Staat in verschiedenen Funktionen. Seine literarischen Arbeiten in diesem Jahrzehnt, u.a. die Erzählung Prokleta avlija (1954, dt. Der verdammte Hof (1957)), blieben davon weitgehend unberührt. Mit den nach und nach erscheinenden Übersetzungen seiner „Bosnischen Trilogie“ (zuerst ins Deutsche, später ins Französische, Englische und schließlich ins Schwedische) war Andrić endgültig in die Literaturgeschichte eingegangen. Bereits 1958 war er gemeinsam mit seinem Landsmann, dem Schriftsteller Miroslav Krleža (1893-1981), für den Literaturnobelpreis nominiert. Andrić wurde schließlich 1961 mit dieser höchsten literarischen Auszeichnung geehrt. Für das Nobelkomitee war die epische Kraft entscheidend, mit der er die Geschichte seines Landes erzählt hat. Zugleich war der Nobelpreis eine weltweite Anerkennung der Kultur des Balkanlandes.

In den 1960er Jahren veröffentlichte Andrić noch zahlreiche Erzählungen und literarische Essays. Trotz Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und eines schweren Schicksalsschlags, dem Tod seiner langjährigen Lebensgefährtin Milica Babić-Jovanović (1909-1968), arbeitete er in den letzten Lebensjahren intensiv an dem historischen Roman Omerpaša Latas (1977, dt. Omer-Pascha Latas (1979)) und dem Essayband Znakovie pored puta (1976, dt. Wegzeichen (1982)), die jedoch unvollendet blieben und erst posthum erschienen. Am 13. März 1975 starb Ivo Andrić im Alter von 82 Jahren in Belgrad.

Zum 50. Todestag des Schriftstellers hat der Deutsche Taschenbuch Verlag eine überarbeitete Übersetzung seines Fräulein-Romans herausgebracht, die bereits vor zwei Jahren im Paul Zscholnay Verlag als Hardcover-Version erschien. Ergänzt wird die Ausgabe durch das Nachwort Geiz und Ehrgeiz des Journalisten und FAZ-Korrespondenten Michael Martens, der 2019 mit Im Brand der Welten. Ivo Andrić. Ein europäisches Leben eine umfangreiche Biografie zu Ivo Andrić vorgelegt hatte. Martens geht dem immer geäußerten Gerücht nach, dass der Schöpfer der Rajka Radaković selbst ein Geizhals gewesen war. Tatsächlich war Andrić sehr großzügig, nur plakatierte er seine Freigebigkeit nicht. So spendete er die gesamte Nobelpreissumme für die Errichtung und den Ausbau des Bibliothekwesens in Bosnien. Andrićs Ehrgeiz war es wohl auch, den großen männlichen Geizigen der Weltliteratur eine weibliche Figur zur Seite zu stellen.

Titelbild

Ivo Andrić: Das Fräulein. Roman.
Mit einem Nachwort von Michael Martens.
Deutsch von Edmund Schneeweis, überarbeitet von Katharina Wolf-Grießhaber.
dtv Verlag, München 2025.
272 Seiten , 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783423149310

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