Mit dem bloßen Knöchel im Sommergras

Zum Tod von Philippe Jaccottet (1925-2021)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Der seit 1953 im südfranzösischen Grignan im Département Drôme lebende Philippe Jaccottet zählte längst zu den hervorragendsten französischen Dichtern der Gegenwart. 1925 in Moudon/Westschweiz geboren, hat er abseits hektischer kultureller Betriebsamkeit über Jahrzehnte hinweg ein beachtliches Werk geschaffen. Im Februar 2014 wurde er in Frankreich in die legendäre Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen, eine Ehre, die lebenden Schriftstellern nur im Ausnahmefall zuteil wird. Pünktlich zum 95. Geburtstag am 30. Juni 2020 war dem deutschen Publikum mit dem Band Die wenigen Geräusche sein Alterswerk in deutscher Übertragung zugänglich gemacht worden. Wie in etlichen früheren Ausgaben hatte sich das Übersetzerpaar Elisabeth Edl und Wolfgang Matz in außergewöhnlicher Weise Jaccottets späten Prosa und Gedichten angenommen. Philippe Jaccottet, der mit den beiden die Zusammenstellung vorgenommen hatte, war sich darüber bewusst, dass ihnen ein weiteres Mal eine adäquate Übertragung seiner poetischen Texte in die deutsche Sprache gelungen war.

Jaccottets poetische Existenz umspannt allerdings ein ganzes Bündel verschiedener Wahrnehmungsmuster. Neben betrachtender Prosa und Gedichten beeindruckt auch seine gewaltige Übersetzerleistung. Er hat Schlüsselwerke aus dem Italienischen, Spanischen, Russischen und vor allem immer wieder aus dem Deutschen in das Französische übertragen. Auch den umfangreichen Romantorso Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil hat Jaccottet übersetzt. Ohne Übertreibung kann man ihn als einen europäischen Brückenbauer charakterisieren, der in zurückgezogener Unermüdlichkeit dafür Sorge getragen hat, dass fremde Stimmen einen angestammten Platz erhalten. 

Seit 1941 versuchte er sich mit Übertragungen des Werks von Rainer Maria Rilke. Erst nach über einem halben Jahrhundert gab er seine Übersetzung der Duineser Elegien  zum Druck frei. Eine Arbeitsweise, die einer betriebsamen Kulturindustrie diametral entgegengesetzt ist. 

Gerade in seinen späten poetischen Bildern stellt sich Philippe Jaccottet dem Eingeständnis, dass seine Lebenszeit ihrem Ende entgegen geht: „In der kurzen Zeit, da ein Sternenmeer langsam erlischt von unten hinauf in den Himmel, / mit dem bloßen Knöchel im Sommergras / nur dieses Band von Morgentau, das die kraftvoll steigende Sonne jetzt löst.“ 

Die wenigen Geräusche bilden eine Art poetisches Vermächtnis, zumal Jaccottet in aller aufmerksamen Wachheit auf jenen Zustand zu sprechen kommt, in welchem er nicht mehr der Handelnde, sondern derjenige sein würde, der dem natürlichen Verlauf ausgesetzt ist. Die Reflexion über das Nachgedachte, das Nachklingen des Wahrgenommenen, das sind die Stärken in Philippe Jaccottets Texten. Lyrik und Prosa verschmelzen in einem Amalgam von Eindrücken, Erlebnissen, Gedankensplittern und Reflexionen. Die Lebendigkeit seiner Aufzeichnungen sind unmittelbaren Eindrücken geschuldet. In einer Art Wachtraum gerinnen noch die unscheinbarsten Bilder, die ihn umgeben, zu Niederschriften. Es sind Bilder aus der Natur aber auch Begegnungen mit Menschen, die ihn in ihren Bann ziehen. Diesen Konfrontationen gibt sich Jaccottet mit einem gelinden Erstaunen hin. Schreibend horcht er und sehend denkt er nach, unablässig die eigene Wahrnehmung schärfend. 

Es zeichnet die poetische Reife Philippe Jaccottets aus, dass ihn das Wissen um die menschliche Begrenztheit nicht in Verzweiflung stürzte. Vielmehr werden die Sinne der Beobachtung geschärft, die umso demütiger ausfällt: „Wir, Stotterer mit gebrochener Stimme, verweht wie Stroh beim leisesten Hauch“ 

Jaccottet war ein Farbenseher, ein Wortmagier und Meditierer ohne vorgegebenes Erlösungsprogramm. Einzig der Kraft der Sprache verpflichtet sichten seine Texte jene Gärten und Natureindrücke, welche ihm in unzähligen Spaziergängen das Staunen lehrten. Lebhaft nahm er Anteil an kulturellen Schöpfungen. Seine intellektuelle Gedankenwelt wurde durch die bildenden Künste, Bücher und Musik beeinflusst, deren intensive Rezeption er über Jahrzehnte hinweg mit seiner Frau, der Malerin Anne-Marie Jaccottet teilte. Am 24. Februar 2021 ist Philippe Jaccottet im Alter von 95 Jahren in Grignan verstorben.