Zwischen Vertrauen und Verrat

Der zweiter Roman „Rückkehr nach Budapest“ von Nikoletta Kiss spielt in den 1980er Jahren und erzählt die berührende Geschichte dreier Menschen vor dem Hintergrund der Agonie eines Gesellschaftssystems

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Márta und Terézia sind Cousinen, ihre Väter Brüder, die Mädchen von früher Kindheit an immer gemeinsam unterwegs. Als Terézias Vater als Handelsvertreter an die ungarische Botschaft in Ostberlin versetzt wird – von da an nennt das Mädchen sich Theresa –, trifft man sich nur noch in den Sommerferien auf dem von den Vätern ererbten Grundstück am Plattensee. Dort stehen nebeneinander die Häuser der Eltern, deren Zimmer in der Urlaubszeit immer an Touristen vermietet wurden – das eine groß und prächtig, das andere eher bescheiden.

Allein die Ehe von Mártas Eltern kriselt. Bis der alkoholkranke Vater von der aus Thüringen stammenden Mutter eines Tages verlassen wird, was das Mädchen lange Zeit weder verstehen kann noch verzeihen will. Denn sie sieht sich, der der Vater als Lebenslast überlassen wurde, als das eigentliche Opfer der mütterlichen Entscheidung an. Doch auch ihr wird das Zusammenleben mit dem Mann, der allein völlig hilflos ist und dem Alkohol immer mehr verfällt, irgendwann zu viel. Und nachdem sie das Abitur gemacht hat, entschließt sie sich zur Flucht zu ihrer Cousine nach Ostberlin.

Dort hat sich Theresa, deren Traum es ist, Schriftstellerin zu werden, inzwischen einen großen Freundeskreis aufgebaut. Zu dem gehören vor allem jene Schriftsteller und verlorenen Existenzen, deren kritische Einstellung zu Staat und Gesellschaft sie zu Außenseitern in einem System gemacht hat, das Kritik an sich nicht duldet und diejenigen, die es dennoch kritisieren, als Staatsfeinde behandelt, die mit allen Mitteln zu bekämpfen sind. Man trifft sich bei illegalen Wohnungslesungen, tauscht Bücher untereinander aus, die in der DDR verboten sind, und ist sich der Tatsache bewusst, das man sich rund um die Uhr im Fokus der ostdeutschen Sicherheitsorgane befindet.

Vor allem der gerade an seinem ersten Roman arbeitende Konstantin Berger, einer jener jungen Dichter vom Prenzlauer Berg, die vor allem im Westen in aller Munde sind, hat es Theresa angetan. Und als Márta ihm zum ersten Mal bei einer jener legendären Wohnungslesungen am Prenzlauer Berg begegnet, fasziniert auch sie der Mann, dessen Verse ihr zwar viele Rätsel aufgeben, den aber ein „Hauch von Boheme“ umgibt: „Die Denkerstirn, die Brille, die hochgekrempelten Hemdsärmel“, aber auch das Gequälte, das ihm anzumerken ist und offensichtlich mit seiner Vergangenheit in einem Land, dem er sich zu keinem Zeitpunkt des Lebens wirklich zugehörig fühlte, zu tun hat – sofort spürt Márta ein Vertrauen in sich aufsteigen, „das jeglicher Grundlage entbehrte“.

Feinfühlig und in einer alle Schnörkel vermeidenden, unsentimentalen und schlichten Sprache, nimmt Nikoletta Kiss ihre Leserinnen und Leser mit in eine sich aus dieser ersten Begegnung heraus entwickelnde Dreiecksgeschichte. Natürlich ist es die extrovertiertere und weltgewandter auftretende Theresa, der Konstantin sich zunächst zuwendet. Aber auch Márta, schüchterner und zurückhaltender als ihre Cousine, glaubt, ein Interesse für sich bei ihm wahrzunehmen, aus dem, wie sie insgeheim wohl hofft, irgendwann in der Zukunft durchaus mehr werden könnte.

Und so erlaubt sie sich Tagträume, in denen sie Theresas Rolle an Konstantins Seite einnimmt und glücklich mit ihm ist, ohne deshalb ein allzu schlechtes Gewissen zu haben. Dass sich nach ihrer Rückkehr nach Ungarn, wo sie bald darauf in Budapest ein Germanistik-Studium beginnt – in der Gegenwartsebene des Romans ist sie als erfolgreiche Übersetzerin tätig –, ein reger Briefverkehr zwischen ihr und dem jungen Konstantin entwickelt und es übrigens auch zu einer einzigen intimen Begegnung mit dem Mann kommt, verschweigt sie der Cousine allerdings. Als sich Theresa schließlich dazu entschließt, hinter Konstantins Rücken mit einem westdeutschen Verlag über die Publikation des Romans zu verhandeln, in dem der junge Dichter seine schockierenden Erlebnisse in einem DDR-Jugendwerkhof verarbeitet hat, wird nicht nur sie unwillentlich zur Verräterin an ihrem Geliebten, sondern auch Márta bringt sich und die beiden anderen in große Gefahr, indem sie nichts unversucht lässt, um Theresas riskantes Vorhaben, das Manuskript eines Buches aus der DDR in den Westen zu schmuggeln, zu unterbinden.

Nikoletta Kiss wurde durch eine Geschichte, die sie von einem Bekannten hörte, auf das Thema ihres zweiten Romans gebracht. In die Erzählung der beiden Cousinen und ihrer Liebe zu einem von den Gespenstern seiner Jugend verfolgten Dichter flossen aber durchaus auch eigene Erfahrungen der Autorin ein. Wie das im Roman Theresa geschieht, lebte Kiss ab ihrem sechsten Lebensjahr mit ihren aus beruflichen Gründen von Ungarn in die DDR gezogenen Eltern in einem Ostberliner Plattenbau. Als die Mauer fiel, war sie zwölf Jahre alt. Die Sommer ihrer Kindheit verbrachte sie immer zusammen mit einer Cousine, der sie sehr nahestand, bei ihrer Großmutter am Balaton.

Dem von seinen jungen Verehrerinnen und Verehrern aus der Prenzlauer-Berg-Szene „Meister“ genannten Schriftsteller, auf den ihr Roman an verschiedenen Stellen Bezug nimmt, hat Nikoletta Kiss im Übrigen deutliche Züge des am 8. Juli 1984 verstorbenen Franz Fühmann verliehen. Bei dem Buch, das Konstantin Márta nach dessen Tod überlässt, dürfte es sich deshalb um Fühmanns Ungarn-Tagebuch Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens von 1973 handeln. Konstantin bezeichnet es als „gute[n] Einstieg in sein Denken, eine Art Tagebuch, das während seiner Budapest-Reise entstanden ist.“ In seinen letzten Lebensjahrzehnten setzte sich Fühmann häufig für Autoren ein, die in der DDR aufgrund ihrer systemkritischen Haltung Schikanen und Repressionen durch den Staat zu erleiden hatten. Ihm ist es unter anderem auch zu verdanken, dass der im Westen bereits gefeierte Wolfgang Hilbig 1983 mit Prosatexten und Gedichten im Leipziger Reclam-Verlag endlich auch DDR-Leserinnen und -Lesern zugänglich gemacht werden konnte.

Für ihre Beschreibung der Wohnzimmerlesung, nach der sich Márta und der junge Dichter Konstantin Berger zum ersten Mal näherkommen, hat sich Nikoletta Kiss offensichtlich von einer von Peter Böthig herausgegebenen Dokumentation über den literarischen Salon von Ekkehard Maaß inspirieren lassen. Der 1951 in Naumburg geborene Sänger und Publizist organisierte nach der Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann von 1978 an regelmäßige Lesungen von jungen Autoren der Prenzlauer-Berg-Szene. Seinem Mut ist es zu verdanken, dass Schriftsteller und Lyriker wie Katja Lange-Müller, Uwe Kolbe, Bert Papenfuß, Peter Brasch oder Detlef Opitz mit ihren von den DDR-Oberen beargwöhnten Texten wenigstens eine kleine Öffentlichkeit finden konnten, die sie zum Weitermachen animierte. Wie schwer Letzteres oft war in einem Umfeld, in dem Misstrauen, Bespitzelung, Selbstzensur und Verrat an der Tagesordnung waren, macht Nikoletta Kiss in ihrem Roman sehr deutlich.

Rückkehr nach Budapest, erzählt aus der Perspektive von Márta nach dem plötzlichen Tod ihrer nach der Wende in Wien lebenden Cousine Theresa, nähert sich aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel jenen Ereignissen, die letztendlich zu einem Ende der deutschen Teilung führten. Das Buch beschreibt die Atmosphäre der Vorwendezeit, indem es seine beiden Heldinnen tief in eine Ostberliner Subkultur eintauchen lässt, deren Protagonisten verzweifelt versuchen, ihrer Sehnsucht nach einer allumfassenden Freiheit in ihren künstlerischen Werken Ausdruck zu verleihen. Es ging jenen Intellektuellen – Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Musikerinnen und Musikern, Filmschaffenden und Theaterleuten – dabei weniger darum, das herrschende System abzuschaffen, als darum, innerhalb dieses Systems einen Platz für sich zu finden und mit ihrer Kritik auf offene Ohren und den Willen zur Veränderung zu stoßen. Sie wollten gelesen, gehört, gesehen werden statt verboten, weggesperrt und überwacht. Wie viel Naivität diesen Positionen gelegentlich innewohnte, zeigt Kiss mit dem doppelten Verrat ihrer beiden Heldinnen, die nur das Beste für sich und die anderen wollen, die ihrem Unterfangen innewohnende Gefährlichkeit aber vollkommen unterschätzen.

Titelbild

Nikoletta Kiss: Rückkehr nach Budapest. Roman | Eine Liebe, die nicht sein darf – und eine Frau, die endlich frei sein will.
Insel Verlag, Berlin 2025.
301 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783458645016

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