Aufbrüche und Abgründe
Harald Jähner schreibt in „Höhenrausch“ über Kultur und Alltagsleben in der Weimarer Republik
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAlltag vollzieht sich scheinbar entrückt von den Sphären der Politik, unberührt von Irrungen und Wirrungen, Machtspielen, Programmen und Ideologien. Tatsächlich gehören derlei Vermutungen in das Reich der Illusion. Denn die Politik und diejenigen, die sie entwerfen, bestimmen die Bedingungen der Existenz. Die Instrumente, derer sie sich bedienen, sind vielfältig. Parlamente verfertigen die Gesetze, Bürokratien exekutieren sie, Bürgerinnen und Bürger sind ihnen unterworfen, werden von ihnen eingehegt. Gewiss, sie haben Spielräume, aber die unterliegen der angedeuteten, von oben gezogenen Grenzen. Insofern macht es Sinn, Harald Jähners Beobachtungen über den „Höhenrausch“ damit zu beginnen. Wobei sogleich zu notieren ist, dass der Untertitel falsche Erwartungen weckt. Nicht die gesamte Zwischenkriegszeit bis 1939 wird behandelt, sondern nur die Phase von 1918 bis 1933.
Gerade, aufsteigende Linien gab es nicht, zu besichtigen war weniger Aufstieg denn Niedergang, nicht allein von „Höhenrausch“, wie der Titel suggeriert, war die deutsche Szenerie geprägt, sondern mindestens ebenso sehr von Katerstimmung, Abstiegsängsten und Unzufriedenheit, was punktuell schon früh, später dann unwiderruflich auf breiter Front in Radikalismus umschlug. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Revolution von 1918/19, dann fällt auf, dass es eine die Schichten übergreifende Begeisterung nicht gab. Recht plastisch hat dies der linksliberale Theologe an der Berliner Universität, Ernst Troeltsch, ins Bild gebracht. Am Sonntag, dem 10. November, einen Tag, nachdem die Bewegung des Umsturzes die Hauptstadt erreicht hatte, absolvierten im Grunewald „Massen“ von Bürgern ihren Spaziergang. Offenbar unberührt von den Turbulenzen im Regierungsviertel, frönten sie nicht dem Protest, sondern gewöhnlichem Freizeitvergnügen. Eine leichte Verbeugung vor dem aktuellen Geschehen war zumindest angedeutet, denn auf „elegante Toiletten“ hatte man verzichtet. Alles, notierte Troeltsch, „etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, daß es so gut abgegangen war.“ Und weiter: „Trambahnen und Untergrundbahn gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, daß für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.“
Das Zitat hätte gut ins erste Kapitel gepasst. Der Autor hat darauf verzichtet, aufs Ganze gesehen liefert er jedoch eine anschauliche Schilderung der Ereignisse bis in den Sommer 1920. Das reicht vom Bündnis zwischen der militärischen Führung und der sozialdemokratisch geführten Revolutionsregierung mit dem Ziel, „Ruhe und Ordnung“, wie es damals hieß, zu sichern, bis hin zum Kappputsch, der Rekrutierung und dem Einsatz antidemokratischer Freikorps, in dem die „Tagelöhner des Todes“ ihr blutiges Werk verrichteten. Weder die verlogene „Dolchstoßlegende“ fehlt, die Militärs, Konservative und Antisemiten lancierten, noch ein Blick auf den ersten Präsidenten der Republik, den gemäßigten Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Ihn als „die schlimmste Mischung“ zu verunglimpfen, nämlich „persönlich rein und sachlich schmutzig“, war sich damals wie später ein unerbittlicher Kritiker der Verhältnisse wie Kurt Tucholsky nicht zu schade, nicht bedenkend, wessen Ressentiments zum eigenen Schaden er damit befeuerte. Warum Jähner den Geschmähten jedoch zum „Mittelmaß“ erklärt, gar als „Gemütsmenschen“ verniedlicht, vor allem, wenn man ihn mit seinem Nachfolger vergleicht, bleibt sein Geheimnis.
Hindenburgs Wahl zum Präsidenten der Republik war ein Zeichen tiefgreifender Veränderung. Begleitet wurde sie von der 1924 eingeleiteten Phase der relativen Stabilität, in der die Kräfte im Parteienfeld, wie der Autor hervorhebt, je länger desto sichtbarer auseinanderstrebten. Das erschwerte die Suche nach Kompromissen, die parallel zu den Verwerfungen infolge der globalen Depression nach 1930 vollends obsolet wurde. Die davon ausgelösten Überforderungen hatten wirtschaftliche, soziale und politische Dimensionen. Nicht von ungefähr spricht Jähner von „Kommunikationskrise“, angelehnt an das Gemälde Abend über Potsdam von Lotte Laserstein, in dem eine kleine fünfköpfige Abendgesellschaft auf dem Balkon eines bürgerlichen Hauses „Ratlosigkeit“ erkennen lässt. Kein Zufall war, dass der Parlamentarismus und dessen Repräsentanten rapide an Glaubwürdigkeit verloren. Die Hamburger Lehrerin Luise Solmitz, die den Konservativen und Antisemiten zuneigte, wähnte „Erbärmlichkeit“ am Werk, einen „Haufen kleinlicher Niedertracht“, der schimpfe, schmeichele und Diäten einstreiche.
Solmitz wird in diesem Zusammenhang gern zitiert. Hitler werde, war sie überzeugt, das deutsche Volk „zur Einigung zwingen“, dabei „Ordnung“ und „Sauberkeit“ nach innen, „Würde und Festigkeit nach außen“ verkörpern. Im preußischen Landtag sah der resignierende sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun 1932 ein „zur Kaschemme herabgewürdigtes Gremium“, in dem „gassenbubenhafte Beschimpfungen parlamentarischer Raufbolde“ von rechts und links die Szenerie beherrschten. Die letzten Jahre der Republik, die Jähner detailliert vergegenwärtigt, waren für die einen Albtraum, für die anderen, die sich anschickten, die Mehrheit der Gesellschaft zu gewinnen, neuer „Höhenrausch“. Jubel wurde von Terror begleitet, Gewalt, willkürliche Verhaftungen, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung. Der Dresdener Romanist Victor Klemperer wunderte sich, dass „alle Gegenkräfte“ der NSDAP „wie vom Erdboden verschwunden“ seien. Der „völlige Zusammenbruch einer eben noch vorhandenen Macht“, der Demokratie und ihrer Ordnungen, erschütterte ihn. War bei ihm als Professor jüdischer Herkunft eine kritische Haltung nicht verwunderlich, so mag eine Stellungnahme des Architekten Peter Behrens, der für die „Baugesinnung des Faschismus“ eine Lanze brach, für Erstaunen sorgen. Der nämlich sah deren Wesen, wie der Autor notiert, in der „Anerkennung der Moderne“, gleichsam ein Vorbild für Deutschland und die Deutschen.
Eingebettet in die teilweise etwas kursorisch geratenen Rahmenkapitel über Politik und politische Konstellationen sind diejenigen Abschnitte, welche die Essenz des Buches ausmachen: Kultur, kulturelle Bewegungen, Design, Entwürfe für eine zeitgemäße Existenz oder was manche ihrer Propagandisten dafürhielten. „In der Ferne glänzt unser Morgen“, glaubte beispielsweise der Architekt Bruno Taut zu wissen. Die beschreibenden Worte, die er wählte, überschlugen sich vor lauter Atemlosigkeit: „Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall! Und hoch und immer höher das Fließende, Grazile, Kantige, Funkelnde, Blitzende, Leichte“. Das neue, das „ewige Bauen“, das ihm vorschwebte, sollte der Devise huldigen, die „Grabstein- und Friedhofsfassaden vor vierstöckigen Trödel- und Schacherbuden“ zu entfernen: „Zersetzt sie, löst sie auf!“ Dem „Muffigen“ wurde der Kampf angesagt, ja, der „Tod“ angedroht. Das war tatsächlich, so Jähner, ein rhetorischer Kontrapunkt zu den Bauten der „Architekturmoderne“, zur dort gepflegten Nüchternheit und „ausgewogenen Eleganz“. Schon hier, in der Einleitung, klingt der Kammerton auf, der fortan das Buch durchzieht, konzentriert auf Widersprüche, auf das Auf und Ab in den Gefühlshaushalten der Deutschen, auf ihre Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen, ihre Reaktionen und Abwehrmechanismen, nicht zuletzt die Bilder, die sie sich malten oder malen ließen.
Wer sich halbwegs auskennt in der Sozial- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik, wird kaum auf Phänomene stoßen, die ihm nicht vertraut sind. Aber das alles ist außerordentlich geschickt zusammengefügt. Erzählt wird von „Gefühlen, Stimmungen und Empfindungen als Aggregaten politischer Haltungen und Konfliktlagen.“ Selbst wenn das nicht überall und schon gar nicht direkt eins zu eins eingelöst werden kann, sind die Kapitel, die davon handeln, anschaulich geschrieben, voll mit treffenden Zeugnissen der Zeit, mit komplexen, nicht immer, im Großen und Ganzen jedoch nachvollziehbaren Interpretationen des Autors.
Aber die Frage, ob man der „Provinz gerecht“ werde, wenn man sich in erster Linie „auf die glamourösen Highlights“ konzentriere, müsste nicht nur einleitend aufgeworfen, sondern im Buch auch beantwortet, besser noch: diskutiert werden. Danach freilich sucht man vergebens. Die Masse der beigebrachten und ausgewerteten Quellen stammt aus den großen Städten, mehrheitlich aus Berlin. Im Grunde geht es wesentlich um hauptstädtische Höhenräusche. Das flache Land und die kleinen bis mittleren Städte werden bestenfalls gestreift. Dort allerdings lebte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, an der, wenn man Jähner Glauben schenken darf, die Moderne offenbar völlig vorbeigegangen ist. Dieser Eindruck wird durch das knappe Kapitel über „Agrarromantik und Ökologie“ keineswegs aufgehoben, eher schon bestätigt, zumal darin eine ganze Reihe von Klischees und Flüchtigkeiten zu beklagen ist. Dass – um nur dies zu erwähnen – der Antisemit und Zeitschriftenredakteur Wilhelm Stapel 1930 vom „Aufstand der Landschaft gegen die Stadt“ schwadronierte, verriet Wunschdenken, war eine Parole gegen die Demokratie, wollte die Grundbesitzer und ihren Anhang für die Konservativen und die Rechtsradikalen gewinnen. Insofern steckten darin politische Interessen, Abbilder der Realität jedenfalls nicht.
Was nun war der „Höhenrausch“ der zwanziger Jahre? Er tobte sich aus in teils bekannten, teils weniger bekannten Feldern, worin sich nicht nur, aber doch auch Schwerpunkte der historischen Forschung spiegeln. Das gilt nicht zuletzt für die Frauen, deren Rolle in der Gesellschaft sich allein schon durch die Gewährung von Wahlrecht und politischen Partizipationsmöglichkeiten tiefgreifend veränderte. Hier hat die Genderhistorie unsere Kenntnisse enorm erweitert. Dazu allerdings passt nicht, Stefan Zweig zum „genießerischen Knacker“ zu degradieren. Der nämlich hatte in einer von Männern veranstalteten Sammlung von Essays über die Frau von morgen, wie wir sie wünschen ein Loblied auf die von den Einschnürungen des Korsetts befreiten Frauen der nachwilhelminischen Epoche gesungen, das sich gerade nicht, wie der Autor vermutet, aus „voyeuristischen Motiven“ speiste. Zu solchen Prozessen, sich von Konventionen der alten, der mit der Kriegsniederlage zerborstenen Ordnungen zu verabschiedeten, trugen die Mode, die Modejournale und Feuilletons das Ihre bei. Ohne sie wären weder kürzere Röcke noch kürzere Haare denkbar. Der Bubikopf wurde zur Signatur der zwanziger Jahre, nicht nur in den Städten, sondern auch draußen im Lande, war jedoch nicht umstandslos gleichzusetzen mit emanzipatorischem Fortschritt. Allerdings, und das betont Jähner zu Recht, „das Bild, das die Mehrheit der Leitmedien von ihrer Epoche zeichneten, hatte mit der Realität der meisten Menschen wenig zu tun.“
In der Weimarer Republik stieg die Zahl der Angestellten überproportional an. Frauen hatten an dieser Entwicklung einen bedeutenden Anteil. Sie waren überwiegend Stenotypistinnen und Bürokräfte, die viel beschworenen „Tippfräulein“, von denen Zeitungen und soziologische Betrachtungen nicht ohne Erstaunen und getrieben von Reporterneugier zu berichten wussten. Dies waren Entwicklungen, die sich schon vor 1914 angekündigt hatten und sich nun in der Breite entfalteten. Auch im Sektor von Wohnen und Stadtplanung war nicht alles gänzlich neu, aber die hochfliegende Entschiedenheit, mit der sich diejenigen artikulierten, die sich als Avantgarde moderner Gestaltung empfanden, war bemerkenswert. „Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft“, proklamierte Walter Gropius 1919 im Bauhaus-Manifest: Das werde, war er überzeugt, „einst gen Himmel“ steigen „als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“
Unter solchen Vorzeichen erlebte der kommunale und genossenschaftliche Wohnungsbau seine erste große Blüte in Deutschland, was nicht zuletzt auf die Innovationsfähigkeit und Innovationsbereitschaft damit befasster Behörden verweist. „Die Geometrie der Moderne hatte sich der kleinen Leute bemächtigt“, resümiert der Autor. Um die wachsenden, vielfach durch Eingemeindungen expandierenden Städte funktionsfähig zu halten, bedurfte es verbesserter, den Erfordernissen der Moderne angepasster Strukturen, brauchte man Verkehrssysteme, die sich wandelnden Mobilitätsbedürfnissen Rechnung trugen, außerdem Straßen, die, konfrontiert mit anschwellenden Zahlen von Last- und Personenkraftwagen, nicht kollabierten. Das führte bisweilen zu verödeten Plätzen und wurde begleitet von illusionären Träumereien. So meinte etwa der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner, urbanes Glück lasse sich planvoll in Szene setzen. „Glück könne man bauen, rationalisieren“ und „gerecht verteilen“, bringt Jähner derartige von sozialdemokratischem Zukunftswillen inspirierte Perspektiven auf den Punkt.
Nicht alle, aber doch viele der geschilderten „Höhenräusche“ hatten ihre Blütezeit in den kurzen Jahren der relativen, mit amerikanischen Anleihen finanzierten Stabilität. Dem gingen die Jahre der Inflation voraus, die sich 1923 in unvorstellbarem Tempo beschleunigte. Dem täglichen Leben wurden dadurch die Kalkulationsgrundlagen entzogen. Um so intensiver fielen danach die Konsum-, Zerstreuungs- und Ablenkungsbedürfnisse aus. Lange jedoch währte das nicht. 1930 machte sich die Weltwirtschaftskrise bemerkbar. Die Gesellschaft stürzte in ungeahnte Tiefen. Arbeit wurde zur Mangelware. Die Parteien verloren vollends an Respekt, der Parlamentarismus schwenkte um in ein autoritäres, auf den Reichspräsidenten gestütztes System. Die NSDAP wurde zur stärksten Kraft, 1933 belehnte Hindenburg deren Führer Hitler mit der Kanzlerschaft. „Der deutsche Gefühlshaushalt“, notiert Jähner einleitend, „schwankte“ damals „zwischen Hass und Einheitssehnsucht“, die Demokratie verlor „eine ihrer wichtigsten und zugleich fragilsten Ressourcen: Zuversicht.“
Gewiss, ein Zwang, die braune Partei zu wählen, existierte nicht. Das geschah freiwillig, geleitet von wirtschaftlicher Not, ideologischer Überzeugung, auch von der Enttäuschung über das Unvermögen der republikanischen Eliten, das Blatt zum Besseren zu wenden und wieder Vertrauen zu schaffen. Stattdessen gab man sich dem anheim, was die Nazis und ihre Gesinnungsgenossen „nationale“ Erhebung nannten. Das war die völkische, die antisemitische Variante des „Höhenrausches“, eine Verkörperung von Amoralität und uferloser Gewalt, die einmündete in millionenfachen Mord.
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