Eine schrecklich komplizierte englische Familie

James Woods Debüt „Upstate“ fasst die Stimmung in den USA vor Obama

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alan Querry ist Mitte sechzig, erfolgreicher Bau- und Immobilienunternehmer und Vater zweier erwachsener Töchter. Mit seiner Lebensgefährtin Candace lebt er im nordöstlichen England, in der an Schottland angrenzenden Grafschaft Northumberland. Alans Frau Cathy verließ ihn und die beiden Töchter wegen eines anderen Mannes und verstab früh. Vanessa, die ältere Tochter, kam mit diesen beiden Schicksalsschlägen offensichtlich weit weniger zurecht als ihre jüngere Schwester Helen, sie zeigte bereits als Schülerin und später als Studentin einige Auffälligkeiten. Alan mutmaßt, ihre Labilität komme von den genannten Verlusten, welche nie richtig aufgearbeitet wurden. Seine hochbetagte Mutter lebt in einem teuren Altenheim, obwohl in seinem großen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Haus mit etlichen Insignien von Bürgerlichkeit („…ein verbogener, schwarzer Stiefelkratzer aus Eisen, wie man ihn niemals kaufen, sondern nur erben konnte.“) Platz wäre für die alte Dame. Diese Lösung würde seiner momentan angespannten finanziellen Situation sehr zugute kommen, doch sie kennt seine Pläne noch nicht und er windet sich, sie ihr zu offenbaren. Als Helen ihn kontaktiert, weil sie eine Nachricht von Vanessas Lebensgefährten Josh erhalten hat, macht er sich kurzerhand in die USA auf.

Mit Helen, die in der Musikbranche arbeitet und das Paradebeispiel einer nach außen hin toughen und kontrollierten Managerin ist, trifft Alan sich in New York. Von dort aus geht es mit dem Zug Upstate, in den Norden des Staates New York, nach Saratoga Springs, wo Vanessa Philosophie unterrichtet – diese Entscheidung traf sie spontan während der Lektüre eines Essays des US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. Josh benachrichtigte Helen, weil er sich Sorgen um Vanessa macht, nachdem sie einen Treppensturz hatte, einen Arm im Gips und auch psychisch eher instabil ist. Diese Zeichen deuteten Schwester und Vater so, dass es am besten wäre, sie zu besuchen, und sich um sie zu kümmern. Als Alan und Helen nun mit Vanessa und Josh zusammentreffen, ist all das scheinbar gar nicht mehr so dramatisch, man lernt sich kennen (Josh und Helen, Josh und Alan), redet, kocht und isst miteinander, erzählt sich Erinnerungen. Die Stimmung wirkt gelöst, doch James Wood, erfolgreicher Literaturkritiker und Essayist (u.a. The Guardian und The New York Times) zeigt unaufgeregt, wie unsicher sich alle Beteiligten sind. In Untertönen und Nuancen, in vielleicht unbedacht Geäußertem und den darauffolgenden Reaktionen (oder Nicht-Reaktionen) erkennt der Leser, wie fragil dieses Familienkonstrukt ist und dass Einiges unter der Oberfläche vor sich hin gärt.

Wood beschreibt vielleicht etwas zu grob die Unterschiede der beiden Schwestern, trotzdem modelliert er diese beiden Figuren sehr akzentuiert, zeigt Helen als die Macherin, die starke Frau, die um ihre erotische Wirkung weiß, berufliche Ideen hat und Tatendrang ausstrahlt. Ganz anders Vanessa, die in ihrer Arbeit als Philosophin ihre Berufung sieht (James Wood streift außer Thomas Nagel auch Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Sören Kierkegaard und andere Geistesgrößen), die jedoch das Leben und das Glück als etwas Schwieriges betrachtet, als eine große, vielleicht zu große Aufgabe, an der sie meint, zerbrechen zu können, weswegen sie regelmäßig Psychopharmaka nimmt. An einer Stelle sagt sie: „Aber wenn man sich anstrengt, wenn man sich so wahnsinnig konzentrieren muss, um einfach nur zu leben, dann kann von guter Laune keine Rede sein, oder?“ Dieser Satz ist einer von sehr vielen sehr guten Sätzen in diesem Buch, das viele Stärken hat.

James Wood ist ein kluger Autor, der in diesen Roman, der im Jahr 2007 spielt, neben Familie und Psychologie viele weitere Themen gekonnt integriert: Landleben versus Metropolen (London und New York kommen nur ganz am Rand vor), Heimat und Entwurzelung, natürlich Philosophie, ebenso Politik und Religion. Und ein für den Autor offenbar besonders wichtiges Sujet ist die Musik (als Student in Eton erhielt er ein Musik-Stipendium): Helens Beruf bei einem großen Label bietet ihm die Möglichkeit, über die Branche zu sinnieren, ihre Unzufriedenheit in einer von Männern dominierten Welt, in der Zahlen wichtiger sind als künstlerische Entwicklung, lässt in ihr den Gedanken reifen, sich mit einer ganz neuartigen Idee selbständig zu machen – sie bezieht sich dabei auf einen prophetischen Artikel von David Bowie aus dem Jahr 2002, in dem dieser einen radikalen Wandel in der Branche formuliert und das Entstehen und Erstarken der Streamingdienste  prophezeit (Spotify wurde Ende 2006 in Schweden entwickelt).

Upstate erinnert entfernt an Jonathan Franzen, auch wenn James Wood weit weniger fabuliert und einen sehr konzentrierten und dichten Roman geschrieben hat. Auffällig ist sein Verhältnis zu Adjektiven, allein im ersten Absatz der ersten Seite sind es dreizehn. Fast könnte man annehmen, der mit der Literatur anderer Schriftsteller so sehr vertraute Autor würde seinem eigenen Text nicht wirklich trauen, weswegen er derart viele Hilfsmittel einsetzt, doch das lässt nach, sein Buch gewinnt schnell an Kontur und erzählerischer Kraft.

Titelbild

James Wood: Upstate. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Tanja Handels.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498074067

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