Auf der Suche nach dem Auswandererroman

Jan Brandt zieht in „Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt“ umher

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem neuen Buch legt Jan Brandt die Bände drei und vier seiner vermutlich noch weiterwachsenden Materialsammlung vor. Die Suche nach einer neuen Wohnung in Berlin und das Vorhaben, das vor dem Abbruch stehende Haus seiner Urgroßeltern in Ostfriesland zurückzukaufen, geben die äußeren Anlässe für die Texte. Wie im Reisebericht Tod in Turin von 2015 und der Los‑Angeles‑Reportagensammlung Stadt ohne Engel von 2016 bildet der Autor wieder das Zentrum des Geschehens.

Als Leserin und Leser von Brandt ist man diverse Gimmicks in der Aufmachung gewohnt: Ausbleichende Seiten, Schwärzungen oder eine versteckte Dichterpose auf der Rückseite des Umschlags sind dabei mal mehr, mal weniger essenziell für die Lektüre. Auch Brandts neues Buch bildet hinsichtlich dieser formalen Spielereien keine Ausnahme. Ist einer der Bände zu Ende gelesen, kann man das Buch wenden, auf den Kopf stellen und auf der anderen Seite von vorne beginnen. Von Ein Haus auf dem Land zu Eine Wohnung in der Stadt und wieder zurück – gewissermaßen eine unendliche Geschichte. Sofern man nicht von Seiten des Verlags den genauen Titel erfragt oder dem Lesebändchen als Kompass vertraut, ist die Entscheidung für eine Reihenfolge der Leserin respektive dem Leser selbst überlassen.

Die Aufmachung des Buchs fordert natürlich zu Gegenüberstellungen heraus: Stadt gegen Land, Zentrum gegen Peripherie, Wohnung gegen Haus, Miete gegen Eigentum oder Vergangenheit gegen Zukunft sind mögliche Aufhänger für eine Näherung. Aber auch Literatur produzieren gegen Literatur konsumieren. So soll das Haus der Urgroßeltern in einer möglichen Variante der Rettung in ein Literaturcafé verwandelt werden. Einen tatsächlichen Aufenthaltsort für den schreibenden Autor scheint es jedoch im Dorf nicht zu geben – Berlin bleibt die Zuflucht und Wahlheimat.

Das Leben als Schriftsteller ist die wenig geheime Konstante in Brandts autobiografischen Materialbüchern. Ob er in Tod in Turin ein Wochenende in Italien verbringt und das Land durch die Augen anderer deutscher Dichter betrachtet oder in Stadt ohne Engel eine junge Autorin in Lion Feuchtwangers Exil‑Villa einlädt: Brandt nähert sich in seinen Texten der Literatur als einem Phänomen, das sich weiter erstreckt als ein Roman; der Autor, seine Biografie und sein Smartphone müssen mitbeobachtet werden. Unterfüttert wird alles Aufgezeichnete dabei stets mit relevanten bis interessanten Details sowie angefügten Literaturlisten. Darin liegt auch die Stärke und zugleich Schwäche dieser Materialbände: Einerseits werfen sie Licht auf die um Positionierung, Haltung und Selbstvermarktung bemühte zeitgenössische „Dichterexistenz“, andererseits wirkt durch den spezifischen Blick die Welt drumherum wie Beiwerk.

Auch in Ein Haus auf dem Land, wenn er zum Beispiel nebenher auf Didier Eribons Rückkehr nach Reims verweist, lässt Brandt durchscheinen, dass er die Diskurse rund um Heimat, Erinnerung, Herkunft, Landflucht, Strukturwandel in der Provinz, autobiografisches Vermessen der eigenen (Familen‑)Historie etc. kennt. Brandts Heimatdorf entspricht dabei nicht dem gängigen Klischee: Ihrhove in Ostfriesland kennt keine Landflucht, das Dorf wächst sogar. Zwar verändert sich das Dorfbild, weil die Bauern und mit ihnen eine bestimmte Architektur verschwinden. Aber der neue, pragmatische Baustil, der die Höfe ersetzt, verspricht ein sorgenfreies Altwerden in ruraler Umgebung und findet Anklang. Statt sich aber diesen Fragen eingehender zu nähern, tritt das Schreiben wieder in den Mittelpunkt. Brandt verfolgt die Idee, dass gerade das eigene Haus mit seinen Geschichten ein schützenswertes Vermächtnis darstellt, das man als Schriftsteller in bester Kondition nur noch verwerten muss.

Brandts „verfluchtes Heimweh nach Historie“, wie er den Kampf um das Haus seiner Urgroßeltern, in dem er selbst nie gewohnt hat, und seinen Wunsch, die Geschichten seiner Familie aufzuschreiben, zusammenfasst, erfährt aber auch in diesem Buch einen Aufschub. Auf seinen lange angekündigten Auswandererroman darf man weiterhin warten. Es sind schließlich immer wieder dieselben, wenigen Zusammenhänge aus der Familiengeschichte der Brandts, die tradiert, weiter- und wiedererzählt werden: Nach Amerika ausgewanderte Verwandte, Heimkehrer und Übervorteilung sind die wesentlichen Schlagworte. Brandt fehlt an dieser Stelle offensichtlich das Material für längere Erzählungen. Es bleiben Leerstellen, die auch die Fotos im Text nicht ausfüllen können. Man kann es deshalb als Kompensationsversuch deuten, wenn der Autor in einem Kapitel die Weltgeschichte, die das Haus seiner Urgroßeltern seit dem 19. Jahrhundert „erlebt“ hat, kondensiert auf 30 faktengeladenen Seiten Revue passieren lässt. Wahrscheinlich sind dabei alle erwähnten Ereignisse genauestens recherchiert – vom ersten Fußballländerspiel bis zur grammgenauen Wiedergabe der zugeteilten Brotration in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs –, aber den gesuchten Geschichten im Haus kommt Brandt damit nicht näher, es bleibt ein Blick von außen und damit von anderen.

In Eine Wohnung in der Stadt sind viele der Vorzeichen umgekehrt: Wird am Land nach idealen, fast idyllischen Vorstellungen ein abbruchreifes Gebäude in der Imagination Stück für Stück restauriert, wird in Berlin das Verfallene romantisiert. Was in Berlin in Kauf genommen wird, um unter anderem der Literaturszene näher zu sein, wobei Wasserschäden zu den kleineren Übeln gehören, wäre für Brandt im Dorf undenkbar. Dabei ist es letztlich wesentlich spannender, Brandt durch Berlin zu begleiten und mit ihm Wohnungen samt (hauptsächlich männlicher) Vermieter und (hauptsächlich weiblicher) immer jünger werdender Maklerinnen zu besichtigen, als zu erfahren, ob er einen Kredit für das Haus der Urgroßeltern bewilligt bekommt oder nicht. Vielleicht auch, weil der episodische Aufbau von Eine Wohnung in der Stadt einige Pointen zulässt.

Brandts Schreiben kreist seit Tod in Turin immer wieder um seinen ungeschriebenen Auswandererroman und er produziert seitdem Buch um Buch beziehungsweise Materialband um Materialband. Das neueste Werk hebt dieses Kreisen auf eine weitere Ebene, nicht einmal die Reihenfolge der Bände scheint mehr entscheidbar zu sein, prokrastinieren auf hohem Niveau sozusagen. Auch wenn Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt nicht immer überzeugt: die Relevanz ist in der Verbindung zu Brandts anderen Texten zu suchen. War der erste Materialband Tod in Turin noch eher rückwärts auf den Debütroman Gegen die Welt gerichtet, zeigen die aktuellen nach vorne. Zurückkommen und finden, ausziehen und ankommen: Was hier in den Titeln chiastisch verschränkt scheint, kommt dem Auswandern schon näher.

Titelbild

Jan Brandt: Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt. Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden / Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen.
DuMont Buchverlag, Köln 2019.
424 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783832183561

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch