Best of Ovidius Naso?

Das Büchlein „Ovid zum Vergnügen“ bietet ein splittriges und kurzweiliges Werk-Panorama des ewig zeitgemäßen Klassikers in neuer Übersetzung

Von Leon DoorlagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leon Doorlag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende 2017 jährte sich das letzte literarische Lebenszeichen von Publius Ovidius Naso (43 v.Chr.–17 n.Chr.) zum 2000. Mal, was gleichbedeutend mit dem 2000. Todestag des römischen Dichters gehandelt wird. Grund genug für die Feuilletons, lobhudelnde Artikel zu bestellen und für die Verlage, ihre Ovid-Ausgaben auf den neuesten Stand zu bringen und dabei einige belanglose bis erfreuliche Nebenprodukte abzuwerfen. Solche auf schnelle Vermarktung und billige Produktion ausgerichteten Publikationen behandeln Ovids Frühwerk gern als den antiken Prototyp heutiger Ratgeberliteratur in Liebesfragen – und haben damit vermutlich sogar Recht. Andernorts wird gern behauptet, Ovid hätte mit seiner Exildichtung das Genre der Exilliteratur begründet und wäre für solche Autoren nach wie vor von Relevanz – was möglicherweise auch hin und wieder zutrifft. Dass es sich bei Ovid aber um einen, die Literatur seiner Zeit bewusst modernisierenden Lyriker und Proto-Romancier mit enzyklopädischem Anspruch und Kunstverständnis handelt, macht der Altphilologe Markus Janka in der Einleitung zu seinem Kompendium Ovid zum Vergnügen deutlich, das in der Universal-Bibliothek des Reclam Verlags erschienen ist.

Als ausgewiesener Ovid-Kenner und Profi-Latinist (Dissertation zu Ovids Ars amatoria), ist Jankas Grundlage der lateinische Originaltext des fast vollständig überlieferten Werks. Die für den Reclam-Band berücksichtigten Auszüge übersetzte er selbst. Jankas Übersetzung der Texte weichen von den kanonischen Übersetzungen von Johann Heinrich Voß und Reinhart Suchier in betontem Maße ab. Betont wird schon im Vorwort der weitgehende Verzicht auf grammatische wie syntaktische Normierungen und Angleichungen an die heutige Schrift- und Sprechweise. Ovids pseudorhapsodischer Satzbau, sein kunstvoller Stil und Bildungsimpetus seien schon zu seiner Zeit ungewöhnlich gewesen und dürften deshalb auch heutzutage, um der Eigenheit und überbordenden Intellektualität des Autors willen, Schwierigkeiten hinsichtlich des Leseflusses bereiten. Nun gibt es aber in Jankas Übersetzung einige recht auffällige Auffrischungen der jahrtausendealten Diktion, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen, beispielsweise die wiederholte Übersetzung des überall präsenten ovidschen Liebhabers (lat. amans) als „Lover“ oder die etwas befremdliche Entscheidung, „colchische Hexenkunst“ in „Vodoozauber“ zu verdrehen. Es hätte interessant sein können, dazu vom Übersetzer Genaueres zu erfahren, da er an diesen Stellen wohlüberlegt und seine Möglichkeiten abwägend vorgegangen sein muss.

Die Zusammenstellung der Testpassagen erfolgt bei Janka nicht nach der traditionellen Dreigliederung des ovidschen Werks in die Liebesdichtung der Frühphase, das mythografische Hauptwerk (Metamorphosen) und die elegischen Klagelieder des Exils. Janka ordnet die (auto-)biografischen Zeugnisse der späten Briefe aus dem Exil in Tomi (tristia) vor die Liebeslyrik (Amores, Ars amatoria, Remedia amores), die den deutlichen Hauptteil bildet (schon die Umschlaggestaltung verbindet anachronistisch das rotbäckige Konterfei Ovids mit einer Jahrmarkt-Sextest-Maschine), und schließt mit einem straffen Überblick über die Verwandlungsgeschichten der Metamorphosen, die ja vor allem anderen Ovids Nachruhm begründen. An deren Schluss und nach der unvermeidlichen Gott-Werdung des Augustus, beschwört der Dichter eine Selbst-Apotheose via ewiger Werk-Rezeption. Das eigene Nachleben in und durch die Literatur durchströmt Ovids Werk in verblüffendem Ausmaß. Ganz programmatisch ist auch in Jankas Ovid-Büchlein in wunderschöner Neuübersetzung zu lesen:

Mag jener Tag, wann er will, der auf nichts außer auf meinen Körper Anrecht hat, mir die Zeit des vergänglichen Lebens beenden. Mit meinem besseren Stück werde hoch und höher ich ständig über die Sterne entschweben, mein Name wird unaustilgbar, wo sich Roms Macht auch erstreckt über unterworfene Länder, bin ich in aller Munde, ich werde durch ewigen Nachruhm, wenn etwas Wahres dran ist an Prophezeiungen, leben.

Das Inhaltsverzeichnis und ein abschließendes Verzeichnis der Textstellen klären über Ursprung, Gewichtung und Verteilung des Lesbaren auf, aber im Fließtext selbst bleibt die zugrundeliegende Ordnung merkwürdig diffus. Ein paar einleitende Worte oder Namen hätten hier Wunder wirken können. Häufig wird man aber, nach hübschen Überschriften wie „Liebesschule für junge Römerinnen“ oder „Homers epischer Zyklus recycelt“, in ein Syntax-Gewirre geworfen, das dem griechischen Distichon beziehungsweise Hexameter allzu wohlwollend folgt. Absätze markieren Textsprünge von gewaltigen und kaum nachzuvollziehenden Ausmaßen, so viel versteht man aber erst nach einer Weile und einigen Blicken ins Textstellenverzeichnis. Die Inhalte, vor allem die der Verwandlungsgeschichten, bleiben dementsprechend oft auf der Strecke. Von wem und was genau die Rede ist, bleibt mitunter unklar, bis man sich ein wenig eingelesen hat, eine Handlung ausmachen kann oder zufälligerweise über eine der vielen mythischen Personen stolpert, deren Namen (und abweichende Bezeichnungen!) man im, zugegebenermaßen umfang- und detailreichen Namensregister am Ende des Buchs nachlesen kann. Mythologisches Vorwissen ist also unbedingt hilfreich bei dieser Einstiegslektüre – und die Lust am intensiven Blättern und Nachschlagen außerdem.

Es befinden sich tatsächlich einige vergnügliche Perlen, auch unbekanntere Stücke, vor allem unter den Liebes- und, man könnte so sagen, Scherzgedichten. Parodistisch verklärt Ovid zum Beispiel den Tod des Papageis einer Geliebten zum Heldentod oder schwingt sich an anderer Stelle, mit viel militärischem Brimborium, zum Kämpfer ohne Waffen im Krieg der Geschlechter auf. Der ewige Widerspruch von brotloser Kunst und göttlicher Inspiration wird meist im erotischen Spiel und mythologischen Vergleich getilgt. Die Passage über eine nur schwer zu erklärende Impotenz im Angesicht einer über alle Maßen aufreizenden Geliebten ist geradezu erbaulich, vor allem, wenn die Augen des erschlafften Poeten mit liebevoller Zärtlichkeit die tänzelnden Schritte der Dame verfolgen, die beschämt und wütend vom Bettlager der Schande flieht. In dieser Lesart lässt sich auch der besondere, plebejische Fokus und die Perspektivverschiebungen in den Mythen der Metamorphosen verstehen. Es wird beispielsweise Circes Zauberei aus der Sicht der in Schweine verwandelten Mannschaft des Odysseus/Ulysses/Ulixes erzählt, genauer, aus der Sicht eines der Männer und wie er die Verwandlung, Stück für Stück, Organ für Organ, als besonders grausame und herabwürdigende körperliche Erfahrung erlebt. Ebenso schafft es Ovid immer wieder, sich der weiblichen Perspektive zu bemächtigen und Ungerechtigkeit und Willkürherrschaft der Götter, Heroen und Könige in wenig heldenhaftem und allzu menschlichem Licht erscheinen zu lassen. Möglicherweise ist es ein Grundthema seiner Dichtung, den ewig Unterlegenen und Unterdrückten von Gesellschaft, Geschichte und Mythologie eine differenzierte Stimme zu geben. Die Auswahl des Reclam-Bandes legt etwas derartiges jedenfalls nahe.

Merkwürdig in diesem Zusammenhang ist das bewusste Aussparen der sogenannten Briefe der Leidenschaft (Heroides), die die (Gegen-)Sicht vor allem der weiblichen Heldinnen der Mythologie und Sage (Penelope, Medea, Dido, Helena, Sappho et cetera) in fiktionaler Briefform reflektieren und damit vorbildlich sind für moderne, feministische Literaturexperimente wie zum Beispiel Christine Brückners Wenn du geredet hättest, Desdemona von 1983. Das Fehlen der Briefe mag der mittlerweile unsicheren Autorenschaft der Heroides geschuldet sein, diese Problematik neueren Datums wird aber mit keinem Wort erwähnt. Überhaupt bleibt der Herausgeber und Übersetzer nach dem Vorwort weitestgehend verschwunden und überlässt seiner Auswahl von Textsplittern uneingeschränkt das Feld.

Dabei bietet das Vorwort vielversprechende und einordnende Interpretationsansätze: Die Metamorphosen werden dort als programmatisch für Ovids Werk und Nachruhm erkannt und das Verwandlungsthema in seiner poetologischen Wirkmächtigkeit als intertextueller Dauerbrenner postmoderner Literatur und, vor allem, der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur entlarvt. Christoph Ransmayrs Die letzte Welt wird beispielsweise erwähnt, Alexander Kluges Intim-Rezeption und Yoko Tawadas, um Ovid kreisendes Verwandlungswerk leider nicht, dafür Percy Jackson, aber weder Cyber-Punk noch japanische Animes.

Neben dem etwas verwirrenden Textkorpus der besten Stücke Ovids in altphilologischer Vorauswahl und dem wunderbaren Vorwort sei noch einmal auf den ungemein nützlichen Apparat im Anhang hingewiesen, der mit Zeittafel, Namensregister und Textnachweisen nicht nur durch dieses Büchlein hilft (dem wissenschaftlichen Assistenten Professors Jankas sei Dank), sondern vor allem Lust auf mehr Ovid macht –  zum Beispiel in Form einer historisch kommentierten Werkausgabe oder aber auch in der vergnügt-vergnüglichen Konfrontation mit frei flottierenden, multimedialen Metatexten.

Titelbild

Markus Janka (Hg.): Ovid zum Vergnügen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2017.
160 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783150193273

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