Musik als Aktion, nicht als Bedeutung

Vladimir Jankélévitchs Musikphilosophie erscheint spät, dafür vorzüglich kommentiert auf Deutsch

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Musik wirkt. Sie kann aufwühlen. Die Tonkunst kann in die Beine fahren, mitreißen, zu Tränen rühren. Klänge können viel zu denken geben oder zum Träumen verleiten. Aber was bedeutet Musik? Transportiert sie besondere Gehalte mittels spezieller Codes? Kein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts – nicht einmal der für das deutsche Musikdenken so wichtige Theodor W. Adorno – dürfte so eingehend den elementaren Fragen nach Wesen, Wirkweise und Sprach(un)ähnlichkeit der Musik nachgegangen sein wie der lange an der Sorbonne in Paris lehrende Vladimir Jankélévitch. Er stammte aus einer jüdischen Intellektuellenfamilie, die aus Odessa nach Frankreich übersiedelte, um dem Antisemitismus zu entgehen. Schon sein Vater publizierte in philosophischen Zeitschriften und sorgte für französische Übersetzungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Sigmund Freud. In Deutschland wurde Vladimir Jankélévitch, der von 1903 bis 1985 lebte, kurioserweise erst 20 Jahre nach seinem Tod etwas bekannter.

Seit dem Jahr 2003 erscheinen (etwa ein halbes Jahrhundert nach ihrer Originalpublikation!) seine Hauptwerke in deutscher Übersetzung. Die Publikation von Kann man den Tod denken? ebenso wie die Aufsatzsammlung Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie nahmen seinen 100. Geburtstag zum Anlass, um zentrale Texte dieses eigensinnigen Philosophen, der auf vielen Themenfeldern phänomenologisch-lebensphilosophisch (wie Henri Bergson und Georg Simmel) fragte und suchte, endlich auf deutsch vorzulegen. Die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit führte zu weiteren Übersetzungen: Von der Lüge erschien 2004, 2006 folgte Die Erste Philosophie, die in Annäherung an die Mystik und an literarische Schreibweisen um Augenblicke des Einleuchtens kreist und sich dabei stark auf den Neuplatoniker Plotin stützt. 2007 kamen seine Vorlesungen zur Moralphilosophie auf Deutsch heraus; ebenso, 52 Jahre nach der Originalpublikation, sein originelles Buch über Phänomene der Alltäglichkeit mit dem sperrigen Titel Das Ich-weiß-nicht-was und das Beinahe-Nichts. 2012 wurde schließlich Jankélévitchs Büchlein zur Ironie für deutschsprachige Leser zugänglich.

2006, also 35 Jahre nach seinem französischen Ersterscheinen, wurde sein für Deutschland und den Umgang mit den nationalsozialistischen Gräueltaten so wichtiges kleines Buch Verzeihen? von Suhrkamp nochmals eigenständig publiziert. Jankélévitch, der in seiner Jugend Johann Wolfgang von Goethe, Novalis und Friedrich Hölderlin verehrte und für dessen Philosophiestudium Schelling, Hegel, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche Leitsterne waren, wandte sich nach seinen Erfahrungen mit der NS-Besatzung und der Judenverfolgung, die ihm das Lehramt kosteten und ihn in den Untergrund der Resistance führten, konsequent wie kaum ein anderer von allem Deutschen ab. Und er beantwortete die Frage nach einem möglichen Pardon, einem Verzeihen des Geschehenen, sehr deutlich mit Nein! Jacques Derrida hat sich im Spätwerk in seinen Überlegungen über eine Philosophie des Vergebens mit Jankélévitchs diesbezüglich strikter Position auseinandergesetzt.

Für Jankélévitchs Musikphilosophie ist seine Abwendung von Deutschland ebenso bedeutsam wie sie ein möglicher Grund für seine um mehr als eine Generation verspätete Rezeption in Deutschland sein mag. Denn in seinen musikphilosophischen Monografien spielen deutsche Komponisten eine genauso marginale Rolle wie deutsche Musikphilosophen: Fast kein Schopenhauer, kein Nietzsche, kein Adorno begegnet in den Texten; Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms ecetera treten als maßgebliche musikalische Schöpfer hier praktisch nicht in Erscheinung. Jankélévitchs musikalischer Beispielkosmos dreht sich um Russen und Franzosen. Und sein insistentes Bedenken musikalischer Paradoxien, sein essayistisches Umkreisen der musikalischen Ungreifbarkeiten – all dies beruht bei ihm neben eigener musikalischer Praxis auf entschiedenem Selbstdenken. Es finden sich in seinen Texten kaum Referenzen auf Vorgänger oder Paralleldenker. Ein Dialog mit Adornos Reflexionen über Sprachähnlichkeit oder Nichtsprachlichkeit der Musik in seiner Ästhetischen Theorie und späten Aufsätzen wäre von hohem musikphilosophischem Interesse gewesen, fand aber nicht statt. Für den französischen Musikdenker lässt sich Musik zwar zweifellos machen und auch auf bereichernde Weise erleben. Doch ähnelt der Versuch, über sie zu sprechen, den Bemühungen der negativen Theologie, den unfassbaren, alles übersteigenden Gott zu erfassen. Jankélévitch kreist in seinen Texten um die sich der sprachlichen Zudringlichkeit entziehenden Klangkunst:

Beinahe niemand spricht von Musik, und die Musiker noch viel weniger als die anderen! Ebenso gilt: Niemand spricht von Gott, und vor allem nicht die Theologen! Was wir nötig hätten, ist die Musik selbst und an und für sich selbst […] und nicht die Musik im Bezug auf ihr Umfeld… Ach! Die Musik an sich ist ein gewisses Etwas, das sich ebenso wenig wie das Mysterium der Schöpfung ergründen lässt – jenes Mysterium, von dem man stets nur das Vorher und das Nachher ergründet: das Vorher bedeutet Psychologie, Charakterologie und Anthropologie des Schöpfers, das Nachher bedeutet die Beschreibung des Geschöpfes. […] Ebenso entzieht sich das enttäuschende Geheimnis der Musik und scheint uns zu verspotten. Die musikalische Realität ist immer anderswo.

Natürlich ist für Jankélévitch, der eben auch über das Unsagbare des Todes ein Buch schrieb, schlichtes Schweigen über Musik nicht die Lösung. Er will darüber reden, er muss darüber schreiben: Nicht nur ein Buch floss ihm beim immerwährenden Umkreisen der Tonkunst aus der Feder, vielmehr sollte es eine ganze Serie werden. Unter dem Generaltitel Von der Musik zur Stille plante er sieben Bücher, von denen letztlich nur drei erschienen. Das erste davon publizierte er 1938, Fauré et l’inexprimable, dessen Titel sein späteres Hauptwerk und Hauptproblem – das Unausdrückbare – schon indiziert. In den Neubearbeitungen seines Gabriel-Fauré-Buchs zuerst 1951 und dann nochmals 1976 fügte Jankélévitch stets neue Kapitel ein, die den Zauber, das Widersprüchliche und Unaussprechliche der bewunderten, staunenswerten Musik immer wieder mit abgewandelten Worten umkreisten. Claude Debussy galt der zweite Band (1949, überarbeitet 1968 und 1976) seiner Buchserie Von der Musik zur Stille, Franz Liszt der dritte. Jankélévitchs Kanon hielt sich systematisch fern von den deutschen Komponisten; weitere Monografien plante er zu Maurice Ravel, Isaac Albéniz, Erik Satie, Frederic Mompou sowie dem Russen Nikolai Rimski-Korsakoff.

Die neuübersetzte musiktheoretische Hauptschrift Die Musik und das Unaussprechliche startet mit der Beobachtung, dass gegenüber der bedenklichen Macht der Musik, also angesichts ihres Potenzials der Überwältigung und Verführung, grundsätzlich drei verschiedene Haltungen möglich seien: der „richtige Gebrauch, das leidenschaftliche Ressentiment und die schlichte und einfache Ablehnung.“ Während eine gleichsam „böse“ Musik dem Logos widerspreche und dem Hörer schmeichele, um ihn zu unterwerfen, vermöge eine „gute“ Musik, zu besänftigen und Leid zu lindern, „denn sie zwingt dem wilden Tumult der Appetition das mathematische Gesetz der Zahl auf, das Harmonie ist, und der Unordnung des maßlosen Chaos das Gesetz des Metrums […] der ungleichen, abwechselnd schmachtenden, konvulsivischen Zeit des Alltagslebens die rhythmische, angemessene, stilisierte Zeit der Festzüge und der Zeremonien.“

Doch auch die Musikdenker bewegen sich für Jankélévitch mit ihrer metaphysischen Verortung des Musikalischen im Jenseits auf abwegigen Bahnen:

Die Metaphysik der Musik, die behauptet, uns Botschaften aus der Anderswelt zu übermitteln, verdoppelt also die beschwörende Wirkung der Bezauberung auf den Bezauberten durch eine unzulässige Übertragung des Diesseits auf das Jenseits; sie führt den Taschenspielertrick mit einem Betrug weiter [und] wenn die Musikethik ein verbales Trugbild ist, nähert sich die Musikmetaphysik weitgehend einer rhetorischen Figur.

Die Tradition von Musikethik (also der Beurteilung des Nutzens und der Gefahren der Musik) und Musikmetaphysik (der musikalischen Funktions- und Bedeutungszuschreibung) verfehlten bislang ihren quecksilbrig sich entziehenden Gegenstand:

Der erlebte Zusammenfall der Gegensätze ist die alltägliche, wenn auch unbegreifliche Seinsweise eines ganz von Musik erfüllten Lebens. Wie Bewegung und Dauer ist Musik ein fortgesetztes Wunder, das bei jedem Schritt das Unmögliche vollbringt. Die in der Polyphonie überlagerten Stimmen verwirklichen gleichfalls eine concordia discors, zu der allein die Musik fähig ist.

„Das ausdruckslose ‚Espressivo‘“ lautet die Überschrift des zweiten Kapitels, das die paradoxe Ausdrucksqualität der Musik in zwölf Anläufen zu fassen versucht. Im 20. Jahrhundert bemerkt Jankélévitch zwei Strategien gegen die abwegige Idee des romantischen Espressivo: den musikalischen Impressionismus und das Streben nach Ausdruckslosigkeit. Beide setzten auf Objektivität und das Außen statt auf Subjektivität und die Vorstellung einer inneren musikalischen Welt, die als Intention zum Ausdruck gebracht werden müsse. Überhaupt lasse sich Musik keineswegs direkt mit Emotionen engführen:

Vielleicht ist die ganze Musik wesensgemäß Allegorie oder Alibi – denn eine Tonfolge ist an sich etwas ganz anderes als ein Gefühl; wenn die gesprochenen Worte in nichts den von ihnen ausgedrückten Gefühlen gleichen, gleicht umso mehr eine suggestive Melodie in nichts dem suggerierten Gefühl: Der Gesang eines gerührten Menschen gehört zu einer ganz anderen Ordnung als die Freude oder Trauer dieses Menschen, wie auch die akustischen Vibrationen zu einer ganz anderen Ordnung als die psychologischen Sachverhalte gehören.

Ebenso wenig treffe die oft gebrauchte Analogie zwischen verbaler und musikalischer Sprache den Sinn der Musik:

Wenn der Sinn eines Satzes mit diesem ganzen Satz untrennbar verbunden ist, ohne dass deshalb Sinnteile bestimmten Satzteilen entsprechen, wenn umso mehr der Zauber eines Verses, welcher der Sinn des Sinns ist, mit diesem ganzen Vers und dem Sinn dieses Verses untrennbar verbunden ist, so ergibt sich die Musik, die der Zauber eines Zaubers ist, wie ein sich entziehender Sinn aus dem ganzen Gedicht. Die Wörter und Zeichen kommen zusammen und verlagern sich wie eine Einlegearbeit, doch der Sinn teilt sich nicht, und hierin ähnelt er der Freiheit. […] Die Anatomie des Zaubers kann nur erbärmliche Reste sezieren.

Der genuin inkommensurable Status des Musikalischen beruhe auf ihrer ureigenen Zeitlichkeit, denn Musik „ist nicht sekundär wie Lyrik, Roman oder Theater, sondern wesensmäßig eine zeitgebundene Kunst […] man kann das Bühnenwerk auch hintereinander oder in einzelnen Teilen und jeder beliebigen Reihenfolge lesen; das musikalische Werk hingegen existiert nur während der Aufführungszeit.“ Daher sei „eine Sonate eigentlich keine Folge von Ausdrucksinhalten, die sich in der Zeit entfalten: Als verzauberte Chronologie und melodisches Werden ist sie die Zeit selbst; sie ist die Klangzeit und die zeitgebundene Verwirklichung der in zwei Themen enthaltenen Virtualitäten.“

Der französische Philosoph beendet seine Überlegungen zum fraglichen Ausdruckscharakter der Musik mit der Feststellung, das Mysterium der Musik sei nicht das „Unsagbare“, sondern das „Unaussprechliche“. Unsagbar sei, worüber es nicht das Geringste zu sagen gibt, etwa die „schwarze Nacht des Todes“; über das Unaussprechliche hingegen gebe es unendlich viel zu sagen, wodurch es unaussprechlich werde, so etwa die Geheimnisse Gottes oder der Liebe, die unerschöpflich (sprachproduktiv) seien. Seine originelle zentrale These lautet: „Die Zauberwirkung, die von dem ausdruckslosen Espressivo ausgeht, ist kein Sagen. Sondern ein Tun (poiein) – und hierin gleicht die Musik dem poetischen Akt.“ Als Handeln, nicht als Kommunikation von Bedeutung, will er das Wesentliche des musikalischen Ereignisses begreifen: „Der Ausführende wirkt mit dem ersten Schöpfer zusammen, weil er das Werk während eines bestimmten Zeitraums tatsächlich in der vibrierenden Luft existieren lässt, und der Hörer, der dritte Neuschöpfer, wirkt mit den beiden ersten durch seine Phantasie oder allmähliche Gesten zusammen.“ Musik existiere demnach nicht an sich, sondern nur „während jener gefährlichen halben Stunde, in der wir sie entstehen lassen, während wir sie spielen“. So löse sich die Doppelsinnigkeit von Ausdruck und Ausdruckslosigkeit „in einem wirksamen Akt auf“ und so ereigne sich die ewige Wahrheit als ein temporärer Vorgang. Wie bei Poesie und Liebe, gehe es bei der Musik nie darum, darüber zu sprechen; vielmehr gelte es, sie auszuführen. Zum Verkennen des Eigentlichen der Musik trage bei, dass viele Redeweisen und Metaphern über Musik der Gesichtswelt entstammen und daher durch räumliche Beschreibungen und Verortung (etwa: hoch-tief, Verortungen auf Notenzeilen) die Musik beschreiben wollen, und sie dieserart geradewegs verfehlen.

Recht gründlich erörtert Jankélévitch auch das innige Verhältnis von Musik und Schweigen. Hier wird seine Sprachfindung zur Musikverdeutlichung gelegentlich richtig blumig:

Wie die Litotes nicht ausdruckslos, sondern andeutend ist, anders gesagt, wie das ‚ausdruckslose Espressivo‘ kein geringerer Ausdruck, sondern in seiner Art eine beherrschte Eloquenz ist, ebenso ist das Schweigen kein Nicht-Sein, sondern etwas anderes als das Sein. Die andere Stimme, die uns das Schweigen hören lässt, heißt Musik. Ohne dass man sich haltloser Metaphern bedient, kann man also sagen: Das Schweigen ist die Wüste, in der die Musik blüht, und die Musik, diese Wüstenblume, ist selber eine Art geheimnisvollen Schweigens.

Schweigen hat für diesen Philosophen grundsätzlich mit Nichtwissen zu tun, sein Gegenpol ist das Geschwätz. Häufig scheint bei ihm der Rückgriff auf paradoxe Redeweisen der Mystik und der Apophatik der einzige Weg zum Unaussprechlichen.

Nachdem 2003 und 2013 in der Zeitschrift Sinn und Form einzelne, kürzere Kapitel von Jankélévitchs musikphilosophischem Hauptwerk La Musik et l’ineffable (1961) auf Deutsch vorgestellt wurden, muss man die nun endlich vorgelegte Gesamtübersetzung dieses wichtigen Textes nicht zuletzt auch wegen ihres überaus informativen Nachworts von Andreas Vejvar nachdrücklich begrüßen. Eine Formulierung von Jankélévitchs Doktorand Lucien Jerphagon übernehmend bezeichnet Vejvar den französischen Denker, der trotz genauer Kenntnisse der Partituren gewiss nicht wie ein analytischer Musikwissenschaftler und auch nicht wie ein Musikhistoriker argumentiert, als einen „Musikophan“: als jemanden, der darauf hinweist, „dass Musik ahnen lässt“. Und kein anderer Autor zeigt den Musikliebhabern so wie Jankélévitch, auf welche Weise und was Musik so alles ahnen lässt.

Titelbild

Vladimir Jankélévitch: Die Musik und das Unaussprechliche.
Mit einem Nachwort von Andreas Vejvar.
Übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
268 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586921

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch