Philosophisch leben
Karl Jaspers denkt über „Grundsätze des Philosophierens“ nach
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKarl Jaspers, 1883 in Oldenburg geboren, 1969 in Basel verstorben, gehörte im 20. Jahrhundert zu den meistgelesenen Philosophen deutscher Sprache. Seine Popularität verdankte der studierte Mediziner auch Vorträgen, die er in den 1950er-Jahren im Rundfunk gehalten hat. Jaspers publizierte Werke zur Psychopathologie, zur Geschichte der Philosophie und zur Existenzphilosophie. Bis in die letzten Lebensjahre hinein äußerte er sich zu Philosophie und Politik. Während der NS-Zeit war Jaspers mit einem Lehr- und Publikationsverbot belegt. Er saß jedoch weiter am Schreibtisch und legte seine Gedanken nieder. In diesem akribisch edierten ersten Band aus den Nachgelassenen Schriften finden sich Darlegungen aus den Jahren 1942 und 1943.
Mit feierlichem Ernst und existenzphilosophischer Emphase dachte Jaspers über Philosophie und Leben nach: „Philosophieren gelingt nicht in bequemem Lesen.“ Das Denken über die Dinge des Lebens, über den Menschen und seine Welt, über Moral und Politik ist mitnichten ein müßiges, geselliges Geplauder in der Wohnstube. Wer philosophiert, sinniert nicht gefällig und entspannt dahin. Jaspers verdeutlicht, dass eine geordnete Lektüre und Reflexion strapaziös und beschwerlich ist. Philosophieren strengt auch einfach an. Seine Empfehlung ist mehr als ein methodischer Hinweis:
Philosophische Schriften muss man mindestens zweimal lesen, Abschnitt für Abschnitt. Es ist für das Verstehen aber unzweckmässig, am Satz zu hängen und nicht weiter zu gehen, bevor man diesen Satz restlos verstanden zu haben glaubt. Vielmehr muss unter Übergehen zunächst schwer überwindlicher Hindernisse ein Abschnitt im Ganzen und dann sogleich noch einmal gelesen werden. Der Gedankengang erleuchtet nicht nur Schritt für Schritt nach vorn, sondern auch rückwärts; denn der philosophische Gedanke erscheint häufiger in Kreisgestalten als in geradlinigem Fortschritt. Was anfänglich fremd anmutet, wird mit einem Mal natürlich, wenn der Gedanke aus seiner Mitte her gegenwärtig geworden ist. Was fast unverständlich erschien, wird dann einfach und klar. Die philosophische Einsicht pflegt plötzlich zu geschehen, nach unverdrossener Mühe ausgelöst durch eine glückliche Formulierung.
Karl Jaspers ermutigt zur Geduld. Man dürfe manche schwerverständlichen Passagen zunächst auch überlesen, um später zu ihnen zurückzukehren. Oft erscheint das philosophische Denken hier wie eine meditative Übung, die mit Inspiration durch erneutes Bedenken verbunden ist. Jaspers macht deutlich, dass Lesen und Verstehen einfach Zeit brauchen, dass Argumente nicht unbedingt sofort und auch nicht immer der Reihe nach verstanden werden müssen. Argumente sind zwar wichtig, aber der Horizont des Denkens reicht weit darüber hinaus. Philosophie ist für ihn „Sache des Einzelnen“, zugleich dialogisch, in einem durchaus dem Zugang Kants verwandten Sinn: Philosophische Systeme sollen nicht nur nachvollzogen, sondern in einer selbsttätigen Auseinandersetzung denkend angeeignet werden. Zwar betont Jaspers den Wert des philosophischen Glaubens und die Bedeutung der Gewissheit des Daseins Gottes, eine Verfestigung des gläubigen Bewusstseins in einem dogmatischen System indessen lehnt er ab. Die von ihm eher tastend entwickelten „Grundsätze des Philosophierens“ seien zwar „ernst, aber kein Bekenntnis, zwar getragen von dem Glauben an in ihnen getroffene Wahrheit“, doch sei mit ihnen kein „Anspruch an bedingungslose Zustimmung“ der anderen verbunden. Die Grundsätze sind auch eher Überlegungen als ausformulierte, fixierte Leitlinien für die Philosophie. Insoweit gibt Jaspers eher Anregungen zu philosophischen Erkundungen, die mit einer Teilhabe an anderen Wissenschaften und Wissensbereichen verbunden sind. Er möchte, selbst oft schwebend formulierend, die Philosophie vom „Scheindenken der Unphilosophie“ distanzieren. Beispiele für diese „Unphilosophie“ wären etwa Weltanschauungen totalitärer Staaten, aber auch – bezogen auf die Philosophiegeschichte – jeder unbegründete absolute Anspruch, der in Ideologien, in Denk- und Glaubenssystemen fixiert ist.
Jaspers empfiehlt die existenzielle Orientierung am Guten, das nie ein fester Besitz des Handelnden werden und auch nicht in moralische Gesetze aufgelöst werden könne. Stets gelange der Mensch in der Wirklichkeit an Grenzen: „Der Weg des Aufschwungs verlangt vom Menschen, die Realitäten der Welt nicht zu umgehen, sondern zu ergreifen, durch sie hindurch, in ihnen und mit ihnen die Verwirklichung zu vollziehen. In der Bindung an die Realitäten in mir und um mich erwachsen die Fragen, die für den Willen zum Guten keine endgültige Lösung finden.“ Achtsam sein müsse jeder Handelnde gegenüber dem „Hochmut der moralischen Selbstzufriedenheit“.
Karl Jaspers lehnt auch die ausschließliche Ausrichtung auf den Verstand ab. Eine „falsche Aufklärung“ könne zur Überschätzung des Denkens führen. Der Kern der philosophischen Aufklärung liege darin, das „Fragenkönnen“ offenzuhalten: „Diese denkende Bewegung des sich nicht genügenden Menschen heisst Philosophieren. Es ist der Gang, den er mit seinem Wesen tut im Medium des Denkens.“ Die „Wahrheitswidrigkeit“ bestehender Denksysteme werde erkannt. Eine Auseinandersetzung mit geschichtlich gegebenen Formen und Werken der Philosophie sei dem denkenden Menschen zu jeder Zeit aufgegeben. Er müsse die Wissenschaften berücksichtigen, sonst bleibe jedes Philosophieren eine „fruchtlose Spielerei“, werde „fanatisch“, „ästhetisch“ oder eine „blosse Gebärde in Wiederholung vergangener, heute unwahr gewordener Möglichkeiten“: „Mit Wissenschaft allein aber ist Philosophie noch keineswegs auf dem rechten Weg. Ihr gar unterworfen wird sie im Schein klarer Begriffe in der Tat ein Nebel vor dem eigentlichen Sein.“
Insbesondere Leser, die sich bislang eher wenig mit Philosophie befasst haben, werden indessen bei Passagen wie diesen auch erwägen, ob die Gedanken von Karl Jaspers nicht selbst zu den Nebelbildungen, die sich auch im Bereich des Denkens immer wieder finden, gehören könnten. Er versucht aber hier vor allem – in seiner eigenen, auch sehr eigen kolorierten Sprache –, das Gespräch zwischen Wissenschaft und Philosophie zu öffnen und zu beleben. So warnt der Philosoph immer wieder vor „täuschenden Totalanschauungen“, ob in der Politik oder in der Religion. Wissen sei ein „Machtmittel“, behauptetes Wissen auch: „Herrschende Mächte wollen sich behaupten durch die Geltung von Auffassungen, die unbezweifelt die Menschen beherrschen.“ Die „Weltordnung“ bleibe in Bewegung und im Wandel: „Jede Menschenvergötterung ist unwahr. Es gibt keinen Gottkönig, keinen Herrscherheiland, keinen Gottmenschen und keinen Vertreter Gottes oder des Gottmenschen. […] Es gibt kein heiliges Imperium.“ Jaspers denkt hier besonders an politische Führer, die als „falsche Idole“ verehrt werden. Solche Akteure im öffentlichen Leben seien „Zerstörer“. Der politisch führende Mensch müsse „wie der gute Verwaltungsbeamte sich als Gärtner fühlen, der wohl das Wachsen ermöglichen, aber keinen Baum erzeugen kann“ – das ist sehr schön und treffend formuliert. Gewissermaßen summarisch für Jaspers‘ Verständnis von Philosophie sind die folgenden Reflexionen:
Philosophieren, so lange es echt bleibt und wahrhaftig, will für sich keine Propaganda, kein Aufzwingen, kein Überreden, es hat keinen Willen zur universalen Herrschaft. Nur eines will es: Gehört werden und geprüft werden durch diejenigen, die durch ihr eigenes Leben und durch die Voraussetzungen geistiger Entwicklungen und Reife zu solchem Denken fähig sind. […] Wer philosophiert, ist grenzenlos communicationsbereit und communicationsbedürftig. Er sucht, was ihm widerspricht. Er will in Frage gestellt sein.
Unbestreitbar scheint nach der Lektüre dieses gewichtigen, aber nicht einfach zu lesenden Bandes, dass Jaspers‘ Philosophie heute neues Gehör, neue Aufmerksamkeit und Beachtung verdienen würde – gerade in Zeiten einer globalen Krise. Der Philosoph weckt zudem die Lust am Widerspruch. Auch wenn der Denker selbst von „Grundsätzen“ für das Philosophieren gesprochen hat, finden sich in diesem fragmentarisch gebliebenen Text eher Anregungen und Anstiftungen, sich philosophisch denkend in der Welt zu orientieren. Solche Ermunterungen werden gegenwärtig dringend gebraucht.
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