Vom Scheitern und Neubeginnen

Über Evelina Jecker Lambrevas Roman „Nicht mehr“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir alle kennen das: Zu Beginn eines jeden neuen Jahres sind wir voller guter Vorsätze, es diesmal wirklich langsamer angehen zu lassen, uns mehr Zeit für  Familie und Hobbies zu nehmen oder auch einfach nur Stunden der Muße zu genießen. Doch dann holt uns im Laufe des Jahres die Tretmühle gesellschaftlicher Normen und Zwänge wieder ein, die den Alltag eines jeden so sehr prägen: Es gilt, im Beruf Leistung zu zeigen, stets voller Energie und Einsatzbereitschaft zu sein, ohne auf die eigenen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Und auch das private Leben ist vielfach fremdbestimmt von den Erwartungen, ein repräsentatives Heim, ein schnelles Auto und fabelhafte, bestmöglich geförderte Kinder vorzeigen zu können.
Aber ist damit das Glück des einzelnen Menschen verbunden? Eher nicht. Das merken auch die Protagonisten in Evelina Jecker Lambrevas Roman Nicht mehr. Denn auch dem reibungslos funktionierenden Rädchen im Getriebe droht der Absturz und hinter der bürgerlichen Fassade tun sich familiäre Abgründe auf.

Das muss auch der Banker Kilian erleben, der jahrelang alles dafür getan hat, um es seiner Frau und seinem Arbeitgeber recht zu machen. Inmitten der Bankenkrise kann er plötzlich nicht mehr: Ausgerechnet das Klimpern von Münzen überfällt ihn als heftiger Tinnitus, was einen längeren Aufenthalt im Sanatorium nach sich zieht. Doch anstatt dies als Chance zu begreifen, plant Kilian die Rückkehr ins alte Gleis – und sieht sich mit einer üblen Überraschung konfrontiert, die sein komplettes Leben auseinanderbrechen lässt.
Seine Frau Nicole kann dem nur mit entsetztem Staunen begegnen, denn sie hat weder gelernt, Schicksalsschläge zu verarbeiten, noch überhaupt jemals darüber nachzudenken, was anstelle von Dauerkonsum und dem Dasein als Helikoptermutter eines selbst designten Wunschkindes ein erfülltes Leben ausmachen könnte.

Auch die anderen Protagonisten haben so ihre Schwierigkeiten mit dem Leben an sich und ihren Familien insbesondere: Linus und Jasmin schaffen es immerhin, über ihren eigenen Schatten zu springen und nach langer Beziehungspause wieder zueinander zu finden – und das, obwohl der Schatten von zwei Verstorbenen über ihrem Leben hängt: Zum einen ist da Linus viel zu früh gestorbene Schwester, die ohne neue Leber keine Chance hatte und zum anderen Jasmins verhasster Vater, der seinerseits ein Herz transplantiert bekam, das geschenkte Leben jedoch nur dazu nutzte, seine Familie weiter zu tyrannisieren.

Hier begegnet man dem zweiten prägenden Thema des Romans: Denn bei Jecker Lambreva geht es nicht nur um das Ringen um Autonomie und Lebensglück in einer Gesellschaft, die sich allein über Leistung definiert. Vielmehr steht auch die Problematik von Organspenden im Zentrum des Geschehens und betrifft – mehr oder weniger direkt – alle Romanfiguren. So auch Gertrud, die als ältere Dame vom Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht wird und deshalb angesichts ihrer scheinbaren Nutzlosigkeit in tiefe Depressionen verfällt. Sie sieht schließlich den logischen Schluss darin, sich selbst in einem Müllcontainer zu entsorgen. Dort jedoch stößt sie auf einem kleinen Säugling, den jemand abgelegt hat – und plötzlich fühlt sie sich nicht mehr überflüssig. Stattdessen erlangt sie neuen Lebensmut, denn das Kind braucht Unterstützung. Sogar der Gedanke, anderen Menschen zu helfen, indem sie Lebendspenderin für eine Niere wird, scheint ihr in ihrem neuen Lebensmut eine wundervolle Idee, die schnell umgesetzt werden muss. Als das Schicksal die Karten wiederum neu mischt, kommen ihr daran jedoch ernsthafte Zweifel. Doch letztlich schafft sie den Schritt in ein neues, erfüllteres Leben. Und so geht es nicht nur ihr allein…

Der Roman hat dort seine Stärken, wo die Autorin aus ihren eigenen beruflichen Erfahrungen als Therapeutin schöpft und von den psychischen Konsequenzen gesellschaftlichen Drucks wie Vereinsamung, Depression und Burnout sachlich-kühl und durchaus realistisch berichtet. Dem Roman als Ganzen tut es jedoch nicht gut, dass Jecker Lambreva dies mit der ethischen Fragstellung von Organspenden verquickt und sich ausnahmslos alle Protagonisten mit der Problematik herumschlagen müssen.

Hierbei wirkt der Plot oft reichlich konstruiert. So erscheint es mehr als fraglich, ob gleich zahlreiche Fahrschüler nach einer Fernsehdiskussion ihrem Fahrlehrer die Stunden kündigen, nur weil ihnen dessen Position zum Thema nicht gefällt. Auch in der Schweiz dürfte sicherlich nicht jeder auf das Empfindlichste in seinem Inneren getroffen sein, nur weil jemand dazu eine andere Meinung vertritt. Auch dass jeder aus dem Kreis der Hauptfiguren, der sich noch dazu als miteinander verbunden herausstellt, genau zu diesem Zeitpunkt mit genau diesem Thema als zentrale Frage in seinem Leben beschäftigt, wirkt nicht überzeugend.

Da auch die inneren Konflikte und Diskussionen untereinander zur Organspende-Problematik ebenso sachlich erzählt werden wie der Rest des Romans, springt der Funke einfach nicht über, der den Leser dazu brächte, die Dilemmata der Protagonisten emotional nachzuempfinden. Da hilft auch die tragische Wende um den Banker Kilian nicht weiter, dessen Not man zwar theoretisch nachvollziehen kann, dessen Verzweiflungstat als dramaturgische Zuspitzung aber trotzdem irgendwie blutleer daherkommt.

Nach der Lektüre bleiben gemischte Gefühle: Durchaus gute Analysen menschlicher Konflikte und Ängste treffen auf einen angenehm zurückhaltenden Erzählstil, dem man gerne folgt. Aber sicherlich wäre das Leseerlebnis weniger ambivalent gewesen, hätte sich die Autorin darauf konzentriert, allein davon zu berichten, wie Menschen mit ihren familiären Hintergründen, ihrem beruflichen Alltag und ihren eigenen Wünschen umgehen und einen Neubeginn wagen können, wenn sie merken, dass sie nicht weitermachen können wie bisher. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Titelbild

Evelina Jecker Lambreva: Nicht mehr. Roman.
Braumüller Verlag, Wien 2016.
277 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783992001668

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