Familiengeschichten als Geschichte des Kontinents

Miljenko Jergović zeigt in seinem Roman „Ruth Tannenbaum“, dass Europa (auch) im Osten liegt

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lea Deutsch wurde 1927 in Zagreb geboren, stieg schnell zum Kinderstar im Königreich Jugoslawien auf und wurde kaum 16-jährig im Mai 1943 während des Transports nach Auschwitz von den Nazis ermordet. Der 1966 in Sarajevo geborene bosnische Autor Miljenko Jergović orientiert sich in seinem Roman Ruth Tannenbaum in lockeren Zusammenhängen an der Biographie und den Lebensumständen der als kroatische „Shirley Temple“ in die Theatergeschichte eingegangenen Jüdin.

Die titelgebende Ruth Tannenbaum ist aber eigentlich keine Hauptfigur, sondern nur der Erzählanlass für eine breit angelegte Familiensaga der Tannenbaums und Singers die vor dem geschichtlichen Hintergrund des zusammengebrochenen Vielvölkerstaats der Habsburger nach dem Ersten Weltkrieg beginnt und über das neu gegründete Königreich Jugoslawien als Konglomerat kroatischer, serbischer und slowenischer Gebiet reicht bis hin zu jenem unheilvollen März 1941, als das Königreich Jugoslawien seine Neutralität im Zweiten Weltkrieg verlor und von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. Fortan, bis zum Ende des Krieges, sind die politischen Entwicklungen geprägt durch Einschüchterung, Terror und vor allem antijüdische Ressentiments: die Verfolgung (kroatischer) Juden ist an der Tagesordnung und die Aktionen der rechtsradikalen, geheimbündlerischen, auf ein von Serben ‚bereinigtes‘ Groß-Kroatien sinnenden Untergrundbewegung Ustascha infizieren und vergiften mit ihren terroristischen Methoden Familien, Nachbarschaftsverhältnisse und schließlich weite Teile der Gesellschaft.

Den Großvater von Ruth Tannenbaum, Abraham Singer, lässt der Erzähler des Romans nicht zufällig eben in jenem März 1941 sterben. In seiner faszinierenden Lebensgeschichte bildet sich auch die Geschichte eines glückenden multi-ethnischen Gemeinschaftslebens ab, dessen Alltagswirklichkeit der Erzähler in Häusern mit ganz konkreten Adressen und Bewohnern spielen lässt.

Dieser Roman von Jergović ist im Original bereits im Jahr 2006 erschienen und nach dem fulminanten Erfolg seiner 2017 erschienenen, voluminösen Familiensage Die unerhörte Geschichte meiner Familie nun auch ins Deutsche übersetzt worden. Das Prinzip, fiktionale Lebensgeschichten mit historischen Fakten zu vermischen, einen bisweilen ironisch-humoristischen und bissigen, dann auch wieder melancholisch-schelmisch-pikaresken Erzähler einzusetzen, was Jergović auf über 1000 Seiten beeindruckend vorgeführt hat, lässt sich schon in diesem früheren Roman beobachten. Ohne Redundanzen und Längen – die sich bei seinem Meisterwerk von 2017 doch eingeschlichen haben – kommt Ruth Tannenbaum aus und als Leser kann man sich der sagenhaften Erzähl-, ja Fabulierkunst, die in der deutschen Übersetzung auch zu einem guten Teil das Ergebnis der herausragenden Arbeit von Brigitte Döbert ist, nicht entziehen. Jergovićs Sprache und Erzählweise ist von einem unnachahmlichen Bilderreichtum, von einer geradezu betörenden Poesie geprägt, die allerdings nicht über die erschütternden Gegenstände, Handlungen und Ereignisse, die sie einfängt, hinwegtäuscht, sondern ganz im Gegenteil noch mehr die irrationalen Verfehlungen zwischen Menschen und Völkern unmissverständlich verdeutlicht.

Ruth Tannenbaum ist auch ein Roman über kroatische Juden und den Umgang mit den Juden, über Wandlungen in der Einstellung zu Juden nach 1930 und dann vor allem nach 1941 im Königreich Jugoslawien. Jergović erzählt Weltgeschichte als Alltagsgeschichte; fiktive Individualgeschichten eröffnen den Blick und Horizont zur europäischen Ereignisgeschichte.Zäsuren und Wendepunkte der osteuropäischen Geschichte werden von ihrer Alltagswirklichkeit her eingefangen und fügen sich so zu einem faszinierenden und stimmigen, ja auch spannenden Porträt einer im Westen doch eigentlich recht unbekannten Region. Und das, obwohl die Territorialgeschichte des Balkans wie kaum einer anderen Region für die gesamteuropäische Geschichte im 20. Jahrhundert vielleicht die weitreichendsten Folgen hatte.

Wer europäische Vergangenheit und Gegenwart verstehen will, muss den Balkan kennen, muss die Nachfolgestaaten des untergegangenen habsburgischen Vielvölkerstaates mit ihren wechselnden Verfassungen, Ideologien und sozialen Verwerfungen sich vor Augen führen. Wer Jergovićs Roman liest, wird darüber eine Menge, wenn nicht fast alles in dichterisch-poetischer Verknappung erfahren. Denn in der Geschichte der Familien Singer und Tannenbaum verdichten sich wie in einem Brennglas die konkurrierenden ideologischen Konzepte europäischen Denkens im 20. Jahrhunderts. Ihre Territorialgeschichte von Heimat und Herkunft erscheint wie ein Schmelztiegel europäischer Geschichte – und als eine Mahnung für die Zukunft.

Titelbild

Miljenko Jergovic: Ruth Tannenbaum. Roman.
Übersetzt aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
448 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783895613982

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