Plötzlicher Zustand kollektiver Wachheit

Furio Jesi interpretiert den „Spartakus“-Aufstand von 1919 als überhistorisches Ereignis

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der früh verstorbene italienische Mythenforscher und Schriftsteller Furio Jesi (1941-1980) dürfte hierzulande nicht allzu vielen Menschen bekannt sein. In Italien jedoch beeinflusste er große Geister wie Umberto Eco, Pier Paolo Pasolini und Giorgio Agamben. Mit einer Neuausgabe des Essays Spartakus. Symbologie der Revolte von 1969 bietet nun der Matthes & Seitz-Verlag eine Gelegenheit, diesen originellen Denker wiederzuentdecken – oder ihn zum ersten Mal kennenzulernen. Aufregend ist die Beschäftigung mit Jesis Essay nicht nur deshalb, weil darin der Januar-Aufstand in der deutschen Revolution von 1918/19, auch Spartakus-Aufstand genannt, neu und ungewöhnlich interpretiert wird, sondern weil das Ereignis weit umkreist und auf unerwarteten Umwegen über klassische Werke der fiktionalen Literatur interpretiert wird. Da Jesi auch Germanist war, argumentiert er im Rahmen seiner „Symbologie“ überwiegend mit Beispielen aus der deutschen Literaturgeschichte.

Einfach macht er es uns dabei nicht. Der Text ist so voraussetzungsvoll, dass der Verlag es für angebracht hielt, ihn mit zwei längeren Begleittexten einzurahmen: einem Vorwort des Herausgebers Andrea Cavaletti und einem Nachwort der Übersetzer Cinzia Rivieri und Frank Engster, die in einem weiteren Abschnitt Prinzipien ihrer Übersetzung erläutern. Während Cavaletti darstellt, in welcher geistesgeschichtlichen Tradition Jesi stand und dabei insbesondere den Einfluss des Mythenforschers Karl Kerényi berücksichtigt, ordnen Rivieri und Engster Jesis Begriff von der Revolte, den er scharf gegenüber der Revolution abgrenzt, in die Tradition des marxistischen Revolutionsdiskurses ein – von Marx über Lenin, Rosa Luxemburg und Georg Lukács bis zu Benjamin und Gramsci. Während all diese Theoretiker ihr Augenmerk auf die Revolution richten und ihr einen prominenten Platz in der Geschichte einräumen, ist für Jesi die Revolte interessanter. Er hält sie für das Überzeitliche, das aus der Geschichte Herausfallende und daher mit dem Mythos Verbundene.

Etwas verwunderlich ist es, dass nicht Albert Camusʼ Essaysammlung Der Mensch in der Revolte (1951) zum Referenztext gemacht wird, weder von Jesi selbst noch im Vor- oder Nachwort. Denn zumindest in einer Hinsicht bilden Camusʼ Thesen einen Gegenentwurf zu denjenigen Jesis: Während Jesi die Revolte als ein vom Kollektiv getragenes Ereignis ansieht, konzentriert sich Camus auf das Individuum, indem er schreibt: „Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt.“ Dieses Nein-Sagen findet auch bei Jesi statt, aber es ist ein Nein der Vielen, die aus dem Ausnahmezustand des Weltkriegs zurückgekehrt sind und nun durch ihre Revolte einen weiteren Ausnahmezustand schaffen. Der wird dann paradoxerweise zur Voraussetzung dafür, dass der Normalzustand, das heißt, die alten Zeit- und Herrschaftsverhältnisse wiederhergestellt werden können.

Auf eine genaue Bestimmung der politischen Kräfteverhältnisse und divergierenden Zielsetzungen in Deutschland lässt sich Jesi nicht ein. Ganz am Anfang seines Essays stellt er klar: „Dieses Buch ist keine Geschichte der Spartakusbewegung und des Spartakusaufstandes.“ Vielmehr gehe es ihm um Mythen und Symbole und damit um Themen, die über Deutschland hinauswiesen. Vor allem weisen sie über die Kette von Ereignissen hinaus, die vom 6. bis zum 10. Januar 1919 Berlin erschütterten. Sie haben eine erhabene und eine klägliche Seite. Aus dem Konflikt um die Absetzung des linken Berliner Polizeipräsidenten entstand eine Massenbewegung, die spontan hunderttausend Arbeiter auf die Straße brachte. Teile von ihnen eroberten Gebäude im Zeitungsviertel, Bahnhöfe und Amtsgebäude. Die Massenbewegung der zunächst enthusiasmierten Arbeiter ist die erhabene Seite. Das Verhalten der Führer, die sich nicht auf eine Strategie einigen konnten, die klägliche. Die Demonstranten warteten, froren und zerstreuten sich schließlich wieder. Im Zeitungsviertel eroberten regierungstreue Truppen ein Gebäude nach dem anderen zurück, bis „Ruhe und Ordnung“ wiederhergestellt waren.

Es kam zu Hinrichtungen der Aufständischen, worunter am spektakulärsten und am meisten deprimierend die regelrechte Abschlachtung der Spartakusführer Liebknecht und Luxemburg war. Letztere hatte den Aufstand, in realistischer Einschätzung der Kräfteverhältnisse, zunächst abgelehnt, ihn dann, als er losgebrochen war, aber unterstützt. Jesi spekuliert, ob die Weigerung der beiden, Berlin zu verlassen, ein bewusstes Opfer gewesen sein könnte. Das wiese ihr Ausharren in der Stadt als ihre letzte Tat in den Bereich des Mythischen. Dem Thema Entsagung und Opfer widmet Jesi lange Passagen seines Buchs und macht dabei einige überraschende Exkurse. Etwa zu Theodor Storms Novelle Immensee, einer klassischen Entsagungsgeschichte, die er mit Goethes, allerdings tödlich endendem, Werther vergleicht. In beiden Fällen wird ein „existentielle[s] Opfer“ gebracht, durch das die bürgerliche Ordnung wiederhergestellt wird, wobei in Immensee ein Symbol (eine Wasserlilie) dem Opfer eine „metaphysische Ausstrahlung“ verleiht.

Eine Gegenfigur ist Brechts Kriegsheimkehrer Kragler aus dem Theaterstück Trommeln in der Nacht, der sich zunächst dem Aufstand anschließt, dann aber kleinbürgerlich einknickt, als er seine Geliebte zurückgewinnen und mit ihr einen Hausstand gründen kann. Aber ist dieses Verhalten nicht verständlich, weil allzu menschlich angesichts der Symbole einer Übermacht auf der Gegenseite – die Jesi ausführlich darstellt? Diese Symbole leitet er aus der Kriegserfahrung ab, die unter anderem darin bestanden habe, dass den Frontsoldaten suggeriert worden sei, „nicht einem ebenbürtigen Gegner gegenüberzustehen, sondern einem ‚Monster‘“. Die revoltierenden Arbeiter hätten dieses „Monster“-Trauma in der Stadt, in der sie auf die Straße gingen, erneut empfunden, und zwar ganz konkret in Gestalt der kalten Straßen und mächtigen Gebäude, die eine Stadt der Herrschenden symbolisierten. Expressionistische Gedichte wie Georg Heyms Der Gott der Stadt hätten diese Erfahrung vorweggenommen.

Wie verträgt sich diese negative Situationsbeschreibung mit der These, im Moment des Aufstands sei der Mythos in seiner ursprünglichen Bedeutung wieder lebendig geworden? Mythos gilt Jesi als in Erzählungen gefasste Wahrheit, an der alle teilhaben können, die aber schon in der Spätantike verloren gegangen und im 20. Jahrhundert zur Propaganda umgeformt und missbraucht worden sei. Gemeint sind die falschen Mythen der Nationalisten und völkischen Ideologen, die unter anderem Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus entlarvt habe. Mircea Eliade, auf dessen Roman Der verbotene Wald sich Jesi im letzten Kapitel seines Essays bezieht, hat den Mythos (in Das Heilige und das Profane) als „das exemplarische Modell“ vom Ursprung der Welt beschrieben. Beteiligt an den Geschichten vom Ursprung waren „die Götter und Kulturheroen“.

Obwohl diese mythischen Wahrheiten im Verlauf der Geschichte entweder vergessen oder missbraucht worden seien – Jesi übernimmt von Kerényi den Begriff von der „Technisierung“ der Mythen –, sind sie sie nicht vollständig verloren gegangen, sondern untergründig weiter vorhanden. Entscheidend sei nicht, was bewusst erinnert werde, schreibt Jesi, sondern das andere, was unterbewusst da ist und prägend wirkt. Es eröffnet die Möglichkeit für „Epiphanien“ der Wahrheit im Moment der Revolte. Der Aufstand vom Januar 1919 steht für ihn nicht nur in der Tradition des antiken Sklavenaufstands, der den Namen „Spartakus“ trägt, sondern weiterer Ereignisse wie der Pariser Commune von 1871 und des Spanischen Bürgerkriegs, die zwar alle mit Niederlagen der Kämpfer für die Unterdrückten endeten, deswegen aber nicht bedeutungslos waren.

Was unterscheidet nach Jesi die Revolte von der Revolution? Die Revolution fügt sich in einen zeitlichen Plan und in eine Strategie ein, sie ist ein Vorgang, der sich in der Realhistorie abspielt. Die Revolte dagegen fällt aus der historischen Zeit heraus, sie bezieht sich nicht, wie die Revolution, auf das Morgen, sondern auf das Übermorgen. Vielleicht kann man es, Jesis Gedanken weiterspinnend, so formulieren, dass in der Revolte der Vorschein einer besseren Welt immerhin in einem Augenblick als „Epiphanie“ Wirklichkeit wird. Die dafür gebrachten Opfer sind nicht vergeblich, weil sie den Menschen in Erinnerung gebracht haben, dass in ihnen Kräfte schlummern, die in der „Normalzeit“ brachliegen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Jesi seinen Essay 1969 abschloss, also kurz nach der Revolte vom Pariser Mai, die im Zusammenhang mit Aufstandsbewegungen in anderen europäischen Ländern stand.

Dass Jesi die Dinge konsequent zu Ende denkt, zeigt sich in den letzten Abschnitten seines Essays, in denen er, eng angelehnt an Eliade und in eigenwilliger Auslegung von Dostojewskijs Roman Die Dämonen, den Zusammenhang von Revolte und Tod eruiert. Die Revolution rechne mit dem Überleben der Beteiligten, denn sie sollen morgen eine bessere Gesellschaft konstruieren. Die Revoltierenden machen in ihrer „Ergriffenheit“ Bekanntschaft mit dem Tod – wie der Held von Eliades Roman Der verbotene Wald, der sich von Zeit zu Zeit in einen extemporalen Raum, ein Hotelzimmer in Bukarest, zurückzieht, vergleichbar dem Kleiderschrank in Thomas Manns gleichnamiger Novelle, in der der Protagonist mit dem sprechenden Namen Albrecht von der Qualen eine geheimnisvolle Frauengestalt vorfindet. Und Stawrogin, der Nihilist aus den Dämonen, empfindet Nähe zur „großen Dunkelheit“, wenn er sich stundenlang in seinem Zimmer einfach der Leere aussetzt. Die Revolte steht für Jesi am Schnittpunkt von Endlichkeit und Ewigkeit.

Jesis Spartakus ist ein Buch, das faszinierende, aber auch befremdliche Thesen enthält. Eben deshalb lädt es zu wiederholter und intensiver Beschäftigung ein.

Titelbild

Furio Jesi: Spartakus. Symbologie der Revolte.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2025.
Online-Ressource, 267 Seiten (epub),
ISBN-13: 9783751820554

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