Bibliophilie und Buchgeschichten

Karl Wolfskehl und der Weg seiner Bibliothek

Von Friedrich VoitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Voit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter dem nüchternen Titel Der Sammler Karl Wolfskehl verbirgt sich ein faszinierendes Porträt, das über den Einzelfall hinaus immer auch weiterreichende buch- und bibliotheksgeschichtliche Aspekte in das Blickfeld einbezieht. Die Arbeit entstand in Verbindung mit dem Projekt „Autorenbibliotheken“ des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel, bei dem man im Marbacher Literaturarchiv die Bibliothek und Büchersammlungen Karl Wolfskehls anhand von erhaltenen und erworbenen Teilbeständen, von Verzeichnissen und von Dokumenten aus dem dort aufbewahrten umfangreichen Nachlass des deutsch-jüdischen Dichters zu rekonstruieren sowie ihre Genese, Bewahrung und schließliche Zerstreuung dieser Sammlung nachzuzeichnen sucht. Man kennt Wolfskehls Essays zur „Heiligen Narretei“ des Sammelns – neben Büchern sammelte er manches mehr wie Elefantenfiguren und -bilder oder Zigarrenspitzen – und man weiß, dass er sich durch den Verkauf seiner Bibliothek 1936 im Exil einen schmalen Lebensunterhalt sicherte.

In ihrem Buch gibt Caroline Jessen nun erstmals einen detailreichen und mit großem Spürsinn recherchierten Umriss des Sammlers und der Buchsammlung Wolfskehls – ein wesentlicher Aspekt zum Verständnis des Wesens und Wirkens dieses Dichters, wie man ihn bislang so fesselnd noch nicht dargestellt und nahegebracht bekommen hat.

Jessen geht es darum, anhand der Bibliothek „die Sammlung als Wolfskehls Konkretisierung eines Nachdenkens über Überlieferung im Spannungsfeld von Kennerschaft, Forschung und poetischem Sinn“ zu begreifen, also das Weiterleben von Vergangenem im Gegenwärtigen, Bezüge und Nachwirkungen, wie sie sich in den Büchern und in Dokumenten manifestieren, sichtbar zu machen und zu tradieren. „Die Idee dieses Buchs“, so Jessen, „ist also einfach: Es ist ein Versuch, die Bibliothek und alles ihr Zugehörige erzählen zu lassen und den Hinweisen folgend von der Biografie und dem Werk des Dichters und George-Getreuen Karl Wolfskehl zu sprechen.“ Wolfskehls scheinbar unerschöpfliches philologisches, literatur-  und kulturgeschichtliches Wissen dokumentieren nicht allein seine Essays und Korrespondenzen, sondern besonders auch die Kommentare, die er auf freie Schlussseiten oder als Marginalbemerkungen in Bände oder Broschüren seiner Sammlung notierte mit bibliographischen Angaben, Bemerkungen zu literarhistorischen Bezügen und zum Erwerb. Etwa vorhandene Beilagen wurden von ihm sorgfältig bewahrt. Auf diese Weise entwickelte sich die Bibliothek zu einem, wie es Wolfskehl selbst sah, „autobiographischen Denkmal“ und „Bilde meines Wesens, meiner Neigungen und Spezialitäten“.

Es war eine kluge Entscheidung, ein solches Porträt des Sammlers Wolfskehl und seiner Bibliothek nicht in einer ausgreifenden akademischen Darstellung zu versuchen. Das Porträt besteht vielmehr aus Facetten, die sich nach und nach zum Bild fügen. In knappen Kapiteln, geschickt illustriert mit zahlreichen Fotos und Faksimiles, werden ausgewählte Titel der Sammlung oder Dokumente vorgestellt und erläutert, was sie bedeutsam macht. Auf diese Weise wird Schritt für Schritt die Eigenart und das Wirken des Sammlers wie der Charakter und das auch zeithistorisch bemerkenswerte Schicksal der Bibliothek nachgezeichnet und anregend vor Augen geführt.

Die Kapitel folgen locker chronologisch der Biografie des Dichters und den Wegen seiner Sammlung. In ihr bewahrte er noch Bücher, die aus Familienbesitz und der väterlichen Bibliothek stammten. Sogar eine Teubner-Schulausgabe zweier Gesänge aus der Ilias behielt er, in der der Schüler sich an Karikaturen seiner Lehrer versuchte, deren Unterricht ihn offenbar nur mäßig fesselte. Der bibliophile Wert der Wolfskehlschen Bibliothek bestand vor allem in den Raritäten seiner Barock- und Romantiker-Sammlung, über die er sich in Briefen an Mit-Bibliophile wie dem nahe befreundeten Friedrich Gundolf oder an Otto Deneke mit Sammlerstolz äußerte. Auch gab es eine größere ‚Abteilung Darmstadtiana‘ mit diversen Lichtenberg- und Büchner-Ausgaben neben diversen Editionen von Niebergalls Datterich, aus dem er noch im Exil immer wieder extemporierte. Diese Abteilung mag einer der Gründe gewesen sein, dass der 40-jährige Wolfskehl, der sich bereits damals des Wertes seiner Bibliothek überaus bewusst war, diese in einem Testament 1909 der Hofbibliothek in Darmstadt vermachen wollte. Dazu freilich sollte es nicht kommen.

Wolfskehl, der aus einer wohlhabenden assimilierten jüdischen Familie stammte, bekannte sich immer zu seiner jüdischen Herkunft, die er als untrennbar von seiner deutschen empfand. Sein Studium schloss er mit einer Dissertation über Germanische Werbungssagen ab, in deren biografischer Notiz er ausdrücklich vermerkte: „Ich bin Jude.“ In seiner Sammlung finden sich zahlreiche Bücher jüdischer Autoren, zu Antisemitismus und Zionismus. In seinem Exemplar von Richard Wagners notorischem Pamphlet Juden in der Musik, dessen Musik er kritisch hochschätzte, mokiert er sich in Randnotizen über den ‚Verfolgungsgwahn‘ des Komponisten (Jessen macht in diesem Zusammenhang auf einen bemerkenswerten autobiographischen Essay von Stephen Greenblatt aufmerksam). Er las Entartung (1892) des Zionisten Max Nordau, mit dem er sympathisierte, auch wenn er dessen „Gesinnung u. Ausdrucksweise“ als platt empfand. Näher stand ihm der Kulturzionismus Martin Bubers, mit dem er befreundet war und von dem er eine Reihe von Büchern besaß.

Mit dem Verlust des väterlichen Vermögens in Folge des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Inflation fand die Bibliothek Wolfskehls einen gewissen Abschluss. Teure Erwerbungen waren ihm nun kaum mehr möglich. Sein Sammeln beschränkte sich auf eher Abgelegenes sowie erschwingliche Gelegenheitsfunde. Auf eigenen Lebenserwerb angewiesen, schrieb er als bald angesehener Feuilletonist seine noch immer lesenswerten Essays über das Sammeln, vornehmlich das Sammeln von Büchern, und wurde Mitbegründer der Münchner Bibliophilen Gesellschaft. Leidenschaftlich setzte er sich in der Frankfurter Zeitung in seinem Artikel Darf das sein? für den Erhalt des Nachlasses von Clemens Brentano und Achim von Arnim ein, als dieser 1929 drohte, versteigert zu werden. Der Aufruf bewirkte mit, dass das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt wesentliche Teile des Nachlasses erwerben konnte. Sein reiches Wissen konnte Wolfskehl nun auch zum Lebensunterhalt nutzen: Für bedeutende Versteigerungskataloge beschrieb er bibliophile Raritäten und zwischen 1921 und 1933 edierte er als Herausgeber der Münchner Rupprecht-Presse zusammen mit dem Buchgestalter F. H. Ehmke mehr als 40 Drucke, die heute als gesuchte Titel gehandelt werden.

Wolfskehl, der früh die heraufziehende Bedrohung der Juden in Deutschland durch ein nationalsozialistisches Regime erahnte, floh unmittelbar nach dem Reichstagsbrand in die Schweiz. Nach einigen Monaten wechselte er nach Italien und als auch dort antijüdische Gesetze erlassen wurden, reiste er 1938 mit seiner jungen Lebensgefährtin Margot Ruben in das europaferne Neuseeland. Mit dem Exil setzte nach langer Unterbrechung auch wieder eine neue dichterische Schaffensphase ein. 1934 veröffentlichte er im jüdischen Schocken Verlag seine bekannteste Gedichtfolge Die Stimme spricht und es entstanden die ersten Fassungen des großen Gedichtes An die Deutschen, das jedoch erst 1947 herauskam. Gedichte schrieb er bis zu seinem Tod 1948, kulminierend im Zyklus Hiob oder Die Vier Spiegel, der postum 1950 erschien. Um den eigenen Unterhalt und den seiner in Deutschland verbliebenen Familie zu sichern, bot er 1936 seine Bibliothek dem Verleger und Büchersammler Salman Schocken an, der sie für 20.000 Reichsmark erwarb und Wolfskehl eine bescheidene Leibrente gewährte, die seinen Lebensunterhalt sichern sollte. Der Verkauf war für Wolfskehl zugleich eine Rettung seiner Sammlung, die man als eigenen Zusammenhang der Bibliothek Schockens in Jerusalem einzugliedern beabsichtigte. Damals fertigte man ein vierbändiges umfangreiches Verzeichnis der fast 9.000 Titel von Wolfskehls Sammlung an, heute das wichtigste Zeugnis ihres einstigen Umfangs und ihrer Art.

Vom Verkauf ausgenommen war jedoch ein kleiner Bestand von ihm unverzichtbarer Bücher wie vor allem die Ausgaben der Dichtung Stefan Georges und der Veröffentlichungen aus dem Umfeld des Kreises um George. Diese sollten ihn bis in das ferne antipodische Exil begleiten. Das Büchersammeln endete freilich nach dem Verkauf der Bibliothek für Wolfskehl keineswegs. Soweit es seine schmalen Mittel zuließen, entstand bereits in Italien und dann in Neuseeland eine neue Sammlung, die durch Buchgeschenke und auch Widmungsexemplare von Freunden stetig anwuchs. Eine seiner ersten Erwerbungen in Auckland, wo er bald ein bekannter Kunde der führenden secondhand bookshops wurde, war bezeichnenderweise das bekannte Buch von John H. Burton The Bookhunter, dessen Bedeutung Wolfskehl auf der letzten freien Seite – in gewohnter Weise – bibliografisch eingehend kommentierte. Diese neue Sammlung vermachte Wolfskehl in seinem Testament hälftig Margot Ruben und Paul Hoffmann, den es als jungen Mann 1939 mit seiner Familie aus Österreich nach Neuseeland verschlagen hatte und der Wolfskehl in Auckland ein naher Helfer und Freund wurde. Wesentliche Teile dieser Exilsammlung gelangten über Schenkungen und Käufe in das Marbacher Archiv und sind nun Teil des Projekts der Bibliotheksrekonstruktion.

Anders dagegen erging es der von Schocken erworbenen Bibliothek in Jerusalem. Die Heterogenität von Wolfskehls Sammlung erschwerte deren Integration mit der von Schocken. Es gab Versuche, Wolfskehls Bücher wieder für eine deutsche Bibliothek zu erwerben, doch zerschlugen sich diese Pläne nicht zuletzt an Schockens Bedenken, ob man „überhaupt das Recht [habe,] die Sammlung eines aus Deutschland vertriebenen Juden ohne seinen ausdrücklich geäußerten Willensentschluss nach Deutschland“ zurückzuführen. Nach Schockens Tod ließen dessen Erben große Teile, die besonders deutsche Literatur betrafen, seiner und von Wolfskehls Sammlung in Auktionen verkaufen. Nur Wolfskehls Judaica behielt man. Zu Margot Rubens großem Bedauern fand sich keine Möglichkeit, dass Wolfskehls Bücher als Sammlung vom Marbacher Literaturarchiv erworben werden konnten. So kam es 1975/6 zur endgültigen Zerstreuung von Wolfskehls Bibliothek. Deutsche Bibliotheken und einige im Ausland ersteigerten einzelne Titel und kleinere Konvolute, doch vieles verschwand nun weltweit in Privathänden. Jessen weist darauf hin, dass die öffentlichen Käufer in ihren Provenienzangaben geschichtsvergessen oft nicht mehr erkennen lassen, auf welchem Wege mancher Titel aus Wolfskehls Besitz über Jerusalem in ihren Besitz gelangte. Selbst in Marbach versäumte man es lange, Wolfskehls Vorbesitz eines von ihm besonders geschätzten Bandes der Gedichte Karl Mayers zu vermerken, obgleich er diesen Band, der aus Eduard Mörikes Bibliothek stammte, diesem gewidmet und von ihm handschriftlich annotiert und um bemerkenswerte Beilagen bereichert war, auf dem hinteren Einbanddeckel ausführlich kommentiert hatte.

Selbst wer mit dem Leben und der Dichtung Karl Wolfskehls vertraut ist, wird durch Caroline Jessens Buch mit zahlreichen neuen Hinweisen und Einsichten bereichert, die weit über die Biografie hinaus in die neuere Bibliophilie- und Bibliotheksgeschichte reichen. Dabei muss man den Band nicht von vorn nach hinten durchlesen, vielmehr verführen die in sich geschlossenen kurzen Kapitel und die jeweils beigefügten Illustrationen geradezu zum Kreuz-und-quer-Lesen. Leider sind manche Abbildungen so klein ausgefallen, dass man selbst mit einer Lupe kaum ausmachen kann, was sie illustrieren sollen. Ein unerklärliches Manko dieses so schön gestalteten Buches kann nicht unerwähnt bleiben: Warum fehlt ein Personenverzeichnis, das so nützlich wäre, um den aufgeführten vielfältigen Bezügen und Kontakten nachzugehen?

Titelbild

Caroline Jessen: Der Sammler Karl Wolfskehl.
Jüdischer Verlag, Berlin 2018.
384 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783633542888

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