Spaß bis zum Umfallen

In seinem Debütroman „Hitze“ beschreibt der junge französische Schriftsteller Victor Jestin einen Party-Campingplatz als Hölle auf Erden

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt ja mehrere Arten von Campingplätzen. Einige liegen in der freien Natur, sind nicht parzelliert, es herrscht ein angenehmes Chaos und die Nutzer sind meist auf der Durchreise und von Neugier und Entdeckergeist gesteuert. Es gibt auch Plätze, die von alteingesessenen Dauercampern bewohnt werden, so eine Art Schrebergarten mit aufgebockten Wohnwagen, das sind mitunter düstere Plätze, über die der eine oder andere Schauerroman noch verfasst werden muss. Dann aber gibt es auch, neben vielen weiteren Zwischenformen, den Typus des Party- bzw. Eventcampingplatzes, auf denen Menschen, die als rosa Plüschkaninchen verkleidet sind, als Animateure die Bewohner auf Trab halten, wo laute Partys gefeiert werden, der Strand nicht weit ist und mediokre Coverbands oder Alleinunterhalter das Abendprogramm beherrschen. Auf genauso einem Campingplatz spielt Victor Jestins Debütroman Hitze, und es ist somit kein Wunder, dass sein Ich-Erzähler einer ungesunden Mischung aus temporärem Wahnsinn und Ennui verfällt.

Dass sich Jestin hier recht eindeutig an Albert Camus’ Der Fremde orientiert, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Roman beginnt damit, dass der scheue 17-jährige Léonard, der mit seinen Eltern einen Zelturlaub auf einem beliebten 3-Sterne-Campingplatz am Strand verbringt, Zeuge der wahrscheinlich unabsichtlichen Strangulation seines Altersgenossen Oscar an der Schaukel des Kinderspielplatzes wird. Kurz zuvor hatten beide noch gemeinsam gefeiert, Oscar hatte mit der koketten Jugendlichen Luce geknutscht und war über die Maßen betrunken. Als nun Léonard, gelangweilt von der ihm wenig zusagenden hedonistischen Party-Atmosphäre auf dem Weg in sein Zelt an besagtem Spielplatz vorbeikommt, sieht er den nach Luft schnappenden Oscar, der sich unglücklich in der Aufhängungskette der Schaukel verfangen hat. Statt ihm zu Hilfe zu eilen, beobachtet er mit einer seltsamen Teilnahmslosigkeit, wie Oscar erstickt und stirbt. Als er auf die Leiche zugeht, überkommt ihn eine Art Schuldgefühl und als sein halbherziges Rufen nach Hilfe im Meeresrauschen verhallt, beschließt er, Oscar in einer Sanddüne zu beerdigen. Es ist ja nur noch ein Tag bis zur Abreise, sagt sich Léonard, den wird er schon noch unbemerkt herumkriegen.

An diesem Tag verfolgt der Leser nun den Protagonisten und seine Strandbekanntschaften durch eine immer wieder auf bedrückende Weise beschriebene Jahrhunderthitze. Wie Zombies bewegen sich die Jugendlichen über den Campingplatz, auf der Suche nach Alkohol, Spaß und Sex. Auch Léonard spürt, dass er mitmachen muss, versucht sein Glück bei verschiedenen Mädchen, scheitert jedoch stets an seiner (oder ihrer) absoluten Gleichgültigkeit. Er gerät in eine Schlägerei mit dem Campingplatz-Bully, besucht wie benommen die Mutter Oscars in ihrem Bungalow, schweigt sie jedoch nur an, hat schließlich lustlosen Sex mit dessen Eroberung Luce. Und doch plagt ihn, ohne, dass er es sich selbst erklären kann, ein schlechtes Gewissen. Als dann auch noch ein zerstörerischer Sturm mitsamt Flutwellen über den Campingplatz fegt, ist er sich eigentlich sicher, dass sein Verbrechen niemals aufgedeckt werden kann, wird Oscar doch mit großer als vermeintliches Flutopfer auftauchen.

Je mehr wir den Gedanken des apathischen und teilnahmslosen Protagonisten folgen, desto deutlicher wird, dass nicht er, der die Strangulation seines flüchtigen Bekannten Oscars nicht unterbunden hat, das Monster ist, sondern alle anderen. Teilnahmslos bewegen sich seine Bekannten, seine Familie (und selbst der rosa Campingplatzhase) durch eine Szenerie der Freizeitdekadenz. Léonard ekelt das Spaßdiktat zusehends an, der Campingplatz wurde für ihn lange vor Oscars Tod zur Hölle auf Erden. Die Hitze mag da als bedrückende, weil eindringlich verwendete Metapher eine große Rolle spielen. Letztlich ist Hitze ein faszinierender Roman über einen nicht abzuschüttelnden Weltekel, eine beeindruckende Zivilisationskritik, reduziert auf den Mikrokosmos des Campingplatzes.

Titelbild

Victor Jestin: Hitze.
Aus dem Französischen von Sina de Malafosse.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2020.
160 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958286

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