Auf der Flucht vor der Mutter

Joel Whitebook betrachtet Freuds Leben und Werk unter einem neuen Blickwinkel

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Brief an Georg Groddeck, geschrieben Weihnachten 1922, wehrt sich Sigmund Freud, den Groddeck zuvor mit der Mutterrolle assoziiert hatte, gegen die „Unterbringung“ seiner Person „in der Mutterreihe“, zu der er „doch offenbar nicht passe“. Die 2017 in den USA und inzwischen auch in deutscher Übersetzung erschienene Biografie Freud. Sein Leben und Denken von Joel Whitebook nimmt gerade diese Abwehrhaltung Freuds gegen das Mutterprinzip und die Weiblichkeit zum Ausgangspunkt und gestaltet sie zum Kern der Argumentation.

Whitebooks Hauptthese lautet kurz zusammengefasst, dass Freud „in Reaktion auf seine frühen Traumata“ – verbunden hauptsächlich mit seiner Mutter Amalie – eine „rigorose Ablehnung“ jeglicher Abhängigkeit und insgesamt der „passiv-femininen Einstellung“ entwickelt habe. Darauf hätten Freuds „Beinahe-Fetischisierung der Selbstgenügsamkeit“ sowie der „phallologozentrische Charakter“ der von ihm ins Leben gerufenen Psychoanalyse beruht. Der Psychoanalytiker und Philosoph Whitebook ist aber trotz seiner Kritik an Freud darum bemüht, den zahlreichen Freud-Kritikern und Freud-Bashers, an denen es in den letzten Jahrzehnten nicht gemangelt hat, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Obwohl er die durch das Fehlen der Mutter in Freuds Universum entstandenen Lücken, blinden Flecken und somit auch Freuds Grenzen offenbart, demonstriert er aufgrund von Erkenntnissen der modernen Psychoanalyse, was die heutige, postfreudianische Psychoanalyse durch die Anerkennung der prä-ödipalen Entwicklung und durch den Rekurs auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung (in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Bindungstheorie und der Säuglingsforschung) seit Freud an Erkenntnissen hinzugewonnen hat. Freud wird zwar der Kritik unterzogen und doch an den Anfang einer sehr fruchtbaren Entwicklung gesetzt bzw. aus dieser Entwicklung nicht ausgeklammert.

Die Revision des Mythos von Freuds Kindheit im Zeichen der jungen, schönen und ihn „vergötternden“ Mutter Amalie ist löblich, dennoch steht die These von Freuds traumatischer Kindheit in der ihr von Whitebook zugeschriebenen Radikalität und Ausschließlichkeit als kausaler Hauptfaktor auf eher schwachen Füßen. Auf Freuds traumatische Kindheit hat bereits Louis Breger nachdrücklich hingewiesen. Whitebook zufolge ist Freuds Mutter Amalie „eine schwierige Person“ gewesen: „infantil, abhängig, anspruchsvoll und egozentrisch“ und für Freud „furchterregend“. Demnach – und obwohl die Beweise hier eher spärlich sind – diagnostiziert er in Anlehnung an André Green bei Freud den „Komplex der toten Mutter“. Whitebook bei der Aufstellung des auf dieser Grundannahme basierenden, recht stringenten Paradigmas zuzusehen ist interessant, lohnend und sogar faszinierend. Nach Whitebook ziehen die Ausblendung der Mutter (bzw. der präödipalen Entwicklung) und die Fokussierung auf den Vater die Konzentration auf das Ich nach sich, sodass die Bedeutung von Faktoren wie Sinnlichkeit, Übersinnlichkeit und Irrationalität herabsetzt wird. Die Distanzierung von der Philosophie (welcher nach Whitebook „seit jeher […] ein mütterliches […] Stratum“ inhärent sei) sowie die Abwertung der Musik, die bei Freud belegt sind, sind weitere Folgen. Da aber Whitebook Freuds Entwicklung, Denken und Schaffen nicht nur aus der Abwehr des Mutterprinzips, sondern auch aus dem für die Jahrhundertwende typischen „Bruch mit der Tradition“ versteht, bescheinigt er ihm trotzdem und als Ausgleich zu den genannten Verkürzungen das Verdienst, als „dunkler Aufklärer“ sich auch dem Irrationalen zugewandt und dadurch eine „umfassendere Konzeptualisierung der Vernunft“ erschaffen zu haben.

Whitebooks Biografie ist chronologisch aufgebaut, verfolgt Freuds Leben aber immer aus der Perspektive der zwei oben genannten Motive – Abwesenheit der Mutter und Bruch mit der Tradition. Besondere Schwerpunkte sind die Beziehung zu Wilhelm Fließ und später zu C.G. Jung, da hier aus Whitebooks Sicht Freuds Abhängigkeit und emotionale Hingabe an die beiden Freunde und Mitarbeiter hervorstechen. Besonders bei diesen Beziehungen trete das hervor, was Whitebook in Anlehnung an Hans Loewald den „inoffiziellen“ Freud nennt – denjenigen, der auch sinnlich, abhängig, labil und irrational werden und den „maskulinistischen und hyperrationalen Charakter“, den er aus Abwehr entwickelt habe, mal ablegen konnte. Hier geht Whitebook aber deutlich zu weit, wenn er Freud Homosexualität, insbesondere in seiner Beziehung zu Fließ („die stark ausgeprägte homosexuelle Dimension de Freud-Fließ-Beziehung“), unterstellt: „Auf der ödipalen Ebene erhielt Fließ, zumal in seiner Funktion als Arzt, die Rolle des mächtigen Vaters, und Freud nahm die entsprechende „passiv-homosexuelle“ Haltung gegenüber seinem Freund und Kollegen ein; er wollte sich dieser starken phallischen Figur ergeben und sich von ihr penetrieren lassen“. Whitebook schreibt zwar: „Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich werde nicht versuchen, Freud  zu ,outen‘“ , möchte aber auf jeden Fall Freuds „geschlechtliche Eigenart“ klären und betont mehr als einmal die „homosexuelle Bindung“ zwischen Freud und Fließ. Auf den „selektiven“ Charakter von Whitebooks Ausführungen (sowie auf einige Sachfehler) hat bereits der US-amerikanische Psychoanalytiker Zvi Lothane in seiner Besprechung der amerikanischen Ausgabe des Buches hingewiesen. So nennt Lothane die Homosexualitätsthese Whitebooks „a shockingly sensational yet unproven conjecture” und zeigt die Kehrseite dieses Vorgehens: “Overemphasizing homosexuality in the Freud/Fliess friendship Whitebook ignores their intellectual collaboration and conflicts”.) Dieser Sichtweise Lothanes kann man sich nach der Lektüre des Buches nur anschließen.

Die These von der Geburt der Psychoanalyse aus dem Geist der „Matrophobie“ (nach Coppélia Kahn) sowie aus dem Geist der „inoffiziellen“, „passiv-femininen“, ja sogar homosexuellen Haltung wird sich nicht halten können. Die Mutter trat in Freuds Werk in persona selten auf, wurde aber keineswegs übergangen oder „ausgeschlossen“ – man denke hier nur an den Ödipuskomplex, bei dem die Mutter schließlich eine überaus zentrale Rolle spielt. Freud hielt das Matriarchat nun einmal für eine der Vergangenheit angehörende soziale Ordnung, gab aber auch die zunehmende Schwäche der Männer zu, die an „die Allmacht des Urvaters“ nicht heranreichen. Der von Whitebook erschaffene, viel zu krasse Gegensatz zwischen „männlicher“ Geistigkeit und „mütterlicher“ Sinnlichkeit lässt sich bei Freud so wohl auch nicht belegen. Doch noch viel schwerer wiegt, dass die „mütterliche Wende“ der Psychoanalyse – vertreten besonders durch Autoren wie Georg Groddeck und Sándor Ferenczi – bereits zu Freuds Zeiten stattgefunden hat, von ihm zur Kenntnis genommen und teilweise anerkannt wurde. Die Urheber dieser Wende wurden von Freud jahrelang unterstützt und ihre Einsichten haben Freud dazu gebracht, seine eigene Einstellung zum „dark continent“ der Weiblichkeit zu revidieren – zwar nicht von Anfang an, aber ein  konstruktiver und umsichtiger Umgang mit der Mutterübertragung und der Ablehnung der Weiblichkeit ist ihm zweifellos zu bescheinigen.

Die Leistung von Joel Whitebooks Buch besteht darin, an Freud die ganze Komplexität des „Bruchs mit der Tradition“, die intellektuellen und emotionalen Herausforderungen und Schwierigkeiten eines Menschen an der Schwelle zu einer neuen Epoche aufgezeigt zu haben und nicht zuletzt – und dies sehr anschaulich und überzeugend – das jüdische Leben und Erleben im Spannungsfeld all dieser zeitgeschichtlicher Umbrüche zu beleuchten. Wissenschafts- und psychoanalysegeschichtlich richtig und aufschlussreich ist, dass die Psychoanalyse es geschafft hat, trotz der existierenden (und immer wieder stark kritisierten) Grabenkämpfe zwischen einzelnen Schulen teilweise disparate Tendenzen und Stränge weiterzuführen und weiterzuentwickeln. An dieser Stelle ist tatsächlich nicht der Freud mit der Abwehrhaltung, sondern der offene, aufgeschlossene, intellektuell äußerst rege Freud eine exemplarische Figur, welche diese Entwicklung ermöglichte. Dieser Freud, der zwar seine Schwierigkeiten mit einigen Neuerungen hatte und trotzdem Veränderungen guthieß und selber einleitete, übersteigt den „inoffiziellen Freud“ Whitebooks, der nur mit Mühe die Balance hielt und sich in einem „Wechselspiel“ befand: zwischen seinem „überbordende[n] Spekulationsdrang und den verschiedenen Strategemen, zu denen er im Laufe seines Lebens griff, um ihn zu kontrollieren“.

Nachdem in Peter-André Alts Biographie 2016 der aus dem Geiste der sexuellen Abstinenz geborene, ins Korsett seiner eigenen dogmatischen Strenge eingezwängte ,asketische Priester‘ Freud im Mittelpunkt stand und nun Joel Whitebook das auf die Abwehr der Mutter und der Weiblichkeit gerichtete „Verdrängungsprogramm“ Freuds  präsentiert und uns einen ,weiblicheren‘, „feminin-passiven“ Freud, einen Freud auf der panikartigen Flucht vor der Mutter offenbaren will, wird auch ein jenseits von solchen Paradigmenzwängen gestalteter Freud auf den Plan treten müssen: jener Freud, der wusste, dass das Ich „nicht Herr im eigenen Haus“ ist, der die menschliche Allmacht als trügerisch durchschaut hatte, der Lebensnot – der „hehren“, manchmal „schäbigen“ Ananke (Groddeck und Freud) – Tribut zollte und sich dennoch über sie erhob. Durch seine Konzentration auf die „fehlende Mutter“ fokussiert Whitebook den Blick zu sehr auf Freuds ,blind spots‘, auf seine Beschränktheit, auf seine „darkness in the midst of vision“, um Louis Breger zu zitieren. Störend ist darüber hinaus, dass Whitebook sich im Anschluss an die feministische Psychoanalysekritik, welche Freuds angebliche Misogynie wiederholt moniert hat, die im Rahmen seines Paradigmas entdeckten Schwächen Freuds zu stark in den Dienst des heutigen „Kampf[es] gegen die Misogynie“ stellt – zwecks Ablehnung „anachronistischer Einschränkungen“ und Haltungen zugunsten „unserer kulturellen Agenda“ und zur „Kritik am Patriarchat“. Diese Ausrichtung verleiht dem Buch eine nicht zu überhörende propagandistische Note und stuft es als intellektuelle Leistung herab.

Jenem Freud also, der die menschlichen Grenzen und Schranken nur zu gut kannte und trotzdem nach Autonomie strebte, wird sich fernab von jeglicher Idealisierung und Heroisierung die nächste, noch zu schreibende Freud-Biografie widmen müssen – jenem Freud, der sich ironisch-humorvoll, kritisch und selbstkritisch, souverän und mit „analytischer Offenheit“ (Groddeck und Freud) seinen Schwächen und Defiziten stellte, statt seine Komplexe und Abhängigkeiten verschämt, „inoffiziell“ und „durch die Hintertür“ (Whitebook) hineinzuschmuggeln. Das wäre jener leidende, reflektierende, spekulierende, riskierende, irrende, revidierende, zur Umkehr und Neubeginn bereite und fähige Freud, der nicht die Weiblichkeit, sondern die Passivität und die tatenlose Unterwerfung unter die Lebensnot ablehnte und der uns nicht Wege aus der Weiblichkeit, sondern Wege aus der menschlichen Hilflosigkeit weisen wollte, oder, um mit Goethe zu sprechen, jener Freud, der die von der Göttin Ananke gesetzte „widerwärtige Pforte“ ein Stück weit zu „entriegeln“ versuchte.

Titelbild

Joel Whitebook: Freud. Sein Leben und Denken.
Übersetzt aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
559 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783608962451

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