Transatlantischer Stromkreis

Der Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Hans Jonas zeigt die Interferenzen zweier großer Gelehrter von 1954 bis 1978

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Physik-Unterricht hat man gelernt, dass ein elektrischer Stromkreis, der aus Spannungsquelle und Leiter besteht, mit einem Flüssigkeitskreislauf vergleichbar ist, der sich aus einer Zirkulationspumpe und einem geschlossenen Leitungssystem zusammensetzt. Die Analogie erleichtert das Verständnis; sie macht das Unsichtbare sichtbar. Hans Blumenberg (1920–1996) bediente sich dieser Metapher in einem Brief vom 12. November 1955 an Hans Jonas (1903–1993), den von ihm bewunderten, siebzehn Jahre älteren Philosophen und Gnosis-Forscher, der seine deutsche Heimat 1933 kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlassen hatte: Blumenberg wünschte sich, Jonas nach über zwanzig Jahren im britischen, palästinensisch-israelischen und kanadischen, später dann im amerikanischen Exil „in den Stromkreis des deutschen Geisteslebens wieder eingeschaltet und in ihm wirksam zu sehen“.

Was sich in den folgenden gut fünfundzwanzig Jahren an Strömungen und Gegenströmungen im Verhältnis der beiden einflussreichen Denker entwickeln sollte, zeigt der nun bei Suhrkamp erschienene Briefwechsel. Die neunundfünfzig hier erstmals publizierten Schriftstücke, verfasst an siebzehn Orten zwischen dem 19. März 1954 und dem 6. Mai 1978, stammen größtenteils aus der Feder Hans Blumenbergs (31); Hans (24) und dessen Ehefrau Lore Jonas (4) steuern achtundzwanzig Schreiben bei; drei Briefe sind nicht überliefert. Wie bereits bei den vorangegangenen Korrespondenzbänden Blumenbergs augenfällig – die Briefwechsel mit Carl Schmitt von 1971 bis 1978, herausgegeben 2007 von Alexander Schmitz und Marcel Lepper sowie mit Jacob Taubes von 1961 bis 1981, herausgegeben 2013 von Herbert Kopp-Oberstebrink und Martin Treml –, so kann auch dieser mit einem größtenteils aus dem Nachlass besorgten Materialien-Teil sowie einem ausführlichen Epilog aufwarten. Hierfür wurde dieses Mal der 1984 geborene und mit einer Arbeit über Hans Blumenbergs Sprachtheorie promovierte Herausgeber Hannes Bajohr betraut. Den Band schließen ein Brief- und Materialien-Verzeichnis sowie ein Namenregister ab. Betrachtet man dazu noch die präzisen, mustergültigen, manchmal gar zu detailreichen Anmerkungen, die die jeweiligen Schriftstücke häufig quantitativ übersteigen, wünscht man sich eine solch vorbildliche und akribische Praxis bei jedem der aus dem Blumenberg-Nachlass herausgegebenen Werke, gerade bei den früheren, die recht hektisch zusammengestückelt wirken. Wichtig noch ist dieser Hinweis des Herausgebers: Der vorliegende Briefwechsel wird auch im Rahmen der seit 2010 im Freiburger Rombach-Verlag erscheinenden, auf elf Bände angelegten Kritischen Gesamtausgabe der Werke Hans Jonas  veröffentlicht werden, und zwar in Band V/2. Ob oder inwieweit sich Präsentation und Kommentierung vom Suhrkamp-Pendant unterscheiden werden, bleibt abzuwarten.

Jonas reflektiert in seinen nach Gesprächen mit Rachel Salamander zusammengestellten, 2003 postum anlässlich seines 100. Geburtstages publizierten Erinnerungen:

Von Ottawa aus nahm ich auch wieder meine Kontakte in Europa auf. 1952 [sic!] fuhr ich zu einem internationalen Kongreß der Philosophie nach Brüssel [der vom 20. bis zum 26. August 1953 stattfand]. Das war mein erster Besuch in Europa nach meiner Zeit als Soldat. Dort kam ich auch wieder mit deutschen Kollegen in Berührung. Auf dem Kongreß sprach mich Hans Blumenberg an, ein junger Mann, der damals aus Kiel kam und mir eine Botschaft meines alten Studienkollegen Walter Bröcker überbrachte: ‚Er kennt Ihr Buch Gnosis und spätantiker Geist und schätzt es sehr. Er läßt Sie fragen, ob Sie einen Ruf nach Kiel erwägen würden.‘ Da erhielt ich zum ersten Mal aus dem Lande, aus dem ich geflüchtet oder weggegangen, aus dem ich verbannt gewesen war, ein solches Angebot.

Zurückkehren nach Deutschland konnte und wollte Jonas nicht; zu veröffentlichen in seiner Heimat, ein deutsches Lesepublikum zu erreichen, wünschte er sich indes sehr. Das Konvolut enthält wiederholte Anfragen Jonas’ an Blumenberg, ob dieser deutsche Publikationsorgane für seine Texte kenne und sogleich auch den Kontakt zu diesen herstellen könne. Obschon dies die von Blumenberg in den 1950er Jahren angestrebte Wiedereinschaltung des an der New School for Social Research in New York City Lehrenden „in den Stromkreis des deutschen Geisteslebens“ befördern würde, kritisierte er Jonas’ fordernde Praxis Ende 1973 mit deutlichen Worten:

Ich verstehe Ihre Ungeduld, bitte aber auch zu berücksichtigen, daß Sie die Erwartungen anderer, was die Resonanz auf Zusendungen angeht, noch niemals auch nur der flüchtigsten Aufmerksamkeit für wert befunden haben. Als ich Ihnen 1966 mein Buch ‚Die Legitimität der Neuzeit‘ schickte, haben Sie wie in allen Fällen sonst nicht einmal den Eingang bestätigt. 

Jonas’ Schreibfaulheit aufgrund „phantastischer Arbeitsüberlastung“, wie Aron Gurwitsch es ausdrückte, ist immer wieder Thema. Blumenberg bringt das Dilemma dieser Korrespondenz am 24. Mai 1966 auf den Punkt: „Da wir beide sparsame Briefeschreiber sind, müssen wir auf die wenigen Stunden solcher persönlichen Begegnungen vertrauen, um die Substanz unserer gemeinsamen Interessen und Probleme nicht zu verlieren.“ Doch das Verhältnis der beiden trübte sich, die gemeinsamen Interessen und Probleme drifteten auseinander, in die Korrespondenz knüpften sich immer größer werdende Lücken ein. Auch die Schulnoten, die Blumenberg gelesenen Werken zu geben pflegte, verschlechterten sich. Erhielten Jonas’ frühere Schriften beste Zensuren, sackte seine Arbeit bereits 1962 mit dem in Gießen gehaltenen Vortrag Unsterblichkeit und heutige Existenz auf eine 4- ab. Zieht man die kritischen Reflexionen Blumenbergs bis nach 1993 hinzu, die die Materialen bereithalten, ist eine noch schlechtere Bewertung gerade des ethisch-ökologischen Spätwerks, allem voran des 1979 nach siebenjähriger Arbeit erschienenen Bestsellers Das Prinzip Verantwortung, nicht unwahrscheinlich: „Da wird die Weltmuffelei“, so Blumenberg 1981 auf Karteikarte 21904, „zum ethischen Heroismus hochstilisiert, der Halbfachmann zur in allem mitredenden Figur legitimiert, aus der Heilbringerpose die Heilbringerposse gemacht.“ Das galt den Umweltaktivisten, deren Proteste Jonas’ Buch eine ethische Legitimation verlieh.

Im Vergleich zur Korrespondenz Blumenbergs mit dem in Plettenberg isolierten Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985), in der thematisch Substanzielles auf höchstem Niveau diskutiert wurde, erscheint der Gedankenaustausch Blumenberg-Jonas geradezu seicht: hauptsächlich geht es um Universitätsinterna, Planungen persönlicher Treffen während Jonas’ Europabesuchen sowie Anfragen bezüglich Zusendungen von Büchern oder Sonderdrucken. Dennoch ist diese Korrespondenz als wichtiges Zeugnis zweier großer Gelehrter des 20. Jahrhunderts einzustufen, denn sie zeigt eindrücklich, wie sehr sich der – nach eigener Aussage – notorisch starrköpfige Hans Blumenberg quasi hinter den Kulissen um die Rückkehr Hans Jonas’ in das Land der Täter und zugleich um eine Entschädigung bemühte, wie sehr er sich für den gebürtigen „München-Gladbacher“ und dessen Werk einsetzte, dem er so viele Impulse für sein eigenes geistesgeschichtliches Schaffen zu verdanken hatte. Doch der Stromkreis sollte nicht geschlossen werden können; die Interferenzen waren zu gravierend. Den inoffiziellen Ruf nach Kiel als Nachfolger des Phänomenologen Ludwig Landgrebe (1902–1991) lehnte Jonas ab. Auch kam eine Anstellung in Marburg nicht zustande, für die sich wesentlich der Theologe Rudolf Bultmann (1884–1976) starkgemacht hatte. Blumenberg zeigte sich tief enttäuscht, doch bewies er weiterhin Ausdauer (sein Hauptcharakterzug gemäß des Proust-Fragebogens, den er 1982 für das FAZ-Magazin ausgefüllt hat), indem er versuchte, Jonas in die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ (1963–1994) zu integrieren oder sich um die „beamtenrechtliche Wiedergutmachung“ (Altersversorgung) des aus Deutschland Geflohenen bemühte. Im Sommersemester 1976 drückte sich Blumenbergs Verehrung ein letztes Mal offiziell in einer Vorlesung (donnerstags, 14–16 Uhr) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster aus, die den Titel Das Werk von Hans Jonas trug. Es war neben Die Anthropologie Helmuth Plessners im Sommersemester 1983 die einzige Veranstaltung, die Blumenberg je einem lebenden Philosophen widmete. Jonas zeigte sich gerührt: „Ich danke Ihnen mit bewegtem Herzen.“

Von Hans Jonas, dem epistolarischen „Unschreiber“ (Lore Jonas), der an sich selbst in einem Brief an Jacob Taubes vom 24. Januar 1978 gar eine „Epistolophobie“ diagnostizierte, erntete der jüngere, in Deutschland verbliebene Hans Blumenberg für dessen unermüdliche Anstrengungen um sein Schicksal, sein Werk und seine Person höchste Anerkennung und vielfältiges Lob: „[I]ch hoffe, Sie wissen, wie ernstlich mir an der fortgesetzten Begegnung mit dem Menschen u. Denker Blumenberg liegt“, schreibt Jonas am 15. Juli 1960 aus München kurz vor seiner Abreise in die USA. „Auch nach einem Jahr Deutschland ist es dabei geblieben, daß die Brüsseler Bekanntschaft von 1953 mir in seltenem Glückstreffen den Besten der jüngeren deutschen Philosophengeneration zugeführt hat, von meiner Achtung vor dem sans peur et sans reproche des Charakters ganz zu schweigen.“ Ohnehin fällt auf, dass das explizite Loben ein Sprechakt ist, dessen sich Jonas in seinen Briefen oftmals bedient, wohl auch, um die negativen Auswirkungen seiner „schlechte[n] Schreibsitten“ auf seinen Korrespondenzpartner einzudämmen: Er lobt den Menschen und Philosophen Blumenberg, er lobt dessen Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), verwendet häufig und in wertschätzender Art den Begriff der ‚Belehrung‘, bezeichnet die Legitimität der Neuzeit (1966) als das von ihm „geschätzteste Buch deutscher Philosophie in mehr als einem Jahrzehnt“ und belegt Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975) mit dem Adjektiv ‚mächtig‘. Blumenberg hingegen erweist seinem New Yorker Freund und Kollegen seine Reverenz indirekt in seinem und durch sein Werk, was allein schon an den sechzehn von achtzehn Texten im Materialien-Teil des Buches deutlich wird; in Jonas’ Werk taucht Blumenberg hingegen nicht auf.

Ein weiterer Aspekt – ein vermeintliches Nebenthema dieses Briefwechsels, auf das Piet Hansen bei Twitter hingewiesen hat – sollte Beachtung finden, gerade auch als Desiderat an die Wissenschaftsgeschichte: die Einschaltung der Ehefrauen als Transistoren in den akademisch-privaten Stromkreis der Wissenschaftsorganisation sowie als Blitzableiter auf der privaten Denkstube ihrer Ehemänner. Nachdem Jacob Taubes (1923–1987), der „Professor der Apokalypse“ (Jerry Z. Muller), Hans Blumenberg brieflich mitgeteilt hatte, dass die Scheidung von Margherita von Brentano (1922–1995) im Jahre 1975 bei ihm „eine Krisis ausgelöst“ habe, die zu langen Klinikaufenthalten führte, antwortete Blumenberg am 24. Mai 1977: „Ich selbst wäre in meiner Arbeit viel zu empfindlich und ausgesetzt, als dass ich mir eine Existenz in anderen als konsolidierten Verhältnissen leisten könnte.“ Die geordneten, stabilen Lebens- und Eheverhältnisse, das ruhige, allzu oft viel zu ruhige Gewässer, das Leben auf einer Insel inmitten eines endlosen, alles mitreißenden Stroms von Ablenkungen – gerade Ursula Blumenberg (1922–2010) wüsste so einiges von diesen Abschirmmechanismen zu berichten, da ihr Mann auf die stabilitas loci angewiesen war, um sich seinem Werk bedingungslos widmen zu können. Hans Jonas hingegen, der homo viator, der sich selbst Bultmann gegenüber als einen „Wanderer zwischen den Welten“ bezeichnete, reiste viel und in Begleitung seiner Frau Lore (1915–2012); beide waren oft zu Gast im Hause Blumenberg, ob in Kitzeberg, Oberkleen oder Altenberge. Am 1. Juli 1974 richtete sich Blumenberg „mit einer etwas ‚delikaten‘ Frage“ an Lore Jonas, und zwar „welchen Kredit die geplante ‚Festschrift‘ genießen darf – sofern Sie überhaupt davon wüßten (hierzulande sind Ehefrauen fast immer in die Pläne für ‚Festschriften‘ eingeweiht).“ Lore Jonas antwortete Blumenberg ausführlich und übernahm die Organisation dieser Festschrift, die anlässlich des 75. Geburtstages ihres Gatten als eine doppelte, eine deutsch- und englischsprachige, veröffentlicht worden ist, allerdings ohne einen Beitrag Blumenbergs, da dieser mit den Vertragskonditionen nicht einverstanden war.

In der Einleitung seiner 2017 erschienenen fundierten Hans-Jonas-Biografie weist der Bildungsphilosoph Jürgen Nielsen-Sikora darauf hin, wie essenziell Jonas’ Korrespondenz für dessen Biographie und Philosophie sei:

Die Briefe und persönlichen Statements lassen nicht nur die historischen Kontexte, in denen Jonas seine philosophischen Texte schrieb, hervortreten, sie sind darüber hinaus eine unverzichtbare Quelle für das Verständnis seines Werks allgemein. Nicht zuletzt lässt sich am Lebensweg von Hans Jonas paradigmatisch das Schicksal der akademisch geprägten europäischen Juden ablesen.

Der Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Hans Jonas wird nur dem an biographischen Nuancen Interessierten neue Einblicke verleihen. Ein besseres Verständnis der Gedankenwelt und des Werks der beiden Philosophen erhält man indes kaum. Ein paar Ampere mehr hätten der intellektuellen Stärke dieses transatlantischen Stromkreises gutgetan.

Titelbild

Hans Blumenberg / Hans Jonas: Briefwechsel 1954-1978 und weitere Materialien.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
340 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587775

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