Männer ohne Betriebsanleitung

Der amerikanische Romancier Joshua Ferris hat nach drei Romanen seine erste Storysammlung vorgelegt

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt das nicht: Wenn nach langen Wintertagen plötzlich eine erste Frühlingsbrise in der Luft ist? Und sich wie aus dem Nichts ein Tag voller Möglichkeiten ankündigt? Klar, dass Sarah, die auf ihrem Balkon von solch einer Brise („erregend wie ein erster Kuss“) elektrisiert wird, das Beste aus diesem Tag machen will. „Jay, was machen wir heute Abend?“, fragt sie ihren Mann voller Erwartung, doch ist dessen Antwort nicht gerade das, was frau hören will: „‚Ist mir gleich‘, sagte er, ‚Was willst du denn machen?‘“

In seiner Kurzgeschichte Die Brise lässt Joshua Ferris seine beiden Hauptfiguren an diesem Abend praktisch sämtliche Optionen ausschöpfen, die für ein New Yorker Mittelschichtspärchen offenstehen: Sarah und Jay treffen sich mit Freunden im Biergarten oder gehen essen bei einem gerade angesagten Italiener, sie fahren ins 35. Obergeschoss eines Hotels, um in der Lounge die Aussicht zu genießen, sie picknicken im Central Park oder bewundern von der Brooklyn Bridge aus den Sonnenuntergang. Vielleicht haben sie im Park sogar spontanen Sex – oder sie schauen sich einfach nur (sein Vorschlag natürlich) die neueste Superhelden-Fortsetzung im 3D-Kino an.

Was das Paar nun tatsächlich tut oder nicht – auch Zuhausebleiben ist eine Möglichkeit –, lässt die Geschichte jedoch offen. Denn all diese Varianten sind alternative Realitätsabläufe, die Ferris neben- und durcheinander erzählt. Praktisch jede Version endet mehr oder weniger kläglich, wenn nicht gar desaströs, vom Streit gleich in der Subway über die „Implosion einer weiteren Paarbeziehung“ vor den Augen der verdutzten Freunde im Biergarten bis hin zum kläglichen Sex-Versuch hinter ein paar Büschen, der mit einem tröstenden Kopftätscheln für Jay endet.

Vom klassischen Luxusproblem aller Bewohner der modernen Multioptionsgesellschaft – „Jeden Abend die gleiche Angst, irgendetwas zu verpassen … aber was eigentlich?“, denkt Sarah in einem selbstkritischen Moment – sind auch andere von Ferrisʼ Figuren betroffen. Doch mit der Aufsplitterung der erzählten Zeit in alternative Abläufe ist Die Brise die formal anspruchsvollste der elf Kurzgeschichten, die Joshua Ferris in seinem ersten Storyband mit dem Titel Männer, die sich schlecht benehmen vorlegt.

Die übrigen sind eher straight erzählt, doch stets sorgfältig konstruiert. Eine präzise Beobachtung seiner Protagonisten – meist wohlsituierte Großstadtneurotiker in den mittleren Jahren in fragilen Beziehungen – zeichnet diese Texte ebenso aus wie ein an Woody Allen erinnerndes Oszillieren zwischen Komödie und Tragödie. Letzteres kennt man von dem 44-jährigen Wahl-New Yorker seit seinem gefeierten Debütroman, der Angestelltenfarce Wir waren unsterblich (2007).

Motive aus diesem Roman finden sich auch in einigen seiner Kurzgeschichten, etwa in Verlassenheit (Oder: Was war bloß mit Joe Pope los?), in der besagter Joe abends in seinem Büro einfach sitzen bleibt. Erst beobachtet er, zur Verwunderung der Reinigungskraft, von seinem Hochhausfenster aus mit einem Fernglas den allabendlich zurück in die Vororte gepumpten Angestelltenstrom. Dann spricht er seiner verheirateten, schwangeren Kollegin lange unterdrückte Liebesbotschaften aufs Band, ehe ihm dämmert, dass er damit wohl seine Karriere bei dieser Firma ruiniert hat – um in einem Akt von fatalistischer Selbstzerstörung damit anzufangen, die Büros weiterer Kollegen auf eigenwillige Weise „umzudekorieren“.

Wie der deutsche Titel des Bandes schon verrät, sind in Ferrisʼ Kurzgeschichten in der Regel die Männer das Problem. Echte „Monster“, wie es einmal heißt, sind jedoch nur wenige von ihnen; die meisten sind gewöhnliche Narzissten und Feiglinge. Sie sind im Zwischenmenschlichen überfordert und treffen fatale Entscheidungen. In Die Dinnerparty, der Titelstory im amerikanischen Original, erzeugt Ferris den Eindruck, das im Mittelpunkt stehende Ehepaar stünde sich besonders nahe. Tatsächlich ist Amys Schlagfertigkeit nur Ausdruck ihrer Verzweiflung. „Ich kann dir jetzt schon sagen, wie der Abend ablaufen wird, und zwar von dem Moment an, wo sie hier durch die Tür kommen bis hin zum Abschiedsbussi“, meckert der Egozentriker an ihrer Seite über den anstehenden Besuch von Amys bester Freundin und ihrem Mann, während seine Frau genervt die Zwiebeln schnippelt – ohne zu ahnen, wie gründlich er sich im Ablauf dieses Abends täuschen wird.

Auch Tom wird kalt erwischt, als ihn seine Frau Sophie auf dem Weg zum Abendessen mit ihren Eltern mitten in Manhattan einfach stehenlässt, nachdem sie in der Subway zufällig seine Geliebte erkannt hat. Im Lauf des Abends, so der Titel, verliert Tom, sonst stolz auf die kreative Nutzung seiner Mittagspausen – „In der einen Minute befand er sich noch in seinem Büro im 18. Stock, dann – whoosh! – war er in Melissas zerwühltem Bett.“ –, nicht nur seine Frau, sondern auch die Geliebte, sein Geld und letztlich seine soziale Existenz.

Symptomatisch für die Hilflosigkeit, mit der Ferrisʼ Antihelden auf die ihnen begegnenden Unbilden reagieren, ist dabei der Spruch, mit dem Tom gegenüber seinen Schwiegereltern Sophies Fehlen zu erklären versucht: „Es hat wohl eine Art Fehlkommunikation gegeben“. Die gibt es zwischen Männern und Frauen in Ferrisʼ Stories letztlich dauernd, nicht zuletzt aufgrund der allgegenwärtigen Handys, Quellen von Chaos und Unglück wie in Daniel Kehlmanns Episodenroman Ruhm. In Bruchstücke empfängt ein Mann nach einem unabsichtlichen Anruf seiner Frau Gesprächsfetzen zwischen ihr und ihrem Geliebten. Tagelang läuft er wie betäubt durch die Stadt, bis er anfängt, Passanten vom Fenster aus sein Unglück zu erzählen.

Für ihn gilt, was Ferris einem frisch verwitweten Rentner in den Mund legt, der so lange in Einsamkeit und Selbstmitleid versinkt, bis ihn der Beinahe-Herztod bei einer Prostituierten wieder zum Leben erweckt (Der Hypochonder): „Sie geben dir eben keine Betriebsanleitung“.

Titelbild

Joshua Ferris: Männer, die sich schlecht benehmen. Storys.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
288 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875606

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