Ein Gedankenstreifzug durch Freuds Psychoanalyse

Rainer Just, „Der Tod, die Liebe, das Wort. Zum literarischen Komplex der Psychoanalyse“

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner Psychoanalyse setzte sich Freud zum Ziel, die Gesetze des Unbewussten aufzuklären. Als seine Fundgrube diente die Literatur. Diese Wahl war nicht zufällig, denn „der Tod, die Liebe, das Wort – das ist die unheimliche Theorem-Trias der Psychoanalyse, das ist der thanato-erotologische Komplex, dem sich auch die Literatur seit Jahrtausenden verschrieben hat.“ Nach Rainer Just zeige Freud auf, dass es keine Reflexion über die Macht der Sprache gebe, die nicht auch ein Überdenken des Todestriebes und der Liebessehnsucht wäre. Und genau wie die Psychoanalyse sei auch die Literatur eine Theorie des Erzählens. Doch gibt es nach einem Jahrhundert einer Auseinandersetzung mit der Freudschen Psychoanalyse noch eine Lücke, etwas Unerzähltes oder Unerforschtes? Kaum.

Justs Abhandlung zum literarischen Komplex der Psychoanalyse erschien zurecht in der Essay-Reihe des Klever-Verlags, denn es erinnert weniger an eine wissenschaftliche Monografie als an einen lustvollen, im essayistischen Schreibstil gehaltenen Gedankenstreifzug durch Freuds Texte und ihre literarischen Quellen: für einen PSA-Anfänger zu unübersichtlich, für einen PSA-Kenner zu redundant. Dies lässt schon der Titel der Abhandlung ahnen, hinter dem sich so gut wie alles verbergen kann. Wer also einen strukturierten Überblick erwartet, wird hier enttäuscht. Doch die Lust am Fabulieren, die nicht nur Freud, sondern im gleichen Maße auch Just zu attestieren ist, mindert keinesfalls das enorme Wissen, das sich hinter den teilweise sprunghaften und wiederkehrenden Assoziationsketten verbirgt.

Durch Freuds Psychoanalyse entstand nicht nur ein nicht mehr zu schließender Riss in der Sichtweise auf die psychologische Beschaffenheit des Menschen, sondern auch einer mit Blick auf die Beschaffenheit eines literarischen Werkes. So führte die Psychoanalyse zur Entstehung eines offenen Kunstwerkes: „Der unendliche Aufschub des Sinns, sein unaufhörlicher Entzug, seine unstillbare intertextuelle Entstellung […]: All diese Kardinaltheoreme der poststrukturalistischen Literaturtheorie lassen sich direkt – im Namen der Nachträglichkeit – auf Freud zurückführen.“ Für Just ist Freud zudem der Entdecker der unerhörten Macht der Sprache: „Die Sprache spricht über den Menschen, sie spricht aus seinem Innersten über ihn hinaus.“ Während das erste Kapitel um das Thema der Psychoanalyse, ihrer Errungenschaften und allerlei damit verbundenen Themen herumschweift, fängt das zweite Kapitel mit einer Nachzeichnung Freuds zweier Leitfiguren der Literatur an: Hamlet und Don Quijote. „Wenn Hamlet paradigmatisch für den philosophischen, reflektierenden Menschen steht, dann ist Don Quijote der beispielhafte Träumer, der Prototyp des phantasierenden Kopfes, der den Bibliotheksraum mit dem Weltraum kollidieren lässt.“ Nach einem Streifzug durch das Phantasieren stellt Just fest, dass die Sterblichkeit als „die primäre und ultimative narzisstische Kränkung“ sowie ihre Überwindung die Motivation aller menschlicher Handlungen und der wahre Ursprung der Schrift sei.

Goethe lesen – das ist die Ur-Metonymie der geistigen Verwandlung, der klassischen Identifikation, der bibliophagen Eucharistie. Goethe lesen – Goethe werden: unsterblich. Es ist der Mittelpunkt von Freuds „literarischem Komplex“ […]. Der Ehrgeiz des Geistes spekuliert immer auf die Unsterblichkeit der Schrift, die erzählend festhält, was gewesen ist. […] Der Ehrgeiz des Geistes treibt stets sein literarisches Spiel mit der Sprache.

Handfester wird es erst im vierten Kapitel, als Just anhand von Jakobson und Saussure die linguistische Ebene der Verschiebung und des Äquivalenzprinzips bei Freud erläutert. (Noch ausführlicher ausgearbeitet findet man dies in: John P. Muller (Hg.): The purloined Poe: Lacan, Derrida & psychoanalytic reading. Johns Hopkins Univ. Press, Baltimore 1988). Interessant wird es auch, wenn Just mithilfe der Psychoanalyse die „Ich-Psychologie“ negativ kritisiert, die zur „Selbstverwirklichung“ anspornt, doch nur in einer Ausbeutung, gepaart mit einem verinnerlichten Leistungsethos, mündet, oder wenn er die Kunst und die höchste Gewalt Seite an Seite erscheinen lässt: „Bibliophilie und Genozid schließen einander nicht aus, im Gegenteil: Die äußerste Gewalt, die den Massenmord organisiert, braucht das Privileg der schönen Innerlichkeit. Der homme de lettre ist ein geübter Schreibtischtäter. Kunst stabilisiert, indem sie idealisiert.“ Von Freud inspiriert, schlussfolgert Just, dass es in der Gesellschaft statt um die Selbstverwirklichung um die Eigenverantwortung gehen solle, die auf das Begehren des Anderen respondiert. Auch Liebhaber der Kriminalliteratur finden vor allem im fünften Kapitel eine interessante Verbindung zwischen einem Krimi und der Psychoanalyse. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Geschichte hinter der Geschichte. Zudem sei der Kriminalroman ein Ventil für das Unbehagen der modernen Kultur geworden. Denn „der Kriminalroman ist der adäquate Ausdruck eines radikalen Unbehagens, welches das Individuum in einer Gesellschaft erfährt, in der die Produktion von ‚Unbewusstheit‘ einen so hohen und komplexen Grad erreicht hat, dass es dem Einzelnen nicht mehr möglich ist, sich darin vernünftig zu positionieren.“ Die Abhandlung schließt mit einem Aufruf zu einem psychoanalytischen Literaturkommentar, in dem der/die Interpret/in statt einer Identifikationshaltung mit einer der Figuren die Position des Autors annehmen soll, denn „die Perspektive des Autors ist der kritische Blick des Außenseiters, der die Unheimlichkeit der etablierten Verhältnisse in ein neues Licht rückt.“ Diese Empfehlung finden die PSA-Kenner schon bei Freud in den Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, wenn dieser schreibt, der behandelnde Arzt solle seine Erwartungen und Neigungen ausschalten, um so etwas Neues, etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß.

Der Titel-Abhandlung folgen fünf weitere Essays, die sich mit Themen befassen, deren sehr deutliche Spuren bereits der Haupttext trägt. Es sind eine Auseinandersetzung mit der Subjektkonstitution bei Lacan am Beispiel eines Kinderbuchklassikers, dem Verhältnis zwischen Freud und Wittgenstein, dem Zusammenhang von Philosophie, Literatur und Traumdeutung, der Unheimlichkeit des Lachens und eine Deutung von Kafkas Urteil.

Interessant ist an diesem Buch zu beobachten, welche Richtung hier die wissenschaftliche Publikation einzuschlagen versucht: Statt für eine trockene Aneinanderreihung vom Wissen entscheidet sie sich in diesem Fall für eine essayistische Variante. Ob dies bei den interessierten LeserInnen besser ankommt?

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rainer Just: Der Tod, die Liebe, das Wort. Zum literarischen Komplex der Psychoanalyse.
Klever Verlag, Wien 2018.
522 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783903110311

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